mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mup2011.art05d
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Aspekte einer Pferdegestützten Therapie bei bindungsgestörten Kindern
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Alexandra Dischinger
Annette Gomolla
In diesem Artikel soll auf die besondere Rolle des Pferdes als Beziehungspartner in der Reittherapie eingegangen werden. Die Möglichkeit korrigierender Bindungserfahrungen in der Reittherapie werden diskutiert und die praktischen Umsetzungsmöglichkeiten einer pferdegestützten Arbeit mit bindungsgestörten Kindern aufgezeigt.
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Alexandra Dischinger, Annette Gomolla 52 | mup 2|2011|52-59|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378/ mup2011.art05d In diesem Artikel soll auf die besondere Rolle des Pferdes als Beziehungspartner in der Reittherapie eingegangen werden. Die Möglichkeit korrigierender Bindungserfahrungen in der Reittherapie werden diskutiert und die praktischen Umsetzungsmöglichkeiten einer pferdegestützten Arbeit mit bindungsgestörten Kindern aufgezeigt. Schlüsselbegriffe: Reittherapie, Pferdegestützte Therapie, Bindungsstörung, korrigierende Bindungserfahrung, Pferd als Beziehungspartner Aspekte einer Pferdegestützten Therapie bei bindungsgestörten Kindern Alexandra Dischinger, Annette Gomolla Dischinger, Gomolla - Aspekte einer Pferdegestützten Therapie bei bindungsgestörten Kindern mup 2|2011 | 53 Die Bindungstheorie wird schon seit einiger Zeit zur theoretischen Untermauerung der tiergestützten Therapie herangezogen, um die Beziehung zwischen Mensch und Tier zu untermauern (Beetz 2004). Nun soll die Pferdegestützte Therapie als Kombination aus tiergestützter, körperorientierter und erlebnistherapeutischer Therapie in Bezug auf die Arbeit mit bindungsgestörten Kindern kritisch beleuchtet werden. Dabei soll bereits zu Anfang darauf hingewiesen werden, dass die Reittherapie als ergänzendes Therapieverfahren verstanden wird, welches keine Psychotherapie ersetzt. Daher wird auch bei bindungsgestörten Kindern die Reittherapie als Teil einer Reihe von Maßnahmen angesehen, die auf die spezifischen Bedürfnisse des Kindes und seiner familiären Situation zugeschnitten sind. Im weiteren Verlauf soll theoretisch der Fragestellung nachgegangen werden, ob es mit Hilfe des Pferdes möglich sein kann, im Rahmen eines reittherapeutischen Settings korrigierende Bindungserfahrungen für bindungsgestörte Kinder zu vermitteln. Die Frage soll durch eine Zusammenführung von Hintergrundinformation aus der Bindungsforschung mit fachlichen Überlegungen der Pferdegestützten Therapie erfolgen und in Thesen münden, die in wissenschaftlichen Studien als Grundlagen einer intensiven und kritischen Auseinandersetzung herangezogen werden können. Zentrale Aspekte der Bindungstheorie und Bindungsstörungen Die Bindungstheorie geht auf die Erforschung von Mutter-Kind-Bindungen im Hinblick auf die Überlebensfunktion im Verlauf der Evolution zurück. John Bowlby gilt als Begründer dieser Theorie. Nach Jeremy Holmes (2006) ist Bindung ein allgemeiner Begriff, der den Zustand und die Qualität individueller Beziehungen zu anderen Menschen beschreibt. Die Qualität der Bindung wird in sicher und unsicher gebunden unterteilt. Eine sichere Bindung bedeutet ein Gefühl von Schutz und Sicherheit, während unsicher gebundene Personen eine Mischung verschiedener Gefühle gegenüber ihrer Bindungsperson wahrnehmen. Diese Gefühle umfassen sowohl intensive Liebe und Abhängigkeit als auch Angst vor Ablehnung, Reizbarkeit und Wachsamkeit. Bindungsverhalten ist eine angeborene Verhaltensweise, welche sich beim Säugling durch Schreien, Festklammern sowie auch Lächeln äußert. Eine sichere Bindung wird beim Kind aufgebaut, wenn seine Bezugsperson auf das emotionale Befinden und die Verhaltensweisen adäquat eingeht. Insbesondere die Befriedigung von Bedürfnissen nach Körperkontakt und Zuwendung bei Angst und Unwohlsein werden als wichtige Bindungserfahrungen angesehen. Beginnend mit der frühen Mutter-Kind-Beziehung bis zu der Beziehung zu beiden Eltern in der Jugend entwickelt ein Kind eine Vorstellung (internes Arbeitsmodell) vom Verhalten seiner Bindungspersonen ihm gegenüber in den unterschiedlichsten Situationen. Schon während des ersten Lebensjahres entwickelt der Säugling durch seine Erfahrungen Erwartungen gegenüber seinen Bezugspersonen bezüglich der Verfügbarkeit und Reaktionsweise. Das gesamte Denken, Fühlen und Handeln einer Person wird durch die Art und Weise beeinflusst, welche Erfahrungen sie in der Interaktion mit der Umwelt und wichtigen Bezugspersonen gemacht hat (Grossmann / Grossmann 2004). Ab dem dritten Lebensjahr beginnt die Phase der zielkorrigierten Partnerschaft, in welcher das Kind lernt, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse und die seiner Bezugspersonen kompromissbereit zusammenzubringen. Eine sichere Bindung wird beim Kind aufgebaut, wenn seine Bezugsperson auf das emotionale Befinden und die Verhaltensweisen adäquat eingeht. Insbesondere die Befriedigung von Bedürfnissen nach Körperkontakt und Zuwendung bei Angst und Unwohlsein werden als wichtige Bindungserfahrungen angesehen. 54 | mup 2|2011 Dischinger, Gomolla - Aspekte einer Pferdegestützten Therapie bei bindungsgestörten Kindern Erfolgt eine Störung in der frühen Interaktion zwischen Kind und Bindungsperson, so kann es zu einer Bindungsstörung unterschiedlicher Ausprägung kommen (siehe Kasten). In der psychotherapeutischen Arbeit mit bindungsgestörten Kindern werden Beziehungserfahrungen angeboten, die auf das Bindungssystem korrigierend wirken sollen. Ansichten auf das Pferd als wertfreier Beziehungspartner mit analoger Kommunikation Das Pferd bietet dem Menschen die Möglichkeit einer Beziehungsaufnahme, die nicht den zwischenmenschlichen Interaktionsmustern folgt. Tiere folgen keinem menschlichen Wertesystem und kommunizieren rein auf der analogen Ebene (Watzlawik 2007). Es ist eine Kommunikationsbasis vorhanden, auf welcher - in bindungstheoretischer Ausdrucksweise gesprochen - zielkorrigierte Partnerschaft umgesetzt werden kann. Folgende Aspekte können dem Zusammensein mit Pferden zugeschrieben werden: Das Pferd als Vermittler von Zuwendung Pferde heben ihren Kopf und schauen dem sich Annähernden entgegen oder kommen auf ihn zu. Bei angemessener Kontaktaufnahme lassen Pferde einen engen Körperkontakt zu. Das Pferd als eindeutiges Gegenüber Das Pferd bietet Nähe, ohne zu vereinnahmen, es erzwingt keinen Kontakt, gewährt ihn jedoch in der Regel. Im Umgang mit ihm gibt es keine „Spielchen“ und Doppelbindungen, die oft ursächlich an der Entstehung von Beziehungsproblemen sind. Das Pferd agiert im Hier und Jetzt ohne Erwägung der Folgen seines Handelns für die Zukunft (vgl. Gathmann / Leimer 2004). Das Pferd als Übungsfeld für Verantwortung und soziale Kompetenzen Trotz seiner Größe ist das Pferd ein äußerst sensibles Tier, das viel Pflege und Zeit benötigt. Innerhalb der Reittherapie eröffnen sich viele Möglichkeiten, Verantwortung für dieses Tier zu übernehmen, z. B. es zu füttern und zu tränken. Der Klient hat die Möglichkeit, jemand Anderem etwas Gutes zu tun, und lernt gleichzeitig, sich in ein anderes Lebewesen hinein zu fühlen, sowohl im Umgang mit dem Pferd als auch beim Reiten. 1. Die kontinuierliche und feinfühlige Fürsorge ist für die seelische Gesundheit des Kindes von herausragender Bedeutung. 2. Es ist aus biologischer Sicht notwendig, mindestens eine Bindung zu einer erwachsenen Person aufzubauen, die als weiser und stärker empfunden wird. So kann das Bedürfnis nach Schutz und Versorgung gewährleistet werden. 3. Eine Bindungsbeziehung wird darin sichtbar, dass bei Angst das Bindungsverhalten aktiviert und die Nähe zur Bindungsperson gesucht wird. Das Explorationssystem wird deaktiviert. Bei einem Gefühl von Sicherheit und Wohlbefinden wird dagegen das Bindungsverhalten zugunsten des Explorationsverhaltens aufgegeben. 4. Unterschiede in der Qualität von Bindung können am Ausmaß der Vermittlung eines Sicherheitsgefühls unterschieden werden. 5. Die Bindungstheorie erklärt mit Hilfe der kognitiven Psychologie, wie frühe Bindungserfahrungen verarbeitet und zu inneren Arbeitsmodellen geformt werden. (vgl. Grossmann / Grossmann 2004) Die 5 wichtigsten Postulate der Bindungstheorie Dischinger, Gomolla - Aspekte einer Pferdegestützten Therapie bei bindungsgestörten Kindern mup 2|2011 | 55 Das Pferd als Vermittler von Ur-Vertrauen Durch die Wärme und den wiegenden Schritt wird dem Reiter ein Gefühl von Geborgenheit und des „Getragenwerdens“ vermittelt (Strausfeld 2009). Ur-Vertrauen entsteht durch die Erfahrung des Sich-Verlassen-Dürfens auf andere und auf sich selbst. Der Reitsitz erfüllt die Schlüsselpunkte einer guten Halte-Situation. Durch die Reitposition ist der Körper des Kindes stabilisiert (Schulz 2009). Diese Stabilität vermittelt dem Reiter ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, das mit dem Gefühl verglichen werden kann, in der frühen Kindheit von der Mutter getragen und gehalten zu werden. Das Pferd als Bewegungspartner Carl Klüwer (1998) hat in seinen theoretischen Begründungen der Wirkfaktoren der Reittherapie besonders den Bewegungsdialog als den wesentlichen Faktor herausgearbeitet. Jedes Kind kommt mit individuellen Spannungs- und Bewegungsrhythmen auf die Welt und ist darauf angewiesen mit der Mutter in einen passenden Bewegungs- und Interaktionsdialog zu treten. Die rhythmische Pferdebewegung bietet möglicherweise Anregungen, die an die vorgeburtlichen Rhythmuserfahrungen und an die Erfahrung des „Geschaukelt- und Gewogenwerdens“ anknüpfen. Das Pferd als Möglichkeit, sich stark und selbstwirksam zu erleben Erfolgserlebnisse im Umgang mit dem Pferd ermöglichen dem Kind, sich selbstwirksam und stark zu fühlen. Das Pferd selber beim Führen oder Reiten lenken zu können ist eine der vielen Herausforderungen, die im angeleiteten Zusammensein mit dem Pferd den Aufbau von Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeitserleben unterstützen. Triadische Beziehungsgestaltung in der Pferdegestützten Therapie Normalerweise ist die Beziehungsform im therapeutischen Prozess eine Zweierbeziehung, eine dyadische Beziehung. In der Reittherapie dagegen wandelt sich diese Beziehung durch Einbezug des Pferdes in eine triadische Dreierbeziehung. Für das Kind bedeutet diese Konstellation die Anforderung, gleichzeitig zu zwei Interaktionspartnern eine Beziehung zu unterhalten, ähnlich dem Familienkontext. Die Erkenntnis, dass die zwei Partner (wie auch bei den Eltern) untereinander ebenfalls eine Beziehung zueinander haben, stellt eine weitere Aufgabe dar (vgl. Kupper-Heilmann 1999). Falls es einem Klienten nicht möglich ist, in der Therapie beide Pole des Beziehungsdreieckes mit einzubeziehen, kann dies Aufschluss über seine inneren Prozesse geben. Beachtenswert sind in der reittherapeutischen Arbeit folgende Punkte: Die Therapeutin stellt sich dem Kind als Dolmetscherin und als Vermittlerin bei der Kontaktaufnahme und dem Beziehungsaufbau zur Verfügung. Das Pferd übernimmt zu Beginn eine motivierende Funktion. Soll es zu einem engen Beziehungsaufbau kommen, ist der kontinuierliche Einsatz eines bestimmten Pferdes wichtig. Zwischen Reittherapeut und Pferd sollte es eine enge und gut funktionierende Beziehung geben, die als Modell für das Kind dienen kann. Wichtig ist zu beachten, dass in der Beziehung zwischen Reittherapeut und Pferd keine vermenschlichten Zuschreibungen stattfinden, denn sonst kann das Pferd mit seiner wertfreien und nonverbalen Interaktionsform nicht wirksam werden. Thesen zum wirkungsvollen Einsatz von Pferden in der Therapie bindungsgestörter Kinder Zur eingangs genannten Fragestellung, ob die Reittherapie als ergänzendes Therapieverfahren bei bindungsgestörten Kindern eingesetzt werden kann, können folgende Hypothesen zusammengetragen werden: Das Pferd kann in der Pferdegestützten ■ Therapie als „Sichere Basis“ wirksam werden Das Pferd bietet einen engen und großflächigen Körperkontakt, welcher Beruhigung und Entspannung fördert, wie ihn Kinder von engen Bezugs- 56 | mup 2|2011 Dischinger, Gomolla - Aspekte einer Pferdegestützten Therapie bei bindungsgestörten Kindern personen in den ersten Lebensjahren für eine sichere Bindung erfahren sollten. Das Pferd bietet Regressionsmöglichkeiten, ■ die seine Bedeutung als „Sichere Basis“ fördern Das Kind kann auf dem Pferd Rhythmuserfahrungen machen, die dem „Getragen-werden“ durch die Mutter ähneln. Die eigene Bewegung sowie das Erspüren der Bewegung des Pferdes stehen im Mittelpunkt der Reittherapie. Ziel ist die Harmonisierung und Anpassung des eigenen Körpers an die Bewegungen des Pferdes. Das Pferd bietet einen ständigen Anreiz zum ■ Wechsel zwischen Bindungs- und Explorationssystem Das Reiten und der Umgang mit dem großen, starken Tier erfordert Mut und Selbstvertrauen. Ein Kind muss während der Reittherapie immer wieder seine Angst überwinden. Dennoch bietet das Pferd zugleich die Möglichkeit, sich auf seinem Rücken sicher und groß zu fühlen. Dieser ständige Wechsel zwischen der Aktivierung des Bindungs- und Explorationssystems ist ein wichtiges bindungsrelevantes Thema. Sichere Bindung Die Kinder zeigen Kummer, wenn sie von der Mutter getrennt werden, und lassen sich nur ungern und unzureichend von der fremden Person trösten. Wenn die Mutter zurückkehrt, freuen sie sich deutlich. Sie gehen auf die Mutter aktiv zu, suchen ihre Nähe und lassen sich recht schnell beruhigen. Sie wenden sich bald darauf wieder ihrem Spiel zu. Sie können ihre Mutter als „Sichere Basis“ nutzen, von der aus sie ihre Umgebung erkunden können. Im Beisein der Mutter können sie offen kommunizieren und zeigen sich freundlich ihrer Umwelt gegenüber. Unsicher-vermeidend Diese Kinder zeigen bei der Trennung von der Mutter wenig offensichtliche Zeichen des Kummers und ignorieren die Mutter. Sie sind in ihrem Spiel gehemmt. Diese Gruppe von Kindern lässt sich während der Trennung von der Mutter gerne von der fremden Person ablenken und trösten. Negative Gefühle sind sowohl im Beisein der Bezugsperson als auch in der Wiedervereinigungssituation selten beobachtbar. Unsicher-ambivalent Kinder mit unsicher-ambivalentem Bindungsverhalten zeigen bei der Trennung großen Kummer und können bei der Wiedervereinigung nur schwer beruhigt werden. Sie schaffen es nicht, in Abwesenheit der Mutter den Raum zu erkunden, sie sind ausschließlich damit beschäftigt, auf die Rückkehr der Mutter zu warten. Die fremde Person wird stark zurückgewiesen. Bei der Rückkehr der Mutter wechselt das Verhalten dieser Kinder ständig zwischen Zorn auf die Mutter und Festklammern an sie. Eine Exploration ist nicht mehr möglich. Unsicher-desorganisiert Einige Kinder zeigen eine vielseitige Bandbreite von verwirrtem Verhalten, zu dem ein „Einfrieren“ oder stereotype Bewegungen wie Sich-im-Kreise-Drehen gehören, wenn sie wieder mit der Mutter vereint werden. Es wird angenommen, dass dieses Verhalten auf Traumata oder eine desorganisierte Familienstruktur zurückzuführen ist (Grossmann / Grossmann 2004). Klassifikation der Bindungstypen nach der standardisierten „Fremde[n] Situation“ von Ainsworth Dischinger, Gomolla - Aspekte einer Pferdegestützten Therapie bei bindungsgestörten Kindern mup 2|2011 | 57 Das Pferd ist ein ehrlicher Interaktions- und ■ Kommunikationspartner, der seine Emotionen nicht unterdrückt oder verfälscht und somit ein sicheres Bindungsverhalten fördert Um ein sicheres Bindungsverhalten ausbilden zu können, ist es von großer Bedeutung, dass sich das Kind mit all seinen Stärken und Fehlern angenommen fühlt. Das Pferd begegnet den meisten Menschen mit Interesse und wendet sich diesen positiv zu. Weiterhin zeigt es seine Stimmungen transparent und unverfälscht. Das Kind kann lernen, diese Stimmungslagen zu verstehen und einfach zu interpretieren. Das Pferd bietet dem Kind die Möglichkeit, ■ sich selbstwirksam zu erleben, und fördert somit die Fähigkeit, auf die eigene „internalisierte Sichere Basis“ (George / West 2001) zurückgreifen zu können Durch den Umgang mit diesem großen, aber dennoch äußerst wohlwollenden Tier hat ein Kind automatisch Erfolgserlebnisse. Der Umgang mit dem Pferd ist somit das ideale Übungsfeld, um Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu erhalten. Dieses Vertrauen in die Eigenkompetenz ist Grundlage des Konzeptes der „internalisierten Sicheren Basis“. Mensch und Pferd haben gemeinsame ■ Kommunikationsmöglichkeiten. Damit ist die wichtigste Voraussetzung für eine zielkorrigierte Partnerschaft erfüllt Um positive Bindungserfahrungen aufnehmen und weitergeben zu können, müssen Kommunikations- und Verständigungsmöglichkeiten vorhanden sein. Die analoge Kommunikationsebene bietet die Möglichkeit für einen nonverbalen Austausch zwischen Mensch und Pferd. Da die Voraussetzungen der Kommunikation und der Verständigungsmöglichkeit erfüllt sind, besteht die Möglichkeit einer zielkorrigierten Partnerschaft zwischen Mensch und Pferd. Vorschläge für die reittherapeutische Arbeit mit bindungsgestörten Kindern Grundvoraussetzung für die Arbeit mit bindungsgestörten Kindern ist eine ausreichende Qualifikation der Reittherapeutin. Das bedeutendste Element in einer bindungstheoretisch ausgerichteten Reittherapie ist die Nutzung des Pferdes als „Sichere Basis“ für das Kind. Eine passende Übung für das „Erfahrbarmachen“ von Ruhe und Sicherheit ist das Liegen auf dem Pferderücken und das Spüren der Atmung des Pferdes. Dies sollte dem Kind in ausreichender Zeit gewährt werden, wenn es diese Position einfordert. Wie bereits erwähnt, fördert der Umgang mit dem Pferd den Wechsel zwischen Explorations- und Bindungssystem in besonderer Weise. Um dem Klienten Möglichkeiten der Exploration zu geben, eignen sich zum Beispiel Erkundungen in die nähere Umwelt vom sicheren Pferderücken aus mit dem Therapeuten als unterstützende Person. In der Stundengestaltung sollte allgemein darauf geachtet werden, dass sich Ruhephasen und Phasen mit Anforderungen an das Kind abwechseln. Dies entspräche dem Wechselspiel zwischen „Sicherer Basis“ und Exploration. Bevor neue Anforderungen gestellt werden, sollte dem Klienten vorher die Möglichkeit gegeben werden, die „Sichere Basis“ zu spüren. Neue Aspekte können bereits kleine Veränderungen im Ablauf sein oder auch einfache Übungen auf dem Pferd. So- Das bedeutendste Element in einer bindungstheoretisch ausgerichteten Reittherapie ist die Nutzung des Pferdes als „Sichere Basis“ für das Kind. Eine passende Übung für das „Erfahrbarmachen“ von Ruhe und Sicherheit ist das Liegen auf dem Pferderücken und das Spüren der Atmung des Pferdes. 58 | mup 2|2011 Dischinger, Gomolla - Aspekte einer Pferdegestützten Therapie bei bindungsgestörten Kindern bald das Kind mit Ablehnung reagiert, sollte sich der Therapeut darüber bewusst sein, dass das Kind noch nicht genügend Sicherheit aufgebaut hat. Hierbei ist von besonderer Bedeutung, dass die erste Phase der Vertrauensbildung zum Pferd sowie zum Therapeuten besondere Bedeutung einnimmt und bei bindungsgestörten Kindern sicherlich länger dauert als bei anderen Klienten. Eine schöne Aufgabe in der Phase der Vertrauensbildung und des Aufbaus der Sicheren Basis kann die Anfertigung eines Steckbriefes über das Pferd sein, welches die Vorlieben und Eigenheiten des Pferdes beschreibt (Schörle 2000). Auch im weiteren Verlauf der Reittherapie sollte darauf geachtet werden, dass die Förderung der Beziehung zwischen Kind und Pferd im Vordergrund steht. Um diesen engen Kontakt zwischen Klient und Pferd herstellen zu können, eignen sich pflegerische Elemente wie Füttern und Misten des Pferdes. Es bieten sich ebenfalls Massagetechniken (wie z. B. Tellington Touch) an. Das Kind kann die Erfahrung machen, dass sich das Pferd bei ihm wohl fühlt, sich gerne von ihm berühren lässt. Für manche Kinder kann es sinnvoll sein, einen Schwerpunkt der Therapie auf das Finden von Kompromissen zu legen, um dieses wichtige Verhalten für eine zielkorrigierte Partnerschaft einzuüben. Dieses Ziel erfordert jedoch viel Feingefühl des Therapeuten für die einzelnen Situationen. Es müssen die Bedürfnisse des Pferdes genau beschrieben und erklärt werden. Eine Möglichkeit bei kleineren Kindern kann der gemeinsame Kontakt zum Pferd von Mutter und Kind sein. Sowohl für Mutter als auch Kind können sich aus dieser Interaktion neue Beziehungserfahrungen entwickeln. Aus bindungstheoretischer Sicht ist diese gemeinsame Aktivität besonders wertvoll. Sowohl die Mutter als auch das Kind haben die Möglichkeit, regressive Erfahrungen mit Hilfe des Pferdes zu machen. Das Pferd hat, wie alle Tiere allgemein, eine Wirkung als Katalysator, das heißt, Mutter und Kind können durch die gemeinsame Aktivität andere Zugangswege zu der gemeinsamen Beziehung finden. Wichtig hierbei ist, zu beachten, dass eigene traumatische Bindungserfahrungen der Mutter, insbesondere durch das Reiten bei der Mutter, wachgerufen werden können. Daher sollte der Einbezug der Mütter nur von Personen durchgeführt werden, die über genügend Erfahrung in der Arbeit mit Mutter-Kind-Konstellationen sowie traumatisierten Personen verfügen. Zum Abschluss der Reittherapie sollte sehr feinfühlig mit der Trennung aus dem Setting umgegangen werden. Die Beendigung der Reittherapie sollte genau geplant und das Thema Abschied über mehrere Stunden mit dem Kind bearbeitet werden. Fazit Die Pferdegestützte Therapie kann als sinnvoller Baustein in die Behandlung von Kindern mit Bindungsstörungen integriert werden, da das Pferd im menschlichen Sinne als wertfreier Beziehungspartner auf einer analogen Kommunikationsebene einige basale Bedürfnisse kindlicher Bindungsbedürfnisse befriedigt. Natürlich kann keine tiergestützte Arbeit eine zwischenmenschliche Bindung ersetzen und auch keine Bindungsstörung bei einem Kind „heilen“, jedoch besteht besonders in der körperorientierten Arbeit mit und auf dem Pferd die Chance, eine erste emotionale Nachnährung bindungsgestörter Kinder anzuleiten, auf die in einigen Fällen weitere zwischenmenschliche Beziehungsangebote aufgebaut werden können. Eine Zum Abschluss der Reittherapie sollte sehr feinfühlig mit der Trennung aus dem Setting umgegangen werden. Die Beendigung der Reittherapie sollte genau geplant und das Thema Abschied über mehrere Stunden mit dem Kind bearbeitet werden. Dischinger, Gomolla - Aspekte einer Pferdegestützten Therapie bei bindungsgestörten Kindern mup 2|2011 | 59 nähere kritische wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Wirkung der Pferdegestützten Therapie bei Kindern mit Bindungsstörung wäre wünschenswert. Literatur Beetz, A. (2004): Wissenschaftliche Grund- ■ lagen der Mensch-Tier-Beziehung. Von der Biophilie-Hypothese bis zur Bindungstheorie. In: Verein „Tiere als Therapie“ (Hrsg.): Tiere als Therapie. Tagungsband des 2. Internationalen TAT Symposium Tier als Therapie - Theorie und Praxis. Veterinärmedizinische Universität Wien, 3-15 Gathmann, P., Leimer, G. (Hrsg.) (2004): Heil- ■ pädagogisches Voltigieren bei Anorexia Nervosa . Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt George, C., West, M. (2001): Das Erwachsenen- ■ Bindungs-Projektiv (Adult-Attachment-Projective): Ein neues Messverfahren für Bindung im Erwachsenenalter. In: Gloger-Tippelt, G. (Hrsg.): Bindung im Erwachsenenalter. Huber, Bern, 295-321 Grossmann, K., Grossmann, K.-E. (2004): ■ Bindungen - das Gefüge psychischer Sicherheit . Klett-Kotta, Stuttgart Holmes, J. (2006): John Bowlby und die ■ Bindungstheorie. 2. Aufl. Ernst Reinhardt, München / Basel Klüwer, C. (1998): Selbsterfahrung durch das ■ Medium Pferd. In: Gäng, M. (Hrsg.): Heilpädagogisches Reiten und Voltigieren . 5. Aufl. Ernst Reinhardt, München / Basel, 210-227 Kupper-Heilmann, S. (1999): Getragenwerden ■ und Einflussnehmen. Aus der Praxis des psychoanalytisch orientierten heilpädagogischen Reitens . Psychosozial, Gießen Schörle, A. (2000): Pferde Träume. Heilpäd- ■ agogische Ansätze im Reitunterricht mit Kindern . Buch und Bild, Nagold Schulz, M. (2009): Heilpädagogisch-psychomo- ■ torische Aspekte der vorschulischen Förderung mit Hilfe des Pferdes. In: Gäng, M. (Hrsg.): Ausbildung und Praxisfelder im heilpädagogischen Reiten und Voltigieren. 4. Aufl. Ernst Reinhardt, München / Basel, 82-94 Strausfeld, P. (2009): Einsatz des Heilpäd- ■ agogischen Voltigierens in einer Fachklinik für suchtkranke Frauen. In: Gäng, M. (Hrsg . ): Ausbildung und Praxisfelder im heilpädagogischen Die Autorinnen Anschriften: Dr. rer. nat. Annette Gomolla · Robert-Gerwig-Str. 12 D-78465 Konstanz · 07531-3616120 · A.Gomolla@ipth.de Alexandra Dischinger · Bienenweg 10 · D-79110 Freiburg A.Dischinger@Heilpaedagogik-Reittherapie.de Dr. rer. nat. Annette Gomolla Dipl.-Psychologin, Leiterin des Fort- und Weiterbildungsinstituts für Pferdegestützte Therapie - IPTh in Konstanz, langjährige reittherapeutische Arbeit mit Kindern und Erwachsenen mit dem Schwerpunkt Kombination Reittherapie und Traumatherapie Alexandra Dischinger Dipl.-Heilpädagogin (FH) und Reittherapeutin (IPTh), befasste sich im Rahmen ihrer Diplomarbeit mit der Diagnostik und Therapie von Bindungsstörungen in der Reittherapie, arbeitet an einer Schule für Kinder mit Mehrfachbehinderungen, beziehungsrelevante Gesichtspunkte stellen den Schwerpunkt ihrer reittherapeutischen Arbeit dar Reiten und Voltigieren. 4. Aufl. Ernst Reinhardt, München / Basel, 170-199 Watzlawik, P. (2007): Menschliche Kommunika- ■ tion: Formen, Störungen, Paradoxien. Huber, Bern
