mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Praxistipp: Übungskatalog für die Heilpädagogische Förderung mit dem Pferd bei Kindern mit Komplexer Behinderung
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Kathrin Schäffer
Anhand des nachfolgenden praxisbezogegenen "Übungskatalogs" sollen exemplarisch einige bewährte Positionierungs- und Lagerungsmöglichkeiten sowie Erfahrungs- und Erlebnisbereiche in der Förderung mit dem Pferd von Kindern mit Komplexer Behinderung aufgezeigt werden.
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Kathrin Schäffer Praxistipp Übungskatalog für die Heilpädagogische Förderung mit dem Pferd bei Kindern mit Komplexer Behinderung mup 3|2012|129-132|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel | 129 Anhand des nachfolgenden praxisbezogegenen „Übungskatalogs“ sollen exemplarisch einige bewährte Positionierungs- und Lagerungsmöglichkeiten sowie Erfahrungs- und Erlebnisbereiche in der Förderung mit dem Pferd von Kindern mit Komplexer Behinderung aufgezeigt werden. Methodische Prinzipien Das Setting innerhalb der konkreten Fördersituation mit dem Pferd entspricht bei dieser Zielgruppe in der Regel der im Frühförderbereich beschriebenen Form (Schulz 2005, 28; Struck / Gultom-Happe 2006, 31 f; Schulz 2009, 84). Das Pferd, ausgestattet mit Trense, Hilfszügeln, Gurt und (dünnem) Pad, wird dabei am geteilten Zügel geführt. Bei dieser Führform befindet sich der Pädagoge auf der linken, ein Helfer oder Elternteil auf der rechten Seite des Pferdes. Kommunikation und Sicherung gegenüber dem Kind werden somit erleichtert. Auch der Einsatz eines „Reitkissens“ hat sich bei Kindern dieser Zielgruppe in der Praxis bewährt. Um den Rücken des Kindes gelegt, erzeugt es eine Unterstützung der Rumpfstabilsation, um den Bauch gelegt, wirkt es einer zu starken Vorlage des Oberkörpers entgegen (Struck 2009, 106 f). (1) Unterschiedliche Liegepositionen Insbesondere zu Beginn der Förderung, im Falle (noch) unzureichender Kopf- und Rumpfkontrolle des Kindes, stellt zunächst das Liegen in Bauchlage eine sinnvolle Möglichkeit der Lagerung des Kindes auf dem Pferderücken dar (Hornácek 2004, 16). Bäuchlings auf dem Pferd liegend, erfährt das Kind anhand der Bewegungsübertragung über den Pferderücken und anknüpfend an die physiologische und frühe lokomotorische Entwicklung (Largo 2004, 27), Ganzkörpererfahrungen und Bewegungsmuster ähnlich des Kriechens und Krabbelns (Strauß 2008, 15). Die Entwicklung von „Hand-, Arm- und Kniestützfunktionen“ kann verbessert, eine eigenständige Kopfhaltung kann gefördert werden (ebd.). Mit dem Ziel der Vermittlung unterschiedlicher Wahrnehmungserfahrungen (u. a. im vestibulären, taktilen und vibratorischen Bereich) können im Verlauf der Förderung zudem weitere Liegepositionen hinzugezogen werden (z. B. das Liegen in Bauchlage seitlich über dem Pferd oder das Liegen in Rückenlage). Aufgrund des größeren Anspruchs bzgl. des Gleichgewichtes und der Wahrnehmung sollte dieses allerdings erst im späteren Förderverlauf eingesetzt werden (Hornácek 2004, 17). Zu beachten ist, dass Kinder mit einer ausgeprägten hypotonen Muskelspannung in der Position des Liegens teilweise zu sehr entspannen, so dass anschließend ein freies Sitzen nur schwerlich möglich ist (Tauffkirchen 2000, 129). Ein zu langes Liegen würde in diesem Fall eher kontraproduktiv wirken und sollte nur über einen kürzeren Zeitraum durchgeführt werden. 130 | mup 3|2012 Praxistipp: Schäffer - Übungskatalog für die Heilpädagogische Förderung mit dem Pferd (2) Unterschiedliche Sitzpositionen Ähnlich den beschriebenen Liegepositionen können auch in den verschiedenenen Sitzpositionen (Vorwärts-, Seit- und Rückwärtssitz) unterschiedliche Wahrnehmungs- und Bewegungserfahrungen vermittelt werden, welche u. a. Gleichgewicht, Koordination, Ganzkörperwahrnehmung sowie Raum-Lagebewusstsein ansprechen (Strauß 2008, 33). Obwohl im Hinblick auf die betreffende Zielgruppe ein eigenständiger Wechsel der Sitzposition nicht voraussgesetzt werden kann, können, wie bereits angesprochen, durch das Lehnen in eine bestimmte Richtung und Mithilfe beim Umdrehen, Eigeninitiative gezeigt sowie Selbstständigkeit und Selbstwirksamkeit erfahren werden. (3) Tempo- / Gangartenwechsel Zur Förderung von Rumpfstabilität, Koordination und Gleichgewicht bietet sich die Nutzung von Wechseln des Tempos innerhalb einer Gangart bzw. zwischen den einzelnen Gangarten an. Auch der Wechsel zwischen Anhalten und erneutem Antreten ist hier zu nennen. Anhand des Antretens des Pferdes durch die Bewegung nach vorne, erfährt das Kind einen Rückwärtsimpuls, im Anhalten einen Vorwärtsimpuls. Diese um ein Vielfaches stärkeren Vor- und Zurückbewegungen gegenüber der fließenden Schrittbewegung erfordern ein erhöhtes Maß an Gleichgewicht und Rumpfbalance seitens des Kindes (Strauß 2008, 40). Gleiches gilt für den Wechsel innerhalb bzw. zwischen zwei Gangarten. Zudem bieten sich zuweilen, abhängig von der Rumpf- und Kopfkontrolle des betreffenden Kindes, neben der Grundgangart Schritt auch kurze Trabreprisen von wenigen Tritten an, welche tonussteigernd wirken. (4) Einsatz von Materialien (auf dem Pferd) Im Hinblick auf eine erweiterte Förderung der taktilen, visuellen und auditiven Wahrnehmung, wie auch der Anregung von Bewegungslust und Eigeninitiative des Kindes, erscheint zusätzlich auch der Einsatz von verschiedenen bewusst ausgewählten Materialien sinnvoll. Durch Fröhlich (2003, 278) werden einige Grundkriterien und Mindestanforderungen der Auswahl geeigneter Materialien aufgeführt, die auch in der Förderung mit dem Pferd Gültigkeit besitzen. Dazu zählen „haptische Prägnanz“, „visuelle Eindeutigkeit“, „minimaler Krafteinsatz“ (d. h. die Bewegung des Gegenstandes und seiner beweglichen Teile muss leicht gängig sein), die „Ermöglichung einer Wenn-Dann-Erfahrung“, „Robustheit“ und die „Berücksichtigung des Hygieneaspekts“. In der Praxis haben sich diesbezüglich beispielsweise kleine unterschiedlich farbige Ringe oder Reifen, handliche Bälle aus unterschiedlichen Materialien (Schaumstoff-, Gummi- oder Igelbälle) sowie Putzzeug bewährt. Inbesondere Letzteres bietet zahlreiche verschiedene, in erster Linie aber taktile und visuelle Wahrnehmungsmöglichkeiten. Genutzt werden können z. B. unterschiedliche Bürsten, Gummistriegel mit verschieden großen Noppen, ein (Lammfell-) Putzhandschuh etc. (5) Einsatz von Materialien (auf dem Boden bzw. in der Reithalle) Weitere Materialien, die sich für den Einsatz für die entsprechende Zielgruppe als geeignet erwiesen haben, sind u. a. Pylonen zum „Slalomreiten“, Planen (vgl. Bild 1), Hindernisstangen oder „Dualaktivierungs-Schläu- Bild 1: Reiten über eine Plane Praxistipp: Schäffer - Übungskatalog für die Heilpädagogische Förderung mit dem Pferd mup 3|2012 | 131 che“. Letztere bieten neben dem zusätzlichen Bewegungsreiz durch das betonte Heben der Pferdebeine in der Regel auch einen akustischen Reiz, wenn das Pferd auf oder gegen die Schläuche tritt (vgl. Bild 2). Anhand des Einsatzes kleiner Pylonen können zudem gezielte Wendungen im Sinne eines „Slalomreitens“ oder Ähnliches initiiert werden (vgl. Bild 3). In Abhängigkeit vom Radius der angelegten Wendungen wirken neben der Fliehkraft der Vorwärtsbewegung auch „richtungsbestimmte Zentrifugal- und Zentripetalkräfte“, die eine erhöhte Anforderung an das Gleichgewicht und die Balance des Kindes darstellen (Strauß 2008, 40). Gleichsam erfolgen diese Wendungen unter Zuhilfenahme der „Hütchen“ nicht „einfach nur so“, sondern im direkten Sinnzusammenhang. Das Kind erfährt die höhere vestibuläre Anregung durch das Einleiten von Wendungen nicht „grundlos“, sondern in einem konkreten Handlungsfeld - „das Pferd geht um die Hütchen“. Denkbar ist auch, dass in Abhängigkeit von Schwere und Ausprägungsgrad der Beeinträchtigung eventuell ein Mithelfen beim Aufbau der Hütchen möglich wäre, beispielsweise durch den Transport der „Hütchen“ auf dem Pferd und das Anreichen an den Pädagogen oder Helfer. Der Einsatz der „Hütchen“ erhielte über die gemeinsame Beschäftigung somit auch einen kommunikativen Charakter. Eine weiterführende Möglichkeit des gezielten Einsatzes von Materialien stellt zudem die Unterbringung des Materials an bestimmten Stationen in der Reithalle dar, an denen das Pferd vorbei geführt wird. Im Sinne der Förderung von Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit könnte das Kind dazu angeleitet werden, eventuell durch Zeigen oder das Schauen in die entsprechende Richtung, eigene Wünsche hinsichtlich der Wahl der Materialien zu äußern. Unterstützt werden könnte dieses Vorgehen beispielsweise durch die Anwendung von entsprechend großen Farbfeldern (z. B. blau für die Stangen, rot für die „Hütchen“) und der Auswahl zwischen (zunächst lediglich) zwei Alternativen. Abschließend ist zu betonen, dass alle diese Übungsvorschläge stets als Angebote an das Kind heranzutragen sind. Der aktuellen Sichtweise des Kindes als „Akteur seiner eigenen Entwicklung“ entsprechend, ist der Pädagoge innerhalb des Beziehungsdreiecks zwischen Kind, Pferd und seiner selbst nicht „anordnende Instanz“ (Klüwer 2005, 9), sondern ist gefordert, das Erleben von Eigenaktivität, Eigeninitiative und Selbstwirksamkeit seitens des Kindes zuzulassen und zu fördern. Es geht weniger darum, isolierte Verhaltensweisen oder Fähigkeiten anzutrainieren, sondern Entwicklungsimpulse des Kindes in sensitiver Weise aufzugreifen, Bild 2: Slalomreiten Bild 3: Reiten über Hindernisse 132 | mup 3|2012 Praxistipp: Schäffer - Übungskatalog für die Heilpädagogische Förderung mit dem Pferd anzuerkennen und förderliche Bedingungen zu schaffen, welche diesen Impulsen entsprechen (Struck / Gultom-Happe 2006, 35). Dieses ist jedoch nicht misszuverstehen als ein Aufgeben der eigenen hohen pädagogischen Verantwortung, sondern als ein Zulassen von Bedürfnissen, Äußerungen und Entwicklungsimpulsen des Kindes innerhalb eines gesicherten und verantwortungsvollen Rahmens! Auch die Dauer einer Fördereinheit ist nur schwerlich festzulegen. Sie unterliegt maßgeblich der aktuellen Verfassung des Kindes. Aufgabe des Pädagogen ist es somit, bereits frühe Anzeichen von Müdigkeit wahrzunehmen und Überforderungen, welche unbewusst strafend wirken, zu vermeiden (Schulz 2009, 92). Trotz dieser geforderten Flexibilität kann jedoch ein ungefährer Richtwert von zwanzig Minuten angeben werden. Literatur ■ Fröhlich, A. (2003): Basale Stimulation: das Konzept. 4. Aufl. selbstbestimmtes Leben, Düsseldorf ■ Hornacék, K. (2004): Anwendung der Hippotherapie bei Säuglingen und Kleinkindern. In: Therapeutisches Reiten. Harmonie hilft heilen - Das Magazin des DKThR 2, 16-19 ■ Klüwer, C. (2005): Die spezifischen Wirkungen des Pferdes in den Bereichen des Therapeutischen Reitens. In: Deutsches Kuratorium für Therapeutisches Reiten (Hrsg.): Heilpädagogisches Voltigieren und Reiten - Grundlagen. 3. Aufl. Rolf Ehlers, Warendorf, 5-11 ■ Largo, R. H. (2004): Entwicklung der Motorik. In: Schlack, H. G. (Hrsg.): Entwicklungspädiatrie. Wichtiges kinderärztliches Wissen über die ersten 6 Lebensjahre. Hans Marseille, München, 23-34 ■ Schulz, M. (2005): Betrachtungen zu Dimensionen der Bewegung aus heilpädagogisch-psychomotorischer Sicht. In: Deutsches Kuratorium für Therapeutisches Reiten (Hrsg.): Heilpädagogisches Voltigieren und Reiten - Grundlagen -. 3. Aufl. Rolf Ehlers, Warendorf, 26-31 ■ Schulz, M. (2009): Heilpädagogischpsychomotorische Aspekte der vorschulischen Förderung mit Hilfe des Pferdes. In: Gäng, M. (Hrsg.): Ausbildung und Praxisfelder im Heilpädagogischen Reiten und Voltigieren. 4. Aufl. Ernst Reinhardt, München / Basel, 200-227 ■ Strauß, I. (2008): Hippotherapie. Physiotherapie mit und auf dem Pferd. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart ■ Struck, H., Gultom-Happe, T. (2006): Frühe Förderung mit Hilfe des Pferdes bei geistig behinderten und entwicklungsverzögerten Kindern. In: Kaune, W. (Hrsg.): Das Heilpädagogische Voltigieren und Reiten für Menschen mit geistiger Behinderung. 4. Aufl. FN, Warendorf, 22-46 ■ Struck, H. (2009): Praxistipp. „Reitkissen“ als Hilfsmittel in der Förderung und Therapie mit dem Pferd. mensch und pferd. Internationale Zeitschrift für Förderung und Therapie mit dem Pferd 2, 106-107 ■ Tauffkirchen, E. (2000): Kinder-Hippotherapie. In: Strauß, I. (Hrsg.): Hippotherapie. Neurophysiologische Behandlung mit und auf dem Pferd. 3. Aufl. Hippokrates, Stuttgart, 107-163 Die Autorin Kathrin Schäffer Jg. 1984; Dipl. Pädagogin, Voltigierpädagogin (DKThR), Zusatzqualifikation Sprachheilpädagogik (2010), seit 2003 beim Zentrum für Therapeutisches Reiten der Werkstätten der AWO Dortmund in Lünen Anschrift: Kathrin Schäffer · Dorneystr. 45 D-58454 Witten schaeffer.kathrin@gmx.de
