eJournals mensch & pferd international 4/4

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2012
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Auswirkungen der Reittherapie auf die psychische Befindlichkeit von Patienten mit neurologischen Erkrankungen

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2012
Julia Schmidt
Annette Gomolla
Die psychische Befindlichkeit von Patienten in der neurologischen Rehabilitation ist in Bezug auf den Therapieerfolg eine beachtenswerte Variable. Es wurde in der Untersuchung der Frage nachgegangen, ob die Reittherapie als ergänzendes Verfahren die Befindlichkeit neurologischer Patienten in der Rehabilitation verbessern kann. 22 Patienten aus der neurologischen Rehabilitation wurden mit Hilfe der Befindlichkeitsskala von Zerssen (1976) vor und nach der Reittherapie befragt. Die Patienten zeigten eine signifikante Verbesserung in ihrer psychischen Befindlichkeit nach der Reittherapie, so kann sie als sinnvolles ergänzendes Therapieverfahren in der neurologischen Rehabilitation eingesetzt werden und zur psychischen Stabilisierung der Patienten beitragen.
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148 | mup 4|2012|148-152|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378/ mup2012.art07d Julia Schmidt, Annette Gomolla Schlüsselbegriffe: neurologische Rehabilitation, ergänzende Therapieverfahren, psychische Befindlichkeit, pferdegestützte Therapie, Reittherapie Die psychische Befindlichkeit von Patienten in der neurologischen Rehabilitation ist in Bezug auf den Therapieerfolg eine beachtenswerte Variable. Es wurde in der Untersuchung der Frage nachgegangen, ob die Reittherapie als ergänzendes Verfahren die Befindlichkeit neurologischer Patienten in der Rehabilitation verbessern kann. 22 Patienten aus der neurologischen Rehabilitation wurden mit Hilfe der Befindlichkeitsskala von Zerssen (1976) vor und nach der Reittherapie befragt. Die Patienten zeigten eine signifikante Verbesserung in ihrer psychischen Befindlichkeit nach der Reittherapie, so kann sie als sinnvolles ergänzendes Therapieverfahren in der neurologischen Rehabilitation eingesetzt werden und zur psychischen Stabilisierung der Patienten beitragen. Auswirkungen der Reittherapie auf die psychische Befindlichkeit von Patienten mit neurologischen Erkrankungen Schmidt, Gomolla - Auswirkungen der Reittherapie auf die psychische Befindlichkeit mup 4|2012 | 149 Bei Patienten in der neurologischen Rehabilitation steht die körperliche Funktionsfähigkeit im Vordergrund, jedoch darf der individuelle Leidensdruck und das psychische Befinden nicht übersehen werden. Bei fast 50 % der ambulant betreuten neurologischen Patienten besteht eine Morbidität zur Ausprägung eines psychischen Störungsbildes (Krzovska 2009). Bei an Multipler Sklerose Erkrankten kommt es in etwa einem Viertel der Fälle zu Depressionen, bei Epilepsie-Patienten treten Depressionen sogar fast in 40 % der Fälle auf (Krzovska 2009). Starkstein und Robinson (1989) fanden heraus, dass Depressionen bei bis zu 50 % der Patienten während der akuten Schlaganfallsphase auftreten, und weitere 30 % der Patienten eine Depression in den zwei auf den Schlaganfall folgenden Jahren entwickeln. In einer Stichprobe von 80 neurologischen Patienten, die sich in der akuten Schlaganfallsphase befanden, zeigten 28 % eine Generalisierte Angststörung (GAS), welche auch in den folgenden drei Jahren keine signifikante Abnahme zeigte (Aström 1996). Weitere Studien ließen erkennen, dass zum einen das psychische Wohlbefinden neurologischer Patienten im Vergleich zu anderen Patientengruppen geringer ausgeprägt ist (Pusswald u. a. 2009) und zum anderen die Lebensqualität als deutlich gemindert angegeben wird (Haupts u. a. 2003). In der neurologischen Rehabilitation werden Therapieverfahren angewandt, die vorrangig auf die körperliche Funktionsverbesserung abzielen. Sinnvollerweise werden sie durch Angebote begleitet, die das psychische Befinden und comorbide psychische Störungen der Patienten beachten. Als ergänzendes Therapieangebot werden auch in der neurologischen Rehabilitation pferdegestützte Interventionen eingesetzt. Hierunter fallen die Hippotherapie - mit einem Fokus auf der funktionellen Verbesserung durch das Reiten im Schritt - und die Reittherapie, welche durch verschiedene Angebote mit und auf dem Pferd die psychische Seite des Klienten in den Vordergrund rückt. In der Reittherapie wird folglich durch die Begegnung mit dem Lebewesen und der Beziehungsgestaltung bei vielen Patienten eine hohe Motivation angeregt, an der Maßnahme teilzunehmen. Das ist insbesondere für therapiemüde Personen von großer Bedeutung. Auf dem Pferd werden die unterschiedlichen Schwingungsimpulse in den Gangarten Schritt und Trab für eine körperliche und seelische Entspannung und Lockerung aber auch zur Aktivierung genutzt (Gomolla u. a. 2011). Bei Übungen an und auf dem Pferd (z. B. dem Liegen über die Kruppe) werden die Patienten auf die Wahrnehmung ihrer körperlichen und seelischen Empfindungen gelenkt und beim Führen und Reiten des Pferdes in ihrer Selbstwirksamkeit bestärkt. Somit ist die Reittherapie als Maßnahme anzusehen, die die Patienten auf körperlicher und psychischer Ebene unterstützt. Als Indikationen für die Reittherapie werden bei neurologischen Patienten genannt: geringes Körpergefühl, Körperschemastörungen, Ängste, Depression, sozialer Rückzug, Selbstunsicherheit und geringe Therapiemotivation. Für die Durchführung sind von Seiten der Patienten keine Vorkenntnisse im Reiten oder im Umgang mit dem Pferd erforderlich. Die Reittherapie ist in der neurologischen Rehabilitation kein Novum. Bereits seit 1988 wurden im HELIOS Rehazentrum Bad Berleburg, der Odebornklinik, in einer eigens dafür erstellten Reitanlage, unterschiedliche Angebote der pferdegestützten Therapie für Patienten gemacht. In der vorliegenden Studie sollte überprüft werden, ob sich durch reittherapeutische Angebote die psychische Befindlichkeit bei Patienten in der neurologischen Rehabilitation verbessern Als ergänzendes Therapieangebot werden auch in der neurologischen Rehabilitation pferdegestützte Interventionen eingesetzt. 150 | mup 4|2012 Schmidt, Gomolla - Auswirkungen der Reittherapie auf die psychische Befindlichkeit lässt. Es wurde für die Untersuchung von einer signifikanten Verbesserung der Befindlichkeit nach einer reittherapeutischen Einheit ausgegangen. Methode Die Erhebung wurde im August und September 2010 im Zentrum für therapeutisches Reiten der Odebornklinik durchgeführt, welches an das HELIOS Rehazentrum in Bad Berleburg angegliedert ist. Es stehen sieben speziell ausgebildete Therapiepferde zur Verfügung. Die Reittherapie wird ausschließlich für die gehfähigen Patienten, die eigenständig auf dem Pferd sitzen können, angeboten. Die Patienten kommen zwei Mal in der Woche zur Reittherapie, welche in Zweierbis Fünfergruppen stattfindet. Jeder Patient erhält einen Pferdeführer, ein Therapeut leitet die Gruppe an. Während der Reittherapie werden unterschiedliche Aufgaben gestellt, durch die der Patient eine Beziehung zum Pferd und zum Therapeut aufbauen, und wodurch er die vorher formulierten Therapieziele erreichen kann. Dazu gehören in erster Linie Beziehungs- und Entspannungsübungen auf dem geführten Pferd in der Reithalle oder im Gelände. Eine reittherapeutische Einheit dauert in der Regel 45 Minuten. Die Auswirkung der Reittherapie auf die psychische Befindlichkeit der Patienten wurde mittels der Befindlichkeitsskala (BFS) nach v. Zerssen (1976) überprüft. Diese klinische Selbstbeurteilungsskala dient der Erfassung der momentanen, subjektiven Befindlichkeit. Sie besteht aus 28 Testitems, die jeweils ein Paar gegensätzlicher Eigenschaftswörter enthalten. Der Wahl des positiven Eigenschaftsworts werden null Punkte, dem negativen zwei Punkte, und der „weder-noch“-Option wird ein Punkt zugeordnet. Der Minimalwert (Rohwert von 0) steht für ausgesprochenes Wohlbefinden, und der Maximalwert (Rohwert von 56) steht für hochgradiges Missbefinden. Gerechnet wurde mit den jeweiligen Standard-T-Werten. Ein hoher Wert bedeutet eine negative Befindlichkeit. Der Fragebogen BF-S und BF-S’ wurden unmittelbar vor und nach der Reittherapieeinheit von den Patienten ausgefüllt. Die Gütekriterien sind sehr zufriedenstellend mit einer internen Konsistenz / Paralleltest-Reliabilität von.90 und Validitätsmaßen von 0.96. Stichprobe Die Teilnehmerzahl betrug n=22 (13 Frauen und 9 Männer). Die Teilnehmer waren zwischen 23 und 64 Jahre alt (MW=48,77; SD=11,04) und zum Erhebungszeitpunkt gehfähige neurologische Patienten der Odebornklinik. Folgende neurologische Krankheitsbilder lagen bei den Patienten vor: Schlaganfall (n=10), Hirnstamminfarkt (n=1), Hirnoperationen (n=5), Hirnblutungen (n=1), Multiple Sklerose (MS) (n=1), intramedulläres Cavernom und Brown-Séquard- Syndrom (n=1), Wernicke-Enzephalopathie (n=1), Hereditäre motorische und sensorische Neuropathie (HMSM) (n=1) und Guillain-Barré-Syndrom (GBS) (n=1). Als Zusatzdiagnosen wurden angegeben: Schwindel (n=7), Depression (n=5), emotionale Instabilität (n=1), Angststörung (n=4), Gleichgewichtsstörungen (n=1), Ataxie (n=4), erhöhte Stressreagibilität (n=1), Psychosyndrom (n=2). Alle Patienten hatten einen Verbal-IQ von mindestens 80. Die durchschnittliche von den Teilnehmern durchgeführte reittherapeutische Stundenanzahl betrug 7.73 Stunden (SD=4.344). Der Erhebungszeitpunkt für die Untersuchung lag im Schnitt in der 4. Therapieeinheit (MW=3.86; SD=3.27). Statistische Analyse Die statistischen Analysen wurden mit SPSS Statistics19 für Windows durchgeführt. Neben der deskriptiven Die Auswirkung der Reittherapie auf die psychische Befindlichkeit der Patienten wurde mittels der Befindlichkeitsskala überprüft. Schmidt, Gomolla - Auswirkungen der Reittherapie auf die psychische Befindlichkeit mup 4|2012 | 151 Statistik wurden zur Überprüfung der Prä-post- Unterschiede als nichtparametrischer Test der Wilcoxon-Vorzeichen-Rang-Test für verbundene Stichproben, berechnet. Das Signifikanzniveau lag hierbei bei α =.05. Ergebnisse Der Mittelwert der Standard T-Werte lag vor der Therapieeinheit bei 48.5 (SD=15,56) und nach der Therapieeinheit bei 41.9 (SD=8,1) (p=.01). Bei der Untergruppe der Patienten mit Zusatzdiagnose Angst oder Depression (n=9) lag der Mittelwert der Standard T-Werte vor der Therapieeinheit bei 55.59 (SD=21,18) und nach der Therapieeinheit bei 45.83 (SD=10.03) (p=.028). Für die gesamte Patientengruppe sowie für die Untergruppe der ängstlichen und depressiven Patienten lag somit ein signifikanter Unterschied der Mittelwerte vor und nach der reittherapeutischen Intervention vor (vgl. Abb. 1). Unterschiede zwischen Männern und Frauen konnten nicht gefunden werden. Diskussion Die Ergebnisse zeigen auf, dass sich die Reittherapie positiv auf die momentane psychische Befindlichkeit von neurologischen Patienten auswirkt. Die Patienten gaben nach einer therapeutischen Einheit ein signifikant höheres Wohlbefinden als vor der Einheit an. Dies gilt auch für die besondere Untergruppe der Patienten mit einer zusätzlichen Angststörung oder Depression, die häufig eine geringe Therapiemotivation aufweisen und durch ihre zusätzliche Symptomatik einen schwierigeren Heilungsprozess durchlaufen. Sie hatten zu Beginn der Einheiten eine schlechtere Verfassung im Vergleich zur Gesamtpatientengruppe, zeigten dann aber ebenso eine deutliche Verbesserung ihrer Befindlichkeit. Der Unterschied könnte gegebenenfalls noch deutlicher ausfallen, wäre eine größere Gruppe von Patienten befragt worden. Die Erkenntnis einer Steigerung der psychischen Befindlichkeit durch die reittherapeutische Intervention kann genutzt werden, um die Therapiegestaltung zu optimieren. Besonders bei therapiemüden Patienten oder Personen mit geringer Motivation und gedrückter Stimmung kann ein pferdegestütztes Angebot zur Steigerung der Befindlichkeit beitragen, so dass die Patienten von anderen Therapien besser profitieren können. Die Erhöhung der Befindlichkeit kann somit für den gesamten Rehabilitationsprozess genutzt werden. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit und die Abstimmung der einzelnen Therapieverfahren aufeinander sind dabei entscheidend. So kann die Reittherapie als sinnvolles, unterstützendes Therapieverfahren in der Rehabilitation neurologischer Patienten angesehen werden. Die Studie trägt mit ihrem Ergebnis einen kleinen Baustein zum Verständnis der Wirksamkeit der Reittherapie bei. Leider wurden die Patienten nicht über längere Zeiträume befragt, so dass die Befindlichkeit über einen gesamten Abbildung 1: Mittelwerte der Befindlichkeitsskala vor und nach der Reittherapie, getrennt für alle Patienten und die Gruppe der Ängstlichen / Depressiven. 60 55 50 45 40 35 30 25 20 prä post gesamt ängstlich / depressiv p=.01 p=.028 Die Reittherapie kann als sinnvolles, unterstützendes Therapieverfahren in der Rehabilitation neurologischer Patienten angesehen werden. 152 | mup 4|2012 Schmidt, Gomolla - Auswirkungen der Reittherapie auf die psychische Befindlichkeit Therapieverlauf nicht aufgezeigt werden kann. Weiterhin wäre eine Vergleichsgruppe von Interesse, die eine andere Art von Freizeit- oder Therapieaktivität durchführt, um einen Vergleich zur reittherapeutischen Arbeit zu ziehen. Daraus ergibt sich, dass in weiteren Studien die Steigerung der Befindlichkeit durch die Reittherapie im langfristigen Verlauf erhoben werden sollte. Weiterhin könnten an einer größeren Stichprobe der Effekt der Reittherapie für bestimmte Untergruppen von Patienten sowie die Auswirkungen auf die Motivation der Patienten im Vergleich zu anderen Interventionen erfragt werden. Literatur ■ Åström, D. (1996): Generalized Anxiety Disorder in Stroke Patients. Stroke, 27, 270-275 ■ Gomolla, A., Appelles, L., Fischer, J. (2011): Auswirkungen der Bewegungsimpulse vom Pferd auf den Reiter. Poster. Great, www.great-horses. org / pages / de / aktivitaeten / publikationen php. html, 10.05.2012 ■ Haupts, M., Elias, G., Hardt, C., Langenbahn, H. (2003): Lebensqualität bei Patienten mit schubförmiger MS in Deutschland. Der Nervenarzt 74 (2), 144-150 ■ Krzovska, M. (2009): Basics Neurologie. Vollständige überarbeitet Auflage, München ■ Pusswald, G., Fleck, M., Haubenberger, D. (2009): Subjektives Wohlbefinden bei Morbus Parkinson. Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie 38 (2), 100-107 ■ Starkstein, S. G., Robinson, R. G. (1989): Affective disorders and cerebral vascular disease. The British Journal of Psychiatry 154, 170-182 ■ Zerssen, D. v. (1976): Die Befindlichkeitsskala Manual. Parallelformen BF-s und BF-S’. Hogrefe, Weinheim Die Autorinnen Julia Schmidt Dipl. Sozialpädagogin (FH), Reittherapeutin (IPTh), Erlebnispädagogin, Kulturpädagogin, arbeitet seit 2005 in der klinikeigenen Reitanlage des HELIOS Rehazentrums in Bad Berleburg mit neurologischen und psychosomatischen / psychiatrischen Patienten. Dr. rer. nat. Annette Gomolla Dipl. Psychologin, Leiterin des Fort- und Weiterbildungsinstituts für Pferdegestützte Therapie - IPTh in Konstanz sowie Geschäftsführung bei GREAT. Sie beschäftigt sich seit nunmehr zehn Jahren mit der Pferdegestützten Therapie in Praxis und Wissenschaft. Anschrift: Julia Schmidt · Pulvermühle 3 · D-57319 Bad Berleburg · 02759-2140005 Freklea@gmx.de Dr. Annette Gomolla · German Research Center for Equine Assisted Therapy (Great) · Robert-Gerwig-Str. 12 · D-78567 Konstanz · info@great-horses.de