eJournals mensch & pferd international 3/3

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Förderung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen durch heilpädagogisches Reiten - ein ganzheitlicher logopädischer Ansatz

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Julia Neuhann
Im folgenden Artikel werden zunächst die Bedeutung der Sprache, die wichtigen Faktoren für die Entwicklung der Sprachäußerungen und des Sprachverständnisses für die physiologische Sprachentwicklung erörtert, um das dem Artikel zugrunde liegende Konzept in einem relevanten Kontext darzustellen. Im Anschluss daran wird ausgeführt, wie das Pferd den Klienten in seiner Sprachentwicklung unterstützt und warum es ein wichtiger Bestandteil einer ganzheitlichen Förderung sein kann.
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118 | mup 3|2011|118-126|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378/ mup2011.art09d Julia Neuhann Ein ganzheitlicher logopädischer Ansatz Förderung sprachlichkommunikativer Kompetenzen durch heilpädagogisches Reiten Schlüsselbegriffe: physiologische Sprachentwicklung , Bedeutung der Sprache, ganzheitliche Förderung, logopädische Reittherapie Im folgenden Artikel werden zunächst die Bedeutung der Sprache, die wichtigen Faktoren für die Entwicklung der Sprachäußerungen und des Sprachverständnisses für die physiologische Sprachentwicklung erörtert, um das dem Artikel zugrunde liegende Konzept in einem relevanten Kontext darzustellen. Im Anschluss daran wird ausgeführt, wie das Pferd den Klienten in seiner Sprachentwicklung unterstützt und warum es ein wichtiger Bestandteil einer ganzheitlichen Förderung sein kann. Neuhann - Förderung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen mup 3|2011 | 119 Julia Neuhann In den ersten Jahren meiner Berufstätigkeit mit Patienten mit Schwerstmehrfachbehinderungen (Kinder mit infantiler Zerebralparese, Trisomie 21, Charge-Assoziation, Di-George, u. a.) habe ich die Erfahrung gemacht, dass die klassische Logopädie, welche häufig den Fokus nur auf die Sprachentwicklung und deren strukturelle Förderung richtet, bei der Behandlung von Kindern mit Syndromen und umfassenden, allgemeinen Entwicklungsstörungen an ihre Grenzen stoßen kann. Oft sind bei diesen Patienten sowohl die expressiven wie auch rezeptiven Fähigkeiten stark beeinträchtigt, so dass sie sich weder ihrem Umfeld mitteilen noch ihre Umwelt verstehen können. Um Frustration und gesellschaftliche Isolation zu vermeiden, sollten ganzheitlich alle Entwicklungsbereiche mit ihren individuellen Förderbedürfnissen behandelt werden. Die Bedeutung der Sprache „Der Verlust“ - Prägnant und aussagekräftig betitelt Siegfried Lenz seinen 1985 erschienenen Roman über einen Fremdenführer, der in Folge eines erlittenen Schlaganfalles zunächst vollständig die Fähigkeit verliert, sich zu artikulieren. Schnell wird für den Leser klar, welchen großen Verlust dies für die Romanfigur und sein soziales Umfeld darstellt. Lenz weist mit diesem Roman auf die enorme Bedeutung der (Laut-)Sprache für das Individuum und unsere Gesellschaft hin. Ohne Wörter, ohne Sprache gibt es keine bzw. eine qualitativ stark eingeschränkte sprachliche Verständigung. In der logopädischen Förderung / Therapie von Klienten fällt immer wieder auf, in welche Schwierigkeiten und seelischen Nöte betroffene Kinder, Eltern und auch erwachsene Patienten geraten, wenn sie sich aufgrund von unterschiedlich ausgeprägten Sprach- und Sprechstörungen nicht adäquat mitteilen können. Aus diesem Grund ist eine ganzheitliche Förderung wichtig, um in einer überschaubaren Zahl von Therapieeinheiten Fortschritte zu erzielen. Sprachliche Fähigkeiten sind nicht nur ausschlaggebend für die erfolgreiche Integration in die Gesellschaft, sondern sie beeinflussen auch unser Denken und Handeln. Umwelt kann nur verstanden werden, wenn sprachliche Begrifflichkeiten allen miteinander kommunizierenden Menschen in gleichem Maß bekannt sind. D. h. Sprache ist symbolisierte Welterfahrung. Daraus lässt sich schließen, dass Menschen mit eingeschränkten oder unzureichenden sprachlichen Fähigkeiten häufig vom gesellschaftlichen Leben isoliert sind. Die physiologische Sprachentwicklung Voraussetzungen für eine adäquate Sprachentwicklung Wenn ein Kind auf die Welt kommt, verfügt es nicht von Anfang an über die verbale Sprache, dennoch beginnt die Sprachentwicklung pränatal. Etwa ab dem fünften Schwangerschaftsmonat fängt der Embryo an, die Sprachmelodie durch die Gebärmutterwand hindurch wahrzunehmen (Zimmer 2010, 56). Die folgende Tabelle stellt die wichtigen Entwicklungsschritte der postnatalen Sprachproduktion dar: Tabelle 1: Sprachentwicklung Entwicklungsschritt Zeitraum Reflexschrei des Neugeborenen Geburt Gezieltes Schreien als Anruf oder Appell Ab 2. Woche Primäres Lallen, Urlaute Ab 2. Monat Sekundäres Lallen Ab 5. Monat Lautnachahmung Ab 6. Monat Ausdrucksverständnis der Sprache Ab 8. Monat Lallfolge mit Ausdruck und Funktion Ab 9. Monat Einwortsätze Ab 12. Monat Echolalie 1.-2. Jahr Zweiwortsätze und Wortaggregate 1,5.-2. Jahr Geformte Mehrwortsätze Ab 2. Jahr Satzverbindungen Ab 2,5. Jahr Nebensätze und Satzgefüge Ab 3. Jahr aus Franke 2001 120 | mup 3|2011 Neuhann - Förderung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen Damit diese Entwicklung adäquat geschehen kann, bedarf es bestimmter organischer, motorischer, interaktionaler und sozialer Voraussetzungen beim Kind. Diese haben auf den ersten Blick nur indirekt mit Sprache zu tun. Wird im Erwachsenenalter eine Fremdsprache erlernt, so geschieht die Aneignung regelgeleitet über die Grammatik und das Lexikon. Das Kind dagegen lernt die Sprache und das Sprechen mit all seinen Sinnen in der Interaktion mit einer sprechenden und handelnden Umwelt. Es kann somit im Verlauf der Entwicklung Sprache als Mittel zur Kommunikation mit der Umwelt einsetzen und auf seine Bedürfnisse aufmerksam machen (Wendlandt 2001, 29f). Dafür benötigt ein Kind neben einem guten Gehör, damit Laute der Umgebung und eigene Laute auf- und wahrgenommen werden können, auch ausreichende visuelle Fähigkeiten. Über die visuelle Wahrnehmung lernt ein Kind, dass die Mundbewegungen mit dem Gehörten koordiniert werden müssen. Zusätzlich entwickelt es die Fähigkeit, Begriffe mit sichtbaren Gegenständen in Beziehung zu setzen. Um sprechen lernen zu können, bedarf es einer gut entwickelten taktil-kinästhetischen Wahrnehmung. Diese gilt als Voraussetzung, um eine Eigenwahrnehmung der Sprechorgane zu entwickeln und die Artikulationsbewegungen präzisieren zu können (Wilken 2010, 57f). Eine ebenso große Bedeutung wird der motorischen Entwicklung zugeschrieben. Schon im Säuglingsalter bewegt sich das Kind ständig, strampelt, dreht sich, geht in den Stütz. So wird der ganze Körper immer wieder in neue Positionen gebracht. Lange bevor ein Kind das erste Wort spricht, krabbelt es, richtet sich auf, startet Lauf- und Kletterversuche. So entwickelt es Kraft, trainiert die Muskulatur und die Beweglichkeit der Gelenke. All das ist notwendig, um die Mundbewegungen aktivieren und mit dem Gehörten koordinieren zu können. Bei der Artikulation handelt es sich um feinmotorische Bewegungen der Sprechwerkzeuge (Zunge, Lippen, Zähne, Gaumen u. a.), die eine gute grobmotorische Entwicklung voraussetzen (Wendlandt 2001, 13). Auch die geistige Entwicklung ist eng mit der Sprachentwicklung verbunden. Diese ist u. a. notwendig, um Dinge auch sprachlich unterscheiden zu können und den Sinn zu entnehmen, d. h. Begriffe zu bilden. Abschließend sind die sozialen und materiellen Umweltfaktoren, das Reizangebot und das sprachliche Vorbild zu nennen, da sie eine ebenso große Rolle spielen, um Sprache als Mittel zur Kommunikation überhaupt ausbilden und im Verlauf differenzieren zu können. Gelingen dem Kind die frühkindlichen Interaktionen, so kann es seine Bedürfnisse mitteilen, aktiv am familiären und gesellschaftlichen Leben teilnehmen und die sozialen Kompetenzen, welche für die gesamte weitere Entwicklung von großer Bedeutung sind, weiter ausbauen und festigen. Störungen in den genannten Entwicklungsbereichen können zu Sprachentwicklungsstörungen in Form von Artikulationsstörungen, Sprachverständnisstörungen, Wortschatzdefiziten, fehlerhaften grammatikalischen Strukturen (Dysgrammatismus) und kommunikativ-pragmatischen Beeinträchtigungen führen. Der Umkehrschluss ist demnach, dass ein Kind nur, wenn es alle beschriebenen Fähigkeiten und Entwicklungsprozesse miteinander in Beziehung setzen kann, d. h. die sensomotorische Integration stattgefunden hat, Sprache adäquat erwerben kann (Wendlandt 2001, 10f). Neuhann - Förderung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen mup 3|2011 | 121 Letztendlich bedarf es aber nicht nur der Entwicklung des Kindes, sondern auch einer ständigen sozialen Interaktion mit der materiellen und sozialen Umwelt, um Sprache zu erwerben, da der Spracherwerb als Produkt eines Ineinandergreifens genetischer Anlagen, Reifungsprozessen, der Nachahmung von Sprechvorbildern und der Kommunikation mit dem Umfeld verstanden wird (Zimmer 2010, 55). Der zeitliche Ablauf der Sprachentwicklung Es gibt eine sensible Phase der Sprachentwicklung, welche ab dem Zeitpunkt der Geburt bis zum Ende der frühen Kindheit (bis ca. fünf Jahre) andauert. In dieser Zeit wird die primäre Sprachentwicklung vollzogen, d. h. das Kind ist am Ende dieser Phase fähig, in seiner Erstsprache grammatikalisch nahezu fehlerfrei zu kommunizieren, sofern ein ausreichendes Vokabular vorhanden ist. Mit zunehmender Hirnreifung nimmt die Sensibilität für sprachliches Lernen ab (Sazgun 2010, 248f). Diese sensible Phase sollte therapeutisch genutzt werden, wenn Förderbedarf erkennbar wird, um dem Kind das Neu- Erlernen und Umlernen so einfach wie möglich zu gestalten. Um einschätzen zu können, ob Förderbedarf besteht, wird im Folgenden der zeitliche Ablauf skizziert, anhand dessen wesentliche Entwicklungsverzögerungen bei eigenen Klienten identifiziert werden können: Im Rahmen der Sprachentwicklung wird zwischen der Entwicklung der Sprachäußerungen und der Entwicklung des Sprachverständnisses unterschieden. Beide Bereiche entfalten sich unabhängig voneinander, was zur Folge hat, dass diese Kompetenzen auch Unterschiede im Entwicklungsstand und Förderbedarf aufweisen können. Das ist damit zu erklären, dass das menschliche Gehirn im Wesentlichen in zwei Sprachzentren unterteilt ist. Das sogenannte „Wernicke-Areal“ ist für das Sprachverständnis zuständig und im Schläfenlappen lokalisiert. Das zweite Zentrum, welches 122 | mup 3|2011 Neuhann - Förderung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen sich im Frontallappen befindet - das ebenfalls nach seinem Entdecker benannte „Broca-Areal“ - dient der Sprachproduktion. Diese stehen aufgrund vielseitiger Vernetzungen über Nervenbahnen in enger Beziehung zu anderen Hirnarealen. Im Erwachsenenalter ist wiederholt zu beobachten, dass die Zentren beim Rechtshänder in der linken, beim Linkshänder häufig in der rechten Gehirnhälfte lokalisiert sind. Dies ist in der frühen Kindheit bis zu vier Jahren noch nicht der Fall. Erleidet das Kind in dieser Zeit eine Hirnschädigung im Bereich der Sprachzentren, können andere Areale die ausgefallenen Sprachfunktionen übernehmen, da die synaptische Plastizität des Gehirns im Kindesalter besonders groß ist. Im Erwachsenenalter ist dies aufgrund der abgeschlossenen Hirnreifung nicht mehr im selben Umfang möglich (Largo 2009, 368f). In den ersten Lebenswochen trainiert das Kind seine Stimme über das Schreien. Danach folgt die erste Lallphase (bis zum sechsten Lebensmonat), in der das Kind nicht einzelsprachspezifisch sämtliche Laute bildet. Diese Phase durchlaufen auch Kinder mit einer mittelgradigen bis schwerwiegenden Hörbehinderung (Szagun 2010, 47f). Ungefähr ab dem siebten Lebensmonat befindet sich das Kind in der zweiten Lallphase. Es baut das muttersprachliche Lautinventar weiter aus und beginnt Silbenverdopplungen zu bilden. Die Ausbildung des Sprachverständnisses setzt ein. Die Nachahmung von Silben und die Bildung von ersten Wörtern ist ab dem zehnten / elften Lebensmonat zu beobachten. Der rezeptive Wortschatz wird aufgebaut (Wendlandt 2001, 22f). Mit Vollendung des ersten Lebensjahres spricht das Kind zwischen zwei und zehn Wörtern. Rezeptiv ist es in der Lage, einfachste Aufträge zu erfüllen („Gib es mir! “) und auf seinen Namen zu reagieren. Bis zum achtzehnten Lebensmonat äußert das Kind sich in sogenannten Einwortsätzen und kann durch variable Betonung feststellen, erbitten, fragen und antworten. Es entschlüsselt einfache Aufforderungen und Fragen. Am Ende des zweiten Lebensjahres besteht eine deutliche Diskrepanz zwischen dem aktiven Wortschatz (= was artikuliert wird) und dem passiven Wortschatz (= was verstanden wird). Der passive Wortschatz ist um ein Vielfaches größer. Der aktive Wortschatz umfasst circa fünfzig Wör- Neuhann - Förderung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen mup 3|2011 | 123 ter, aus denen das Kind nun Zweiwortäußerungen bildet. Ab dem Alter von zwei Jahren bildet es Sätze mit drei und mehr Bestandteilen, dabei sind auch erste grammatikalische Strukturen zu beobachten. Es findet ein intensiver Ausbau des Wortschatzes statt. Das Kind erwirbt neben Substantiven auch Verben und Funktionswörter. Wenn auf dem kindlichen Sprachniveau gesprochen wird, versteht es nahezu alles. Ist das Kind drei bis vier Jahre alt, befindet es sich in der Ausbauphase. Es bildet zunehmend komplexere Sätze und findet Zugang zur abstrakten Sprache (Verben wie denken, hoffen usw., Gefühle, Eigenschaften) und kann Sprache zielgerichtet einsetzen (Pragmatik, Gesprächsfähigkeit). Zwischen dem vierten und sechsten Lebensjahr ist die elementare Sprachentwicklung hinsichtlich Sprachproduktion und Sprachverständnis im Idealfall abgeschlossen. Heilpädagogisches Reiten im Kontext der Sprach- und Kommunikationsförderung Die vorangegangenen Ausführungen zeigen, dass die Sprachentwicklung ein komplexer langfristiger Prozess ist, der durch viele andere Fähigkeiten beeinflusst wird. Demnach ist eine gute motorische Entwicklung Voraussetzung für eine gute Sprach- und Sprechentwicklung, da das Sprechen einen präzisen Einsatz der gesamten willkürlichen (orofacialen) Motorik erfordert. Das heilpädagogische Reiten bietet gute Fördermöglichkeiten, um individuellem Förderbedarf in diesen Bereichen gerecht zu werden. Die Möglichkeiten zur sprachlich-kommunikativen Förderung im Rahmen einer heilpädagogischen Therapie mit dem Pferd werden im Folgenden dargestellt: Hier ist zunächst auf die Bewegung des Pferdes in den verschiedenen Gangarten hinzuweisen (Greiffenhagen / Buck-Werner 2009, 143f). Durch die Bewegung des Therapiepferdes im langsamen Schritt wird der Klient mit einem Hypertonus der Muskulatur in seiner Muskelspannung positiv reguliert, d. h. er entspannt zusehends in seiner Spastizität. Läuft das Pferd im Viertakt des schnellen Schrittes, hat dies aktivierende Wirkung. Ein Klient mit muskulärem Hypotonus (z. B. syndrom-spezifisch bei Menschen mit Trisomie 21 = Morbus Down) richtet sich zunehmend auf. Das passiert wie von selbst und erfordert keine oder nur geringe Aktivität des Klienten - ein Aspekt von unschätzbarem Wert. Anders in der logopädischen Praxis: Dort sitzt der Klient auf einem auf seine Körpergröße abgestimmten Sitzmöbel. Er muss sich selbst aufrichten, halten, aktiv sein; eine große Anstrengung, wenn der Gesamtkörpertonus - egal in welche Richtung - vom Eutonus abweicht. Wertvolle Energie und Konzentration gehen in dieser Situation (sprach-) therapeutisch ungenutzt verloren. Durch den dreidimensionalen Bewegungsbzw. Schwingungsimpuls dagegen, d. h. vorwärtsrückwärts, rechts-links und aufwärts-abwärts (Greiffenhagen / Buck-Werner 2009, 143), den das Pferd im Schritt auf den Reiter überträgt, werden Beweglichkeit, Gleichgewicht, Koordination und die Regulation des Muskeltonus gefördert. Da der Körper neben seinem Knochenbau, Das „Bewegt-Werden“ erleichtert den Klienten die Koordination und gezielte Bewegung der Mund- und Gesichtsmuskulatur. Sie sind zunehmend in der Lage, ihre Artikulationswerkzeuge gezielt zu steuern, mit dem Ergebnis, dass der Mundschluss und die Sprachproduktion einfacher werden. 124 | mup 3|2011 Neuhann - Förderung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen Sehnen und Bändern auch aus Muskelketten besteht und diese häufig für Kettenreaktionen sorgen, kann diese positive Wirkung auch in den orofacialen Komplex (= das Gesicht, der Mund und sein Innenraum) gelangen. Insbesondere Patienten mit Down-Syndrom oder hypoxischen Hirnschädigungen haben aufgrund von orofacialen Dysbalancen mit der motorischen Steuerung von mimischer Muskulatur, Lippen und Zunge auffallende Schwierigkeiten. Die ungenaue und oder unzureichende Steuerung der Artikulationswerkzeuge lässt die Sprache verwaschen und undeutlich klingen. Optisch fällt zusätzlich häufig auf, dass der Mundschluss fehlt, die Zunge nur bedingt oder gar nicht im Mund gehalten werden kann. Das „Bewegt-Werden“ erleichtert den Klienten die Koordination und gezielte Bewegung der Mund- und Gesichtsmuskulatur. Sie sind zunehmend in der Lage, ihre Artikulationswerkzeuge gezielt zu steuern, mit dem Ergebnis, dass der Mundschluss und die Sprachproduktion einfacher werden. Ein wichtiger Aspekt, um je nach Indikation individuell abgestimmte Artikulations- und Kräftigungsübungen für Zunge, Lippen und Gesichtsmuskulatur als wesentlichen Therapiebestandteil zu wählen. Hochfrequente Wiederholungen tragen zusätzlich dazu bei, dass die erarbeiteten Fortschritte auch im Alltag erkennbar und ausbaubar sind. Sprache besteht jedoch, wie oben bereits dargestellt, nicht nur aus dem Bereich der Artikulation. Es können vielmehr nahezu alle Förderbereiche der Logopädie (z. B. Laut-, Wort- und Satzbildung; Sprachverständnis und Sprachverarbeitung; Training der orofacialen Muskulatur und Wahrnehmung; auditive Wahrnehmung und Diskrimination; Stimmgebung; Prosodie und Sprechflüssigkeit) beim therapeutischen Arbeiten mit dem Pferd integriert werden. Beispielhaft sei hier das Stottern als klassisches Störungsbild in der Logopädie genannt. Bei Patienten mit Stottersymptomatik ist die Sprechflüssigkeit unterschiedlich stark gestört. Nicht selten geht dies einher mit gesellschaftlichem Rückzug, um kommunikative Situationen und somit Stress zu vermeiden. Das Pferd als Partner in der logopädischen Therapie eröffnet diesen Patienten ganz neue Möglichkeiten. Das Erlebnis eines flüssigen, reibungslosen (Bewegungs-)Rhythmus über einen längeren Zeitraum hinweg ist für sie von unvorstellbarem Wert. Die bereits erwähnten dreidimensionalen Schwingungen des Pferdes übertragen sich auf den ganzen Körper. In einem stetigen Wechselspiel werden muskuläre Verspannungen gelöst und Spannung und Stabilisation gefordert, um sich auf dem Pferd ausbalancieren zu können. Da die Grundlage der artikulatorischen Bewegungen ebenfalls ein ständiger Wechsel zwischen Spannung und Entspannung ist, bietet das heilpädagogische Reiten ein gutes Setting, um Klienten mit Stottersymptomatik oder anderen Störungen des Sprechflusses in ihrer Sprechentwicklung zu fördern (Greiffenhagen / Buck-Werner 2009, 148). Die dreidimensionale Bewegungsübertragung fördert neben den bereits genannten Bereichen aber auch den Aspekt der Lateralität, welche von großer Bedeutung für den korrekten Grammatik- Neuhann - Förderung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen mup 3|2011 | 125 erwerb und die korrekte Lautstellung innerhalb eines Wortes ist. Greiffenhagen und Buck-Werner (2009) berufen sich diesbezüglich auf H. L. Breiner, Direktor des Fachinstitutes für Hörsprachbehinderte (Frankenthal), der deutliche Parallelen zwischen wesentlichen Vorgängen beim Sprechen und Reiten sieht (Greiffenhagen / Buck-Werner 2009, 147f). Über ein regelmäßiges Training der Links-Rechts-Bewegung, wodurch zeitgleich die Raum-Lage-Orientierung geschult wird, wird indirekt positiv auf die Sprachentwicklung eingewirkt und der Klient in seinen Fähigkeiten zur korrekten Wort- und Satzbildung gefördert. Letztendlich reicht es jedoch nicht aus, sich korrekt und flüssig artikulieren und für andere verständlich ausdrücken zu können. Im Rahmen der Darstellung der physiologischen Sprachentwicklung wird deutlich, dass sich auch das Sprachverständnis zunächst entwickeln und schließlich differenzieren muss, um an der familiären und gesellschaftlichen Kommunikation teilhaben zu können. Die Situation des therapeutischen Reitens bietet ausreichend Möglichkeiten, dem Klienten seine Umwelt mit allen Sinnen begreifbar und somit auch verständlich machen zu können. Sinneswahrnehmungen können am lebenden Objekt evoziert und bewusst gemacht werden. Die Umwelt öffnet sich für den Klienten, und er kann mit ihr in einen sinnvollen Dialog treten. Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass es sich bei den behandelten Klienten um Langzeitpatienten handelt, die - als natürlichen Prozess - immer wieder Phasen der Therapiemüdigkeit im engeren logopädischen Kontext durchleben. Durch die Behandlung auf dem Pferd wird ein völlig anderes Umfeld für die logopädische Arbeit geschaffen, was sich positiv auf Motivation und Kooperation auswirkt. Durch viele Wahrnehmungs- und Umwelteindrücke, welche das Setting des heilpädagogischen Reitens zu bieten hat, wird der Fokus der Aufmerksamkeit von der eigentlichen Übungssituation und den zu behandelnden Defiziten abgelenkt. Klienten, die im Alltag häufig die Erfahrung machen, nicht verstanden zu werden, ziehen sich oftmals frustriert zurück. Parallel zur sinkenden Frustrationstoleranz schwindet der Mut, sich zu äußern. Das „Getragen-Werden“ und die Tatsache, dass das Pferd selber keine Ansprüche an den Klienten stellt, fördern das Selbstvertrauen und damit auch die Frustrationstoleranz. Die Klienten wachsen - nicht nur sprachlich - über sich hinaus. Die Situation des therapeutischen Reitens bietet ausreichend Möglichkeiten, dem Klienten seine Umwelt mit allen Sinnen begreifbar und somit auch verständlich machen zu können. Sinneswahrnehmungen können am lebenden Objekt evoziert und bewusst gemacht werden. 126 | mup 3|2011 Neuhann - Förderung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen Heike Böhm Fazit Mit der Kombination aus Logopädie und Reittherapie entsteht die Möglichkeit, neben der Sprache im engeren Sinne auch Aufmerksamkeit, Konzentration, Merkfähigkeit, Wahrnehmung, Koordination, Gleichgewicht und Motorik zu fördern. Die Klienten werden entwicklungsorientiert im ganzheitlichen Sinne behandelt. Dadurch können kindgemäße Fortschritte erzielt werden, die dem Klienten eine (inter-)aktive Teilnahme am Dialog und dem gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Dies bedeutet für den Klienten selbst wie auch für sein Umfeld einen deutlichen Zugewinn an Lebensqualität, da er sich und seine Bedürfnisse mitteilen und in Kommunikation treten kann. Literatur Franke, U. (2001): Logopädisches Handlexikon. ■ 6. Aufl. Alfred Kröner, Stuttgart Greiffenhagen, S., Buck-Werner, O. N. (2009): ■ Tiere als Therapie. 2. Aufl. Kynos, Nerdlen Largo, R. H. (2009): Babyjahre - Entwicklung ■ und Erziehung in den ersten vier Jahren. 4. Aufl. Piper, München / Zürich Lenz, S. (1985): Der Verlust. dtv, München ■ Szagun, G. (2010): Sprachentwicklung ■ beim Kind - Ein Lehrbuch. 3. Aufl. Beltz, Weinheim / Basel Wendlandt, W. (2001): Sprachstörungen im ■ Kindesalter. Materialien zur Früherkennung und Beratung. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart Wilken, E. (2010): Sprachförderung bei Kindern ■ mit Down-Syndrom. 11. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart Zimmer, R. (2010): Handbuch Sprachförderung ■ durch Bewegung, 4. Aufl. Herder, Freiburg im Breisgau Die Autorin Julia Neuhann Julia Neuhann, staatlich examinierte Logopädin, Ausbildung zur reittherapeutischen Assistentin beim Förderkreis für therapeutisches Reiten e. V., seit 08 / 2009 selbständig mit der „bewegten Logopädie“, seit 03 / 2011 freie Mitarbeiterin in einer logopädischen Praxis in Leutkirch im Allgäu Anschrift: Julia Neuhann · Bogenstr. 2 · 88299 Leutkirch im Allgäu E-Mail: Julia.neuhann@gmail.com Internet: www.bewegte-logopaedie.de