mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mup2011.art01d
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Vielfalt als Chance - Integrationspädagogik mit dem Pferd
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Martina Tisch-Keckstein
Michaela Jeitler
Im Jahr 2006 beschlossen die Vereinten Nationen das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung. Trotz dieser gesetzlichen Verankerung des Rechts auf Teilhabe in allen Bereichen des Lebens bleiben Menschen mit Beeinträchtigung viele Ressourcen verschlossen. Gemeinsam erlebte Freizeit von Menschen mit und ohne Behinderung ist immer noch die Ausnahme. Im Sinne einer ungeteilten Pädagogik der Nichtaussonderung und Vielfalt ist die Verschiedenheit der Voraussetzungen der Nutzer und Nutzerinnen Grundlage integrativer Angebote im Umgang mit dem Pferd, hier dargestellt anhand des von den Autorinnen entwickelten Konzepts der Integrativen Voltigierund Reitpädagogik. Tiergestützte Pädagogik bietet sich an, um Integration und in weiterer Folge Inklusion zu leben und gesellschaftspolitischen Handlungsbedarf aufzuzeigen. Das Miteinander von Menschen mit und ohne Beeinträchtigung spiegelt die Vielfalt des Lebens wider und bereichert alle Beteiligten.
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4 | mup 1|2011|4-11|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378/ mup2011.art01d Schlüsselbegriffe: Integrationspädagogik, Inklusion, Freizeitpädagogik, Erlebnispädagogik, Tiergestützte Pädagogik, Integrative Voltigier- und Reitpädagogik Martina Tisch-Keckstein, Michaela Jeitler Im Jahr 2006 beschlossen die Vereinten Nationen das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung. Trotz dieser gesetzlichen Verankerung des Rechts auf Teilhabe in allen Bereichen des Lebens bleiben Menschen mit Beeinträchtigung viele Ressourcen verschlossen. Gemeinsam erlebte Freizeit von Menschen mit und ohne Behinderung ist immer noch die Ausnahme. Im Sinne einer ungeteilten Pädagogik der Nichtaussonderung und Vielfalt ist die Verschiedenheit der Voraussetzungen der Nutzer und Nutzerinnen Grundlage integrativer Angebote im Umgang mit dem Pferd, hier dargestellt anhand des von den Autorinnen entwickelten Konzepts der Integrativen Voltigier- und Reitpädagogik. Tiergestützte Pädagogik bietet sich an, um Integration und in weiterer Folge Inklusion zu leben und gesellschaftspolitischen Handlungsbedarf aufzuzeigen. Das Miteinander von Menschen mit und ohne Beeinträchtigung spiegelt die Vielfalt des Lebens wider und bereichert alle Beteiligten. Vielfalt als Chance - Integrationspädagogik mit dem Pferd Tisch-Keckstein, Jeitler - Vielfalt als Chance - Integrationspädagogik mit dem Pferd mup 1|2011 | 5 Martina Tisch-Keckstein, Michaela Jeitler Was ist eigentlich „Behinderung“? Früher vorherrschende defektorientierte Definitionen beschreiben „Behinderung“ als individuelles Problem. Hier hat sich in den vergangenen Jahren ein Perspektivenwechsel vollzogen. Die dialogische Sichtweise bietet ein Modell an, das Behinderung als Prozess versteht, als sich wechselseitig beeinflussende innere und äußere Entwicklungen (Boban 1993). Die dialogische Sichtweise legt damit den Fokus nicht mehr nur auf das Individuum mit seinen besonderen Eigenschaften (zu denen eben auch z. B. eine körperliche Beeinträchtigung zählen kann), sondern betrachtet vor allem, wie mit diesen Besonderheiten gesellschaftlich umgegangen wird und welche Konsequenzen sich daraus für das Individuum ergeben. Beispielhaft für eine erweiterte Begriffsdefinition unter Einbeziehung der Umgebung ist die Formulierung Sanders: „Behinderung liegt vor, wenn ein Mensch mit einer Schädigung oder Leistungsminderung ungenügend in sein vielschichtiges Mensch-Umfeld-System integriert ist“ (Sander 2006). Er führt Behinderung also nicht nur auf eine Schädigung des betroffenen Menschen zurück, sondern auch auf die Unfähigkeit des Umfelds des betreffenden Menschen, diesen zu integrieren. Integrationspädagogik - eine Begriffsbestimmung Integrationspädagogik meint eine ungeteilte Pädagogik der Nichtaussonderung und Vielfalt, die Menschen mit Behinderungen jeden Alters, Menschen mit psychischen Krankheiten sowie gesellschaftlich benachteiligte Menschen in allen Lebensbereichen und in allen Lebensphasen einbezieht (Sander 2006). Ungeteilt bedeutet in diesem Zusammenhang z. B., dass auch Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen einbezogen werden, und in allen Lebensphasen heißt, dass auch ältere Menschen einen ihren Bedürfnissen entsprechenden Platz in der Gesellschaft finden. Die oben beschriebene dialogische Sichtweise von Behinderung beeinflusst auch das (integrations-)pädagogische Handeln. Sie führt zu einer kompetenzorientierten Herangehensweise, d. h. Pädagogen und Pädagoginnen verstehen sich als Assistenz, sind offen für gemeinsame Erfahrungen und verabschieden sich von dem Glauben zu wissen, was das Beste für den Betroffenen ist. So wird ein Rahmen für Handlungsfähigkeit und Stärkung individueller Ressourcen geboten. Entwicklung wird unterstützt, indem gemeinsam mit der Person und ihrem Umfeld Ressourcen ermittelt sowie Ziele und Ansätze für eine Weiterentwicklung identifiziert werden. Ziel der Integrationspädagogik ist es, konkrete Beiträge zur Gestaltung einer menschengerechten Gesellschaft der Nichtaussonderung zu leisten, sodass die Rechte von Menschen mit Beeinträchtigungen nicht mehr nur auf dem Papier existieren. In diesem Zusammenhang wurde die Heilpädagogik in den letzten zehn Jahren mit kritischen Fragen konfrontiert. Teuren Sondereinrichtungen für Menschen mit Behinderung wurde vorgeworfen, Aussonderung zu verfestigen. Während es für die Integration im Bildungsbereich erfreulicherweise immer mehr Konzepte zur Umsetzung von Integration gibt, hinkt der Freizeitbereich hier deutlich hinterher. „Mit Integration ist nach allgemeinem soziologischem Verständnis ein Prozess bzw. ein Vorhaben gemeint, durch den bzw. durch das bisher außenstehende Personen zugehörige Mitglieder einer Gruppe werden sollen. Es handelt sich um die Einfügung in ein (bereits bestehendes) soziales Ganzes unter Erhalt der eigenen Identität.“ (Speck 2008, 392) 6 | mup 1|2011 Tisch-Keckstein, Jeitler - Vielfalt als Chance - Integrationspädagogik mit dem Pferd Inklusionspädagogik? Der Begriff der Inklusion zielt auf eine Weiterentwicklung des Integrationsgedankens. Es wird dabei noch einmal in besonderer Weise das System fokussiert statt das „Problem“ des Einzelnen. Das inklusive System - die Gesellschaft - schafft Rahmenbedingungen, die allen Menschen die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. „Es geht diesem Verständnis nach nicht um die Einbeziehung einer Gruppe von Menschen mit Schädigungen in eine Gruppe Nichtgeschädigter, vielmehr liegt die Zielsetzung in einem Miteinander unterschiedlichster Mehr- und Minderheiten - darunter auch die Minderheit der Menschen mit Behinderungen.“ (Hinz 2002, 355) Grundsätzlich muss aber immer auch bedacht werden, dass das Zusammenleben in einer Gesellschaft jedes Individuum auch gewissen „Zwängen“ unterwirft. Scheid (1995, 36-40) führt hierzu ein Modell von Hahn an, in dem dieser unterscheidet zwischen dem Wunsch des Menschen nach Entscheidungs- und Handlungsfreiheit einerseits und einer bedürfnisbefriedigenden sozialen Abhängigkeit andererseits. Zwischen beiden Wünschen oder Bedürfnissen muss ein ausgewogenes Verhältnis hergestellt werden, das sich von Mensch zu Mensch allerdings stark unterscheiden kann. Die Idee der Inklusion spiegelt sich hierin insofern wider, als nicht die Ähnlichkeit der Personen angestrebt wird, sondern nur die Vergleichbarkeit der Voraussetzungen zur Lebensgestaltung. Sander beschreibt die allgemeine Pädagogik als wünschenswerte letzte Etappe des Inklusionsprozesses (Sander 2006). Vielfalt und Heterogenität stellen nichts Außergewöhnliches mehr dar, sodass kein eigener Begriff mehr für einen spezifischen Ansatz nötig ist. Inklusionspädagogik geht in dieser Phase in einer allgemeinen Pädagogik auf. Integration und Inklusion stellen Übergangsphasen auf dem Weg zu einer allgemeinen Pädagogik dar. So weit sind wir aber noch lange nicht. Gerade im Freizeitsektor gibt es diesbezüglich noch viel zu tun. Es ist noch längst nicht üblich, Angebote für heterogene Gruppen zu gestalten und der Verschiedenheit der Nutzer und Nutzerinnen gerecht zu werden. Freizeitpädagogik Dabei birgt Freizeitpädagogik hinsichtlich des Integrationsbzw. Inklusionsgedankens ein großes Potenzial. Freizeit hat in unserer Gesellschaft einen hohen Stellenwert. Seit den 80er Jahren hält die Tendenz an, in der Freizeit besonders Bildungs- und Erlebnisaspekte hervorzuheben und nach der Verwirklichung der eigenen Persönlichkeit zu suchen (Kretschmer 2001). Menschen mit Beeinträchtigung haben diesbezüglich die gleichen Bedürfnisse und Wünsche wie Menschen ohne Behinderung, sehen sich aber „Der Diskurs über Vielfalt ist der Diskurs über die Begabung der Anderen, als das wirklich Andere. Das heißt, es ist die Anerkennung der persönlichen Identität und die Emanzipation exzeptioneller Menschen. Es ist der Kampf gegen jedes Zeichen von Segregation oder Diskriminierung und nicht die Suche nach Mitteln und Instrumenten, die exzeptionelle Menschen Teil einer feindlichen Welt sein lassen. […] Es geht nicht darum, exzeptionelle Menschen gemeinsam mit anderen zu erziehen, sondern darum, alles was in unseren Händen liegt zu tun, um gegen institutionelle Segregation anzukämpfen. Es geht nicht darum, die Spielregeln zu lernen, sondern ein neues Spiel zu schaffen.“ (Melero 2000, 13) Tisch-Keckstein, Jeitler - Vielfalt als Chance - Integrationspädagogik mit dem Pferd mup 1|2011 | 7 mit verschiedenen Problemen hinsichtlich ihrer Freizeitgestaltung konfrontiert. Einerseits sind viele Angebote nicht zu erreichen, bauliche Barrieren verhindern eine Teilnahme bzw. machen schon die Anreise unmöglich. Andererseits ist die Hemmung oft groß, an Aktivitäten teilzunehmen, aus Angst vor Diskriminierung. Ein Discobesuch oder die aktive Teilnahme beim Fußballverein wäre organisatorisch grundsätzlich möglich, oft erregen Menschen mit Behinderung aber dieserorts größeres Aufsehen und Ablehnung (Kretschmer 2001). Weiterhin wird bei der Freizeitplanung von Menschen mit Behinderung für Selbstbestimmung oftmals wenig Platz gelassen. Betreuerinnen und Betreuer von Wohngemeinschaften, Eltern und andere „meinen es gut“, jedoch ist zu überlegen, wie man die Betroffenen in die Planung ihrer Freizeit so weit wie möglich einbeziehen und einer „Ghettoisierung“ entgegensteuern kann (Sander 2006). Vereine, die ganz spezielle Programme für Menschen mit Behinderung anbieten, haben ihre Berechtigung, es wäre aber in jedem Fall begrüßenswert, wenn im Sinne von Integration und Inklusion Sport- und Freizeitangebote für alle Menschen zugänglich wären und für Menschen mit Behinderung nicht nur eigens organisierte und auf die Behinderung „zugeschnittene“ Spezialprogramme zur Verfügung stünden. Die Entscheidung darüber, an welchem Angebot man teilnehmen möchte, integrativ oder nicht, sollte dann allein beim Nutzer liegen. Letztendlich bedeutet ein Miteinander von „Behindert“ und „Nichtbehindert“ mehr Lebendigkeit und spiegelt die Vielfalt des Lebens wider. Nicht nur der Mensch mit Behinderung, auch die Menschen ohne Beeinträchtigung profitieren, lernen und erleben im Rahmen integrativer Angebote. Freizeitpädagogik hat viele wichtige Funktionen. Sinnvoll, abwechslungsreich und selbstbestimmt verbrachte Freizeit erhöht die Lebensqualität, Ressourcen werden gestärkt und Handlungsspielräume erweitert. Freizeit bietet Ausgleich von Schule, Ausbildung oder Arbeit, fördert das psychische und physische Wohlbefinden und bietet einen Rahmen für soziales Erleben und Lernen. Kommunikationsstrategien können vertieft werden, Konfliktfähigkeiten gestärkt, und das Eingebundensein in eine Gemeinschaft wirkt stabilisierend und gibt Sicherheit. Tiergestützte Pädagogik und Integration/ Inklusion Tiergestützte Pädagogik bietet sich an, um in Bezug auf den Integrationsgedanken beispielgebend voranzugehen. Hier sollen einige Argumente genannt werden, die zum Teil für den Umgang mit Tieren allgemein, zum Teil für den Umgang mit Pferden im Speziellen sprechen. Die sogenannte Biophilie-Hypothese , aufgestellt von Edward O. Wilson, besagt ganz generell, dass dem Menschen durch seine evolutionsgeschichtliche Entwicklung eine Verbundenheit mit der (belebten und unbelebten) Natur zu eigen ist, durch die der Mensch bestrebt ist, Kontakt zur Natur herzustellen (Vernooij/ Schneider 2008, 4-7). Hierauf basieren viele tiergestützte Angebote. Im Sinne der Inklusionspädagogik ist hierbei wichtig, dass tiergestützte Angebote auf eine gemeinsame Basis aller Menschen zurückgreifen (Greiffenhagen/ Buck-Werner 2007). Als eine weitere Grundlage tiergestützter Angebote gilt das Konzept der „Du-Evidenz“ , erstmals entwickelt von Karl Bühler, das besagt, dass Menschen die Fähigkeit besitzen, andere als „Du“ zu erkennen, möglicherweise eine Voraussetzung für empathisches Verhalten (Vernooij/ Schneider 2008, 7-10). Dieses Konzept wird auch auf die Mensch-Tier-Beziehung übertragen, dabei vor allem auf die Beziehung zu Hunden und Pferden, die dem Menschen in ihren sozialen Bedürfnissen und ihrer Körpersprache ähnlich sind (Vernooij/ Schneider 2008, 8). Auf der Grundlage dieses Konzepts kann man im Umgang mit Pferden das Thema Ähnlichkeit und Verschiedenheit thematisieren und lernen, eine gemeinsame Basis trotz aller Unterschiede zu finden. Hierbei spielt das 8 | mup 1|2011 Tisch-Keckstein, Jeitler - Vielfalt als Chance - Integrationspädagogik mit dem Pferd empathische Eingehen auf die Möglichkeiten und Bedürfnisse des Pferdes eine wichtige Rolle. Ein weiterer interessanter Aspekt ist das Kommunikationsverhalten in der Mensch-Tier- Interaktion (Vernooij/ Schneider 2008, 18f). Der Hauptanteil der Kommunikation mit dem Tier verläuft nicht „digital“ (Begriff nach Watzlawick et al. 2007), sondern auf der „analogen“ Ebene (Begriff nach Watzlawick et al. 2007) durch „Gestik, Mimik, Körperhaltung und/ oder -bewegung, Stimmmodulation, Berührungen oder auch Geruch und Geschmack“ (Vernooij/ Schneider 2008, 19). Hieraus ergeben sich mehrere Konsequenzen. Zunächst handelt es sich um eine Kommunikationsform, die jedem Menschen zugänglich ist, wenn auch ggf. nicht in gleichem Umfang. Weiterhin werden auf der „analogen“ Ebene vor allem solche Informationen transportiert, die mit dem eigenen (Gefühls-)Leben in engem Zusammenhang stehen und daher das aktuelle Erleben widerspiegeln (Vernooij/ Schneider 2008, 19f). Insofern besteht die Kommunikation mit dem Tier aus einem Informationsaustausch über das „Hier und Jetzt“. Das Kommunikationsverhalten von Tieren erleben wir als direkt und authentisch. Tiere senden keine Doppelbotschaften und geben - nach menschlichen Maßstäben - nichts auf Äußerlichkeiten oder gesellschaftliche Werte und Normen. Somit unterscheiden sie nicht nach „nichtbehindert“ und „behindert“, sondern legen andere Maßstäbe an, die das „übliche“ Wertesystem auf den Kopf stellen können. Hierdurch werden neue Lernerfahrungen im Hinblick auf menschliche Kompetenzen möglich. Im Umgang mit Pferden bietet sich durch den Bewegungsdialog beim Reiten hier noch eine ganz besondere Möglichkeit der „analogen“ Kommunikation (Klüwer 1997): Gerade dann, wenn das Pferd mehr als ein Kind trägt, wird der Dialog mit dem Pferd auch zu einem verbindenden Erlebnis zwischen zwei Menschen. Dabei können die verschiedenen Gangarten auch eine gemeinsame emotionale Gestimmtheit erzeugen (Klüwer 1997, 9). Integrative Voltigier- und Reitpädagogik 1 Basierend auf den vorausgegangenen Überlegungen haben die Verfasserinnen eine Vorgehensweise entwickelt, auf deren Grundlage integrative pferdgestützte Freizeitangebote geplant, organisiert und durchgeführt werden können. Diese Vorgehensweise bezeichnen wir mit dem Begriff Integrative Voltigier- und Reitpädagogik . Im Rahmen dieser Überlegungen werden Grundlagen der tiergestützten, insbesondere pferdgestützten Pädagogik kombiniert mit Aspekten der Erlebnispädagogik. Diese werden verbunden mit den Erkenntnissen aus der Integrationsforschung, vor allem aus dem Freizeitsektor. Besonderes Augenmerk liegt immer auf dem Aspekt der Selbstbestimmung als wesentliches Merkmal integrativer Angebote. Integrative Voltigier- und Reitpädagogik nutzt die Verbindung Pferd-Mensch und auch das Gruppenerlebnis, um Lernen mit allen Sinnen anzuregen. Neben dem Einsatz von Tieren bietet auch die Erlebnispädagogik hervorragende Ansätze, um mit integrativen Gruppen zu arbeiten: „Erlebnispädagogik ist eine handlungsorientierte Methode und will durch exemplarische Lernprozesse, in denen junge Menschen vor physische, psychische und soziale Herausforderungen gestellt werden, diese in ihrer Persönlichkeitsentwicklung fördern und sie dazu befähigen, ihre Lebenswelt verantwortlich zu gestalten“ (Heckmair/ Michl 2008, 115). Soziale Integration könnte gerade in diesem Bereich durch die Situationsvielfalt initiiert werden. Interaktionsspiele erlauben ein „Aus-der- Rolle-fallen“ und das Erproben neuer Verhaltensweisen in einem geschützten Rahmen. Wir setzen Interaktionsspiele ein, die durch einen sogenannte „Nullsummencharakter“ gekennzeichnet sind, es gibt weder Gewinner noch Verlierer. Die aktive Auseinandersetzung mit an- 1 Die Autorinnen bitten den Verlag, darauf hinzuweisen, dass sie diesen Ausdruck für ein Patent (Wortmarkenschutz) angemeldet haben. Tisch-Keckstein, Jeitler - Vielfalt als Chance - Integrationspädagogik mit dem Pferd mup 1|2011 | 9 deren wird gefordert und der Zusammenhalt gefördert. Die Teilnehmenden werden ermutigt, ihr Verhalten zu hinterfragen und neue Verhaltensweisen ohne Risiko einzugehen, da es sich ja nur um eine „Als-ob-Situation“ handelt. Integrative Voltigier- und Reitpädagogik befasst sich weiterhin auf der Umsetzungsebene mit der Frage nach geeigneten pädagogischen Methoden für heterogene Gruppen. Es geht in dem Konzept nicht darum, Behindertenfreizeitangebote zu schaffen, sondern Integrationsarbeit im Freizeitbereich zu leisten. Die Kurse werden so konzipiert, dass Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam daran teilnehmen können und gleichermaßen von der positiven Wirkung der Pferde profitieren. Das Einbeziehen anderer Tierarten neben den Pferden stellt eine zusätzliche Möglichkeit und Bereicherung dar. Im Zentrum für tiergestützte Pädagogik werden auch Esel, Ziegen, Hunde, Kaninchen und Katzen eingesetzt. Sicherheit steht an oberster Stelle, alle Methoden und Herangehensweisen werden daraufhin geprüft, und die Ausbildung und Fortbildung der Tiere nimmt einen hohen Stellenwert ein. „Die PferdeProfis“ ist ein Kurs aus dem Konzept „Integrative Voltigier- und Reitpädagogik“. Eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen ab acht Jahren verbringt jede Woche eineinhalb Stunden miteinander, um Kompetenzen rund um das Pferd zu erwerben und ganzheitliche Erfahrungen zu machen. Die Gruppengröße von maximal sechs Kindern ermöglicht eine individuelle Begleitung der Teilnehmenden. Die leitende Pädagogin wird von einer Assistentin, bei Bedarf von zwei Assistentinnen unterstützt. Zu den Inhalten gehören: Körpersprache mit dem Pferd erleben und - bewusst einsetzen Theoretisches Wissen über Pferdeverhalten - erlangen Pflege und Versorgung der Pferde - - Selbsterfahrung und Entspannung auf dem - - Pferd Elemente aus Centered Riding - - Körperarbeit aneinander und am Pferd - - Reiterspiele - - Voltigieren - - Interaktionsspiele - - Natur erleben - - Ablauf der Einheiten Der Kurs wird von einer Pädagogin geleitet, die von mindestens einer Assistentin unterstützt wird. Praktikanten aus unterschiedlichen Fachrichtungen und auch ehrenamtliche Mitarbeiter unterstützen das Team dabei, den Integrationsgedanken in die Praxis umzusetzen. Die Pädagogin plant vorab mit ihrer Assistentin bzw. ihren Assistentinnen den Grobablauf des Semesters. Nach jeder Einheit findet ein kurzes Reflexionsgespräch statt, nach etwa fünf Einheiten wird in einem längeren Gespräch der bisherige Verlauf reflektiert, und die Inhalte der verbleibenden Einheiten werden auf die Bedürfnisse der Kinder abgestimmt. Zu Beginn jeder Einheit trifft sich die Gruppe an einem gleichbleibenden Platz, wo das Begrüßungsritual stattfindet. Hier werden die Vorhaben für die Einheit besprochen und ggf. Aufgabenverteilungen und Zuständigkeiten geklärt. Jedes Kind hat eine PferdeProfi-Mappe. Die Kursleiterinnen stellen Bilder, Arbeitsblätter sowie Texte zum Thema Pferd zur Verfügung; manches wird gemeinsam besprochen und ausgefüllt, anderes können die Kinder zu Hause nutzen. Einige Kinder verwenden die Mappe als persönliches Pferdetagebuch. Das Begrüßen und Vorbesprechen findet genauso wie die Nachbesprechung und Verabschiedung immer am gleichen Platz statt. Rituale geben Sicherheit, Halt und Orientierung. Kinder mit unterschiedlichen Voraussetzungen, Kinder mit und ohne Behinderung kommen hier zusammen, um sich einer gemeinsamen Sache zu widmen: mit und über Pferde zu lernen. Ein Interaktionsspiel zu Beginn kann zusätzlich das Wir-Gefühl stärken. Hier eignen sich alle Spiele, bei denen es keinen Gewinner und keinen Verlierer gibt. Die Kursleiterinnen wählen Spiele, die in Zusammenhang mit den weiteren Inhalten 10 | mup 1|2011 Tisch-Keckstein, Jeitler - Vielfalt als Chance - Integrationspädagogik mit dem Pferd haben, dass es etwa einem Pferd schwerfällt, über die Stange zu steigen, ohne mit einem Bein anzuschlagen, aber dass es dafür sehr geschickt auf das Podest steigt. Ein so großes und beeindruckendes Tier wie ein Pferd zu führen und ihm die Richtung vorzugeben, mit ihm gemeinsam einen Hindernisparcours zu meistern und dazu eng mit einem anderen Kind zusammenzuarbeiten, macht stolz und selbstbewusst. Das anschließende Durchreiten bzw. Durchgeführtwerden auf dem Pferderücken ist zusätzlich eine Erfahrung, die das Selbstbewusstsein erhöhen kann. Am Ende des Hauptteils werden die Pferde gemeinsam abgesattelt, versorgt und in den Stall gebracht. Jedes Pferd bekommt eine Belohnung als Dankeschön. Anschließend trifft sich die Gruppe wieder an dem vereinbarten Platz, um kurz zu reflektieren, Wünsche für die nächsten Einheiten anzubringen und sich dann zu verabschieden. Das Konzept des „PferdeProfi-Kurses“ lässt viel Platz, um auf die individuellen Bedürfnisse der TeilnehmerInnen einzugehen. Voraussetzung ist ein Mehr an Ressourcen - personelle Ressourcen etwa, denn die Kursleitung ist darauf angewiesen, dass sie von einer Assistentin unterstützt wird. Grenzen, Chancen und Ausblick Die Umsetzung von integrativen Angeboten im Bereich Tiergestützte Pädagogik ist finanziell aufwendig. Benötigt werden ein hohes Maß an Know-how, mehr Betreuungspersonen und AssistentInnen, spezielles Material und nicht zuletzt eine sorgfältige und lange Ausbildung und fortwährende Weiterbildung der Tiere. Es muss für jedes Angebot und für jede Aktivität geprüft werden, ob die notwendigen Ressourcen vorhanden sind, um professionell und sicher arbeiten zu können. Immer wieder stößt man an Grenzen. Manchmal ist die Teilnahme eines Menschen bei einem Angebot nicht möglich, manchmal scheitert die Umsetzung eines Projektes, weil man sich die Ressourcen, z. B. die notwendigen personellen Ressourcen, nicht leisten kann. der Einheit stehen. Als Beispiel sei hier ein einfaches Vertrauensspiel genannt: jeweils zwei Kinder arbeiten zusammen und führen sich gegenseitig durch einen Hindernisparcours. Als Steigerung der Schwierigkeit bekommt das geführte Kind dann die Augen verbunden. Solche Übungen bereiten auf das spätere Thema „Führen des Pferdes“ vor und fördern Vertrauen und Kooperationsfähigkeit der Kinder. Das gemeinsame Bürsten und Aufgurten bzw. Aufsatteln der Tiere nimmt für gewöhnlich einen großen Teil der Einheit ein. Die Kinder arbeiten zu zweit zusammen und werden von den Erwachsenen unterstützt. Beim Bürsten der Pferde und bei den Aufgaben rund ums Herrichten kommen die Kinder nicht nur mit dem Pferd, sondern auch miteinander intensiv in Kontakt. Die Kursleitung begleitet die Gruppe dabei, sich gegenseitig zu helfen und Aufgaben zu verteilen. Kinder im Rollstuhl können hier genauso mitarbeiten und z. B. Beine und Bauch der Pferde bürsten, während größere Kinder sich um den Pferderücken kümmern. Kinder mit Sinnesbehinderungen oder Verhaltensauffälligkeiten können genauso mitmachen und werden intensiver von einem Erwachsenen unterstützt. Der Sicherheitsaspekt ist besonders wichtig, eine sorgfältige Vorbereitung der Pferde ist absolutes Muss. Der Hauptteil hat ein bestimmtes Thema, das in der Eingangsrunde mit den Kindern besprochen wurde. Dies kann z. B. der „Hindernisparcours“ sein. Die Kinder führen ihr Pferd zu zweit beispielsweise durch den Slalom, durch ein Labyrinth und über eine Bodenstange. Sie machen die Erfahrung, wie wichtig es ist, zusammenzuarbeiten und miteinander zu kommunizieren. Wenn der gleiche Parcours im Eingangsspiel von den Kindern durchwandert wurde, fällt es ihnen später mit dem Pferd leichter, sich zurechtzufinden. Auf unterschiedliche Bedürfnisse und Fähigkeiten der Kinder kann auch hier wieder gut eingegangen werden. Kinder im Rollstuhl, Kinder mit Schwierigkeiten beim Gehen oder Kinder mit Koordinationsschwierigkeiten können mitmachen und sich einbringen und erhalten ggf. eine intensivere Unterstützung und Begleitung. Die Kinder erleben bei diesen Übungen ebenso, dass auch die Pferde unterschiedliche Stärken und Schwächen Tisch-Keckstein, Jeitler - Vielfalt als Chance - Integrationspädagogik mit dem Pferd mup 1|2011 | 11 Dennoch möchten wir Mut machen, für die Grundrechte der Menschen einzustehen und engagiert nach Methoden und Möglichkeiten zu suchen, die einen barrierefreien Zugang zu freizeitpädagogischen und tiergestützten Angeboten Realität werden lassen. Das Pferd spielt seit seiner Domestikation wortwörtlich eine tragende Rolle. Mit seiner Hilfe hat der Mensch seinen Radius über die ganze Erde erweitert. Vielleicht lassen wir uns von ihm auch auf diesem Weg begleiten - auf dem Weg zu mehr Menschlichkeit, Offenheit und Vielfalt. Literatur Boban, H. (1993): Geistige Behinderung und ■ Integration. Zeitschrift für Heilpädagogik 44, 327-340 Greiffenhagen, S., Buck-Werner, N. (2007): ■ Tiere als Therapie. Neue Wege in Erziehung und Heilung. Kynos, Mürlenbach Heckmair, B., Michl, W. (2008): Erleben und ■ Lernen. Einführung in die Erlebnispädagogik. 6. Aufl. Ernst Reinhardt, München/ Basel Hinz, A. (2002): Von der Integration zur Inklu- ■ sion - terminologisches Spiel oder konzeptionelle Weiterentwicklung? Zeitschrift für Heilpädagogik 53, 354-361 Klüwer, C. (1997): Die spezifischen Wirkungen ■ des Pferdes in den Bereichen des therapeutischen Reitens. In: DKThR (Hrsg.): Heilpädagogisches Voltigieren und Reiten. Sonderheft. 2. Aufl. FN, Warendorf Kretschmer, C. (2001): „Behinderte Freizeit - ■ Freizeit behinderter Menschen“. Schriftliche Ausarbeitung des Referates im Rahmen der Lehrveranstaltung Nr. 06645 von Windisch, M., Universität Kassel Melero, M. L. (2000): Ideologie, Vielfalt und ■ Kultur: Vom Homo sapiens sapiens zum Homo amantis. Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft 23, 11-34 Sander, A. (2006): „Interdisziplinarität in einer ■ inklusiven Pädagogik“. Vortrag im Rahmen des ANCE Symposiums, 12.11.2006 in Luxemburg. In: www.ance.lu/ index.php? option=com_content&view=article&id=83: profdr-a-sander-interdisziplinaritaet-in-einer-inklusiven-paedagogik&catid=31: online-dokutheik&Itemid=36, 24.9.2010 Scheid, V. (1995): Chancen der Integration ■ durch Sport. Meyer und Meyer, Aachen Speck, O. (2008): System Heilpädagogik. Eine ■ ökologisch reflexive Grundlegung. 6. Aufl. Ernst Reinhardt, München/ Basel Vernooij, M. A., Schneider, S. (2008): Handbuch ■ der Tiergestützten Intervention. Quelle & Meyer, Wiebelsheim Watzlawick, P., Beavin, J. H., Jackson, D. D. ■ (2007): Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. 11. Aufl. Huber, Bern Die Autorinnen Anschrift: Zentrum für tiergestützte Pädagogik - Schottenhof, Amundsenstr. 5 · A-1140 Wien ina_keckstein@hotmail.com www.schottenhof.at Martina Tisch-Keckstein Diplomierte Sozialarbeiterin, Familientrainerin nach T. Gordon, Diplom für Heilpädagogisches Voltigieren (OKTR), Leitung der Weiterbildung „Zusatzqualifikation Integrative Voltigier- und Reitpädagogik“ Michaela Jeitler Kindergarten- und Motopädagogin, NLP-Practitioner, Psychotherapeutisches Propädeutikum, Leitung des „Zentrums für Tiergestützte Pädagogik“, Diplom für Heilpädagogisches Voltigieren (OKTR), Leitung der Weiterbildung „Zusatzqualifikation Integrative Voltigier- und Reitpädagogik“, Centered Riding Instructor
