eJournals mensch & pferd international 4/1

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2012
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Die Basispassprüfung "Pferdekunde" für Menschen mit geistiger / psychischer Behinderung

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2012
Kathrin Schäffer
Pauline Demory
Warum sollte eine Basispassprüfung mit Teilnehmern dieser Zielgruppe durchgeführt werden? Bedenkt man die Anstrengung und den Stress, den solch eine Prüfung bedeutet, und zieht man zudem in Betracht, dass für die meisten Menschen Reiten eine Freizeitaktivität ist, die Spaß machen soll, so scheint diese Frage berechtigt. Tatsächlich hat das Projekt unseren Teilnehmern einiges an Lernen, Konzentration und Durchhaltevermögen abverlangt. Gewiss gab es auch einige schlaflose Nächte und ziemlich viel "Bammel" vor dem Tag X. Dennoch sind wir uns alle einig, Teilnehmer und Leiterinnen, dass dieses Ereignis mitsamt seinen Vorbereitungen unbedingt lohnend und nachahmenswert ist.
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24 | mup 1|2012|24-28|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel Kathrin Schäffer, Pauline Demory Forum Die Basispassprüfung „Pferdekunde“ für Menschen mit geistiger/ psychischer Behinderung Ein Erfahrungsbericht über die Vorbereitung und die Teilnahme Warum sollte eine Basispassprüfung mit Teilnehmern dieser Zielgruppe durchgeführt werden? Bedenkt man die Anstrengung und den Stress, den solch eine Prüfung bedeutet, und zieht man zudem in Betracht, dass für die meisten Menschen Reiten eine Freizeitaktivität ist, die Spaß machen soll, so scheint diese Frage berechtigt. Tatsächlich hat das Projekt unseren Teilnehmern einiges an Lernen, Konzentration und Durchhaltevermögen abverlangt. Gewiss gab es auch einige schlaflose Nächte und ziemlich viel „Bammel“ vor dem Tag X. Dennoch sind wir uns alle einig, Teilnehmer und Leiterinnen, dass dieses Ereignis mitsamt seinen Vorbereitungen unbedingt lohnend und nachahmenswert ist. So entstand die Initiative größtenteils bei den Teilnehmern selbst, eine Basispassprüfung absolvieren zu wollen. Die Motivation bestand hierbei in dem Wunsch, „eine Urkunde zu bekommen“ und somit einen Beweis für die eigene Leistungsfähigkeit und Kompetenz zu erhalten. Aus pädagogischer Sicht konnten die Teilnehmer durch die intensive Auseinandersetzung mit den Prüfungsthemen ihre theoretischen und praktischen Kenntnisse rund ums Pferd enorm erweitern, was einen deutlichen Gewinn an Sicherheit und Selbstbewusstsein mit sich brachte. Durch das „Pauken“ des theoretischen Stoffs wurden Gedächtnis und abstraktes Denken gefördert. Für viele bedeutete die Anmeldung zur Prüfung auch eine Auseinandersetzung mit Ängsten und dem Vertrauen in die eigene Leistung, welches durch erfolgreiches Bestehen stark gehoben wurde. Und nicht zuletzt erwies sich der Prüfungstag, an dem Behinderte und Nichtbehinderte gemeinsam fieberten, als ein Stück gelebter Integration. Die Rahmenbedingungen Im Hinblick auf die Zielgruppe ist es wichtig, folgende Bedingungen und Voraussetzungen im Vorfeld zu überprüfen: 1. Die Betreuung Hat die verantwortliche Voltigier- / Reitpädagogin Zeit, die aufwändigen Vorbereitungen und Theorieeinheiten zu betreuen? Wenn es nicht möglich ist, zusätzliche Zeit einzuplanen, muss den Teilnehmern klar sein, dass ein Teil ihrer Reitzeit für theoretischen Unterricht verwendet wird. Ist es möglich, zwischen den Einheiten den Stoff mit den Teilnehmern ausreichend zu wiederholen? Gibt es vielleicht jemanden von außerhalb oder hat die Reitpädagogin selbst Zeit dafür? Alleine zu üben würde viele Teilnehmer überfordern. 2. Die Räumlichkeiten Sind Räumlichkeiten vorhanden, in denen ungestörter theoreti- Forum: Schäffer, Demory - Die Basispassprüfung „Pferdekunde“ mup 1|2012 | 25 Wiederholungen. Bei wöchentlichen Einheiten ist eine Zeitspanne von sechs Monaten ein Minimum. Die Methodik Auch wenn der Basispass als „kinderleicht“ gilt: wenn man sich mit den Lerninhalten unter dem Aspekt auseinandersetzt, sie Menschen mit einer geistigen Behinderung vermitteln zu wollen, ist festzustellen, dass sie sehr umfangreich und komplex sind. Dementsprechend muss der Stoff reduziert und vereinfacht und die theoretischen Elemente müssen, wo immer es geht, in der Praxis veranschaulicht werden. Es gilt gleichzeitig relevante Fachbegriffe wie z. B. Gamaschen, Kraftfutter etc. zu vermitteln als auch den Lernstoff auf ein überschaubares Maß zu reduzieren. Wichtig ist bei dieser Gratwanderung stets die Vermittlung eines logischen, nachvollziehbaren Zusammenhangs. So lassen sich Kenntnisse über Fütterung, Haltung, Gesundheit, Umgang etc. auf die natürlichen Grundbedürfnisse des Pferdes als Flucht-, Herden- und Bewegungstier zurückführen und daran erklären. scher Unterricht stattfinden kann? Ein beheizter Raum mit ausreichend Platz, Tischen und Stühlen ist Voraussetzung, um in Ruhe die verschiedenen Materialien zu bearbeiten. 3. Das Pferd Ein ausgebildetes Therapiepferd ist Voraussetzung für das Reiten. Aber trauen sich auch alle Teilnehmer, es alleine zu führen, es in den Stall zu bringen, ihm selbständig die Hufe auszukratzen etc.? Da in der Prüfung nicht geritten wird, kann ein braves Pony zum Üben und Vorführen eventuell geeigneter sein als ein Großpferd. 4. Die Teilnehmer Ist die Gruppe eher homogen oder gibt es große Abweichungen bezüglich kognitiver / körperlicher Einschränkungen? Kennen die Teilnehmer sich gut? Helfen sie sich gegenseitig? Zum Erlernen theoretischer Inhalte sind ein gewisses abstraktes Denkvermögen und die Fähigkeit zu Transferleistungen nötig. Lesen zu können ist keine Voraussetzung, hat sich allerdings als großer Vorteil erwiesen. Teilnehmer, die nicht lesen können, sind in noch viel höherem Maße auf Betreuung und Unterstützung sowie alternative Unterrichtsmethoden angewiesen. Sind wirklich alle Gruppenmitglieder den Anforderungen gewachsen, oder gibt es auch welche, die nur mitmachen, weil alle es tun? Die Motivation und die Fähigkeiten der Einzelnen sind sehr genau zu überprüfen, um spätere Enttäuschungen zu vermeiden. 5. Die Vorbereitungszeit Ist ausreichend Zeit vorhanden? Wenn Prüfungen und Theorieunterricht in „regulären / normalen“ Reitvereinen ausgeschrieben werden, richten sich die Fristen nach den Bedürfnissen Nichtbehinderter. Menschen mit geistigen / psychischen Beeinträchtigungen brauchen aufgrund ihrer kürzeren Aufmerksamkeitsspanne und ihrer eingeschränkten Aufnahmefähigkeit eine viel längere Vorbereitungszeit, kürzere Lerneinheiten und häufige Bild 1: Praxisübung Pferdeknoten 26 | mup 1|2012 Forum: Schäffer, Demory - Die Basispassprüfung „Pferdekunde“ Beim Thema Fütterung kann beispielsweise auf genaue Kilo- und Mengenangaben verzichtet werden. Auch können wichtige Informationen über Futter und Fütterungsregeln vom natürlichen Ernährungsverhalten des Pferdes abgeleitet werden. Folgende Aspekte bildeten unsere Kriterien für die Auswahl und Reduzierung der einzelnen Lernthemen: ■ Anschaulichkeit und Praxisbezug: Welches Wissen ist für die Teilnehmer in der Praxis unmittelbar nachvollziehbar bzw. kann am Pferd oder im Stall direkt wahrgenommen und ausprobiert werden? ■ Praxisrelevanz: Welche Relevanz hat das Wissen für den einzelnen Teilnehmer im Umgang mit dem Pferd sowie beim Reiten / Voltigieren? Kann das Wissen durch den Teilnehmer auch nach der Prüfung angewendet werden? ■ Persönliche Relevanz: Welche persönliche Bedeutung hat das Wissen für den einzelnen Teilnehmer und seine Beziehung zum Pferd? Bestehen konkrete Fragen oder ein gesondertes Interesse an einzelnen Lernthemen? ■ Persönlichkeitsfördernde Bedeutung: Steigert das erlernte Wissen Selbstvertrauen und Eigenständigkeit des Teilnehmers? Oder entsteht eher ein gegenteiliger Effekt? Zu viel „Lernstoff“ kann leicht auch zu Verunsicherung und Verwirrung führen! Didaktik Folgende Vorgehensweisen haben sich als sinnvoll erwiesen, sich mit einem Thema in diesem Sinne auseinanderzusetzen: 1. Sinnliches Erfassen Insbesondere für Menschen mit geistigen Behinderungen hat sich gerade das eigene sinnliche Erfassen als eine tolle Möglichkeit der Vermittlung von theoretischem und praktischem Wissen erwiesen. Dazu gehört beispielsweise, harte und weiche Putzbürsten fühlen und kennen zu lernen - harte Bürsten für den groben Schmutz, weiche Bürsten für den feinen Staub - oder anhand von Aussehen, Geruch und Farbe verschiedene Futtersorten (Heu, Stroh, Hafer) unterscheiden zu lernen. Bild 2: Führübungen in der Reithalle Bild 3: Kennenlernen verschiedener Futtersorten Forum: Schäffer, Demory - Die Basispassprüfung „Pferdekunde“ mup 1|2012 | 27 2. Arbeitsblätter Zum Wiederholen zur Theorie hat es sich als sinnvoll erwiesen, Arbeitsblätter mit wenig Text und vielen anschaulichen Darstellungen selbst zu erstellen. Das eigene Lehrmaterial kann auf den Unterrichtsinhalt und die Fähigkeiten der Teilnehmer abgestimmt werden, z. B. mit Fotos vom eigenen Pferd, Bilder zum Selberbeschriften bzw. Ausmalen. Grundlage und Orientierungshilfe bieten Unterrichtsmaterialien des FN-Verlages und anschaulich gestaltete Übungsbücher zum Thema. 3. Fachbegriffe-Kartei Als Ergänzung zu den Arbeitsblättern kann gemeinsam mit den Teilnehmern ein Karteikasten erstellt werden. In Gruppen- oder Einzelarbeit werden passend zum aktuell behandelten Prüfungsthema Karteikarten mit einzelnen Begriffen und den dazugehörigen Erklärungen beschriftet, beklebt oder bemalt. Der Karteikasten stellt sowohl für die Vertiefung des Lernstoffs als auch für die abschließende Prüfungsvorbereitung ein tolles Nachschlagewerk dar. 4. Klebezettel Das Anbringen kleiner beschrifteter Klebezettel an Ausrüstungsgegenständen und am Pferd selbst bietet eine effektive Methode, Gelerntes zu überprüfen und zu vertiefen. Ziel ist auch hier eine intensive Auseinandersetzung mit den Lerninhalten. Je nach Gruppenzusammensetzung ist es wünschenswert, dass sich die Teilnehmer untereinander beraten und unterstützen, um z. B. fehlende Lesekompetenzen auszugleichen. Die Prüfung Am Prüfungstag selbst ist unbedingt sicherzustellen, dass die Teilnehmer von Anfang bis Ende einen vertrauten Ansprechpartner an ihrer Seite haben - am besten natürlich die Reitpädagogin selbst. Dies zu bedenken ist insbesondere dann wichtig, wenn die Prüfung in einem großen Rahmen stattfindet und sich über mehrere Stunden, eventuell sogar den ganzen Tag, hinzieht. Falls die Prüfung nicht ausdrücklich in einem integrativen Kontext stattfindet, sollten die Richter kurz über ihre Kandidaten informiert werden. Wie bei anderen Prüflingen auch, ist es nett, wenn Angehörige, Freunde oder Betreuer zur moralischen Unterstützung vorbeischauen! Fazit In jedem Fall ist eine Basispassprüfung eine aufwändige Sache, die Zeit und Engagement kostet. Wer sich mit seiner Reitgruppe Bild 4: Die Fachbegriffe-Kartei Bild 5: Gemeinsames Anbringen von Klebezetteln am Pferd 28 | mup 1|2012 Forum: Schäffer, Demory - Die Basispassprüfung „Pferdekunde“ auf diesen Weg macht, muss sich darauf einstellen, eigenes Durchhaltevermögen, Kreativität und viel persönlichen Enthusiasmus mitzubringen. Die Teilnehmer sollten von sich aus motiviert sein. Es hat keinen Zweck, jemanden zu einer solchen Unternehmung zu überreden. Wenn die Gruppe gut zusammenarbeitet, das Leistungsniveau ungefähr gleich ist und alle Spaß an der Sache haben, dann ist eine Basispassprüfung für Menschen mit geistiger / psychischer Behinderung ein sehr schönes, persönlichkeitsstärkendes Erlebnis. Und die ausgehändigte Urkunde steht als greifbares, für alle sichtbares Zeugnis der eigenen Fähigkeit und Kompetenz. Die Autorinnen Kathrin Schäffer Dipl. Pädagogin, Voltigierpädagogin DKThR Pauline Demory Dipl. Sozialpädagogin, Reitpädagogin SG-TR, selbständige Reittherapeutin seit 2005 Anschriften: Kathrin Schäffer · Dorneystr. 45 D-58454 Witten · 0171-7470492 schaeffer.kathrin@gmx.de Pauline Demory · Am Jägerhaus 19 · D-48291 Telgte 02504-932700 · p.demory@yahoo.de