eJournals mensch & pferd international 4/1

mensch & pferd international
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2012
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Maria: ein fiktives Praxisbeispiel in der heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd durch verschiedene Theoriebrillen betrachtet

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2012
Eva Solmaz
Fiktives Fallbeispie: Marias Mutter ruft bei Frau X. an und möchte ihre Tochter zur heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd anmelden. Maria ist in der 3. Klasse einer Regelschule und ist dort durch ihr gehemmtes Verhalten und ihre Träumereien aufgefallen. Sie beteiligt sich nicht am Unterricht und spielt in den Pausen nicht mit den anderen Kindern. Ihre Schulleistungen sind mangelhaft. Im Unterricht schaut sie oft aus dem Fenster oder malt in ihrem Heft herum. Dabei scheint sie ganz in einer anderen Welt zu versinken. Sie ist sehr ängstlich und fürchtet sich davor, von den anderen Kindern geschubst zu werden. Im Sportunterricht traut sie sich die meisten Übungen nicht zu. Auch zu Hause ist sie sehr verträumt. Wenn sie Aufgaben erfüllt, dann nur sehr langsam und nach wiederholter Aufforderung durch ihre Mutter. Da die Mutter alleinerziehend ist und zwei weitere Kinder hat, wird sie oft ungeduldig mit Maria. Sie fühlt sich durch Marias Verhalten provoziert.
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Praxisbeispiel Maria: ein fiktives Praxisbeispiel in der heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd durch verschiedene Theoriebrillen betrachtet Ein Fall - viele Einfälle mup 1|2012|39-41|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel | 39 Eva Solmaz Fiktives Fallbeispiel Marias Mutter ruft bei Frau X. an und möchte ihre Tochter zur heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd anmelden. Maria ist in der 3. Klasse einer Regelschule und ist dort durch ihr gehemmtes Verhalten und ihre Träumereien aufgefallen. Sie beteiligt sich nicht am Unterricht und spielt in den Pausen nicht mit den anderen Kindern. Ihre Schulleistungen sind mangelhaft. Im Unterricht schaut sie oft aus dem Fenster oder malt in ihrem Heft herum. Dabei scheint sie ganz in einer anderen Welt zu versinken. Sie ist sehr ängstlich und fürchtet sich davor, von den anderen Kindern geschubst zu werden. Im Sportunterricht traut sie sich die meisten Übungen nicht zu. Auch zu Hause ist sie sehr verträumt. Wenn sie Aufgaben erfüllt, dann nur sehr langsam und nach wiederholter Aufforderung durch ihre Mutter. Da die Mutter alleinerziehend ist und zwei weitere Kinder hat, wird sie oft ungeduldig mit Maria. Sie fühlt sich durch Marias Verhalten provoziert. Beim Erstkontakt zeigt Maria sich sehr interessiert an den Pferden und möchte gleich ein Pferd putzen und reiten. Frau X. holt gemeinsam mit Maria den Haflingerwallach Max vom Auslauf. Max ist ein freundliches und ruhiges Pferd. Maria putzt ihn ausdauernd und gründlich. Dabei muss Frau X. sie aber immer wieder darauf aufmerksam machen, nicht nur an einer Stelle zu putzen. Den Vorschlag, eine andere Bürste zu benutzen, lehnt Maria ab. Max steht sehr still und scheint das Putzen zu genießen. Obwohl das Putzen sehr lange dauert, wird er nicht ungeduldig. Maria scheint keine Angst vor dem Pferd zu haben, doch sobald es sich bewegt, um eine Fliege zu verscheuchen, oder als er mit dem Huf scharrt, weil in der Nähe ein anderes Pferd gefüttert wird, springt sie erschrocken zur Seite. Als sie später auf das mit einem Voltigiergurt ausgerüstete Pferd aufsteigen soll, wirkt sie sehr unsicher. Sie klettert nur mit Hilfe ihrer Mutter auf die Aufstiegshilfe und wagt erst den Schritt von der Aufstiegshilfe auf den Pferderücken zu tun, als sie auf der einen Seite von der Mutter und auf der anderen Seite von einer Helferin gestützt wird. Dann wird sie auf Max eine Runde geführt. Dabei hält sie sich die ganze Zeit mit beiden Händen fest. Im Gespräch mit der Mutter erfährt Frau X., dass die Schwangerschaft mit Maria sehr schwer gewesen ist. Frau X. musste viel liegen, da sie Blutungen hatte. Auch die Geburt war problematisch. Maria musste mit einer Saugglocke geholt werden. Maria war kein Wunschkind. Die Ehe mit Marias Vater war schon sehr problematisch und kurz vor der Trennung, als Marias Mutter schwanger wurde. Maria lernte später laufen und sprechen als ihre älteren Geschwister, und allgemein erschien sie ihrer Mutter weniger intelligent als 40 | mup 1|2012 Praxisbeispiel: Solmaz - Maria: ein fiktives Praxisbeispiel in der heilpädagogischen Förderung 40 | mup 1|2012 Praxisbeispiel: Solmaz - Maria: ein fiktives Praxisbeispiel in der heilpädagogischen Förderung ihre Geschwister. Ansonsten verlief ihre Entwicklung aber normal, und der Mutter ist nichts weiter aufgefallen bis zu dem Zeitpunkt, als Marias Lehrerin sie angesprochen und ihr heilpädagogische Förderung mit dem Pferd für Maria vorgeschlagen hat. Aus Sicht der funktionalen Perspektive Um zu entscheiden, wie sie Maria helfen kann, verwendet Frau X. ihre beliebtesten Diagnoseinstrumente - die Theoriebrillen. Zuerst setzt sie sich die funktionale Brille auf. Was sie zu sehen bekommt, ist ein Kind mit einer minimalen hirnorganischen Funktionsstörung. Wahrscheinlich hat Maria die Schädigung im Laufe der problematischen Schwangerschaft oder der schwierigen Geburt erworben. Ihr verträumtes Verhalten und ihre Bewegungsunsicherheit, die sich insbesondere beim Aufsteigen auf das Pferd gezeigt hat, können Hinweise auf diese Funktionsstörung darstellen. Auch ihre verlangsamte Entwicklung im Vergleich zu ihren Geschwistern lässt sich so deuten. Nun führt Frau X. mehrere Tests mit Maria durch, um festzustellen, in welchen Bereichen Marias Schwächen liegen. Nachdem sie dies festgestellt hat, überlegt sie sich, durch welche Übungen Maria diese Defizite am besten aufholen kann und wie man die Bewegungs- und Wahrnehmungsreize, die das Pferd bietet, am besten für Maria nutzen kann. Diese Übungen verpackt sie dann in Spielangebote, die sie Maria in den Fördereinheiten präsentiert. In regelmäßigen Abständen kontrolliert Frau X., ob Maria das Förderziel erreicht hat und die Intervention erfolgreich war. Aus Sicht der erkenntnisstrukturierenden/ kompetenztheoretischen Perspektive Zur weiteren Diagnose setzt Frau X. ihre kompetenztheoretische Brille auf. Sie sieht ein Kind, das im Laufe seiner bisherigen Entwicklung nicht genügend Handlungs- und Wahrnehmungsmuster entwickelt hat. Frau X. erkennt das z. B. an Marias Schwierigkeit, auf das Pferd aufzusteigen, und daran, dass sie nur mit einer Bürste an der gleichen Stelle arbeiten will. Auf unerwartete Bewegungen des Pferdes kann sie nicht adäquat reagieren und erschreckt deshalb. Die neuen Bewegungsanforderungen überfordern sie, da sie nicht genügend flexible Muster zur Verfügung hat. Dadurch wird sie ängstlich und gehemmt. Sie traut sich im Sport nichts zu und spielt nicht mit den anderen Kindern, da sie durch ihre Defizite immer wieder aneckt und verunsichert wird. Um ihr zu helfen, gestaltet Frau X. die Fördereinheiten möglichst anregungsreich und bietet Maria somit viele Bewegungs- und Wahrnehmungsreize. Sie stellt ihr offene Bewegungsaufgaben, die unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten zulassen. So soll Maria ihr Spektrum an Bewegungs- und Wahrnehmungsmustern erweitern. Aus der sinnverstehenden Perspektive Seewald ist ein Begründer der sinnverstehenden Psychomotorik und Motologie (Seewald 2007). Die folgenden Ausführungen orientieren sich an seinen Arbeiten. Als Letztes setzt Frau X. noch ihre sinnverstehende Brille auf. Jetzt sieht sie zunächst einmal ein Mädchen, das Pferde liebt und sich daran freut, ihr Pferd ausgiebig zu pflegen. In der Putzsituation nimmt sie eine konzentrierte Atmosphäre wahr und spürt zum einen an ihrer eigenen Reaktion, dass diese Situation bedeutsam ist, zum anderen erkennt sie an dem entspannten Pferd und dem konzentrierten Ausdruck des Kindes, dass sich hier etwas Wichtiges für Maria abspielt. Im Nachhinein denkt sie, dass sie Maria nicht hätte drängen sollen, das Pferd überall zu putzen. Vielleicht hat sie damit die Kontaktaufnahme zwischen Maria und Max gestört. Als Maria sich beim Aufsteigen auf das Pferd so gehemmt verhält, spürt Frau X. Ungeduld in sich aufkommen. Darüber wird sie nach der Stunde noch einmal genauer nachdenken. Sie hat das Gefühl, Maria hat ein Problem damit, die Kontrolle aufzugeben und sich tragen und führen zu lassen. Dass Maria sich die ganze Zeit festhält, vermit- Praxisbeispiel: Solmaz - Maria: ein fiktives Praxisbeispiel in der heilpädagogischen Förderung mup 1|2012 | 41 Praxisbeispiel: Solmaz - Maria: ein fiktives Praxisbeispiel in der heilpädagogischen Förderung mup 1|2012 | 41 telt Frau X. das gleiche Gefühl. Sich tragen und schaukeln zu lassen scheint ihr unangenehm, sie kann sich auf den Bewegungsdialog nicht einlassen. Vielleicht kommt in diesem Verhalten ein wichtiges Lebensthema von Maria zum Ausdruck. Dass Maria ein ungewünschtes Kind ist und sie nach einer schweren Schwangerschaft in eine im Zerfall befindliche Ehe hineingeboren wurde, bestätigt diese Hypothese. Frau X. fragt sich bei der Schilderung der Schwangerschaft und der Geburt, ob dieses Thema vielleicht ein unverarbeitetes Entwicklungsthema von Maria sein könnte. In dem verträumten Verhalten vermutet Frau X. ein Autonomiebestreben von Maria. Vielleicht ist das ihre Form, sich Anforderungen zu widersetzen. Dass die Mutter sich provoziert fühlt, könnte darauf hinweisen. Frau X. wird in der nächsten Fördereinheit einen kleinen Geschicklichkeitsparcours aufbauen und als Spielanregung vorschlagen, mit Max in ein fremdes Land zu reisen. Sie ist gespannt, welche Spielhandlung sich daraus entwickeln wird. Frau X. denkt, dass die heilpädagogische Förderung mit dem Pferd für Maria sinnvoll sein könnte, da sie vermutet, dass ihre Themen etwas mit Vertrauen, sich halten und tragen lassen und mit gelungener bzw. misslungener Beziehung zu tun haben. Diese Themen können in der heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd zum Tragen kommen. Literatur ■ Seewald, J. (2007): Der Verstehende Ansatz in Psychomotorik und Motologie. Ernst Reinhardt, München / Basel Die Autorin Eva Solmaz Dipl. Sozialpädagogin, Zusatzausbildungen: Psychomotorik, Sportförderunterricht (FH Darmstadt) und Motopädagogik mit Kindern und Pferden (IGTR Marburg Wehrda), Ausbilderin für Reit- und Therapiepferde (IGTR Marburg Wehrda), Trekkingführerin (EDTC), DRA III (FN), von 2005 bis 2010 Reitpädagogin auf der Kinder- und Jugendfarm Darmstadt e. V. Anschrift : Eva Solmaz · Im Fiedlersee 37 · D-64291 Darmstadt evasolmaz@hotmail.com