eJournals mensch & pferd international 4/2

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Praxistipp: "Hab meinen Wagen voll geladen." Der Einsatz der Kutsche in der pferdegestützten Pädagogik und Therapie

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Monika Kreß
Ausgangslage: Peter nimmt seit sieben Jahren regelmäßig und mit großer Begeisterung an der Reittherapie teil. Er ist inzwischen 65 Jahre alt und leidet an einer schizophrenen Psychose mit starker Intelligenzminderung. Vor allem das Reiten auf "seinem" Pferd war für ihn ein wichtiger Bestandteil der therapeutischen Stunden. Seit Herbst darf P. nicht mehr reiten, da eine starke Arthrose im Lendenwirbelbereich sowie Gicht diagnostiziert wurde. Sarah ist 21 Jahre alt, lebt in einer betreuten Wohngruppe für geistig behinderte Menschen und nimmt regelmäßig an einer Gruppentherapie mit fünf weiteren Bewohnern teil. Sie hat eine schwere Herzerkrankung und große Angst, auf dem Pferd zu sitzen. Deswegen kann sie an gemeinsamen Wanderungen mit dem Pferd im Rahmen der Gruppentherapie nicht teilnehmen, bei welchen ein Teil der Gruppe läuft und jeweils zwei Personen reiten können. Franziska ist 25 Jahre alt und leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Von Kindheit an war es ihr größter Wunsch, reiten zu lernen. Ihre starke Adipositas mit 150 kg Körpergewicht macht dies aber unmöglich. Diese und viele weitere Fallbeispiele mit ähnlicher Problematik sind in der Praxis des heilpädagogischen und therapeutischen Reitens alltäglich und vielen Reitpädagogen bekannt. Als Lösung des Problems der mangelnden Mobilität und als Alternative zum Reiten entstand in unserem Betrieb die Idee, eine Kutsche im Rahmen der therapeutischen Einheiten einzusetzen.
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Monika Kreß 88 | mup 2|2012|88-92|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel Ausgangslage Peter nimmt seit sieben Jahren regelmäßig und mit großer Begeisterung an der Reittherapie teil. Er ist inzwischen 65 Jahre alt und leidet an einer schizophrenen Psychose mit starker Intelligenzminderung. Vor allem das Reiten auf „seinem“ Pferd war für ihn ein wichtiger Bestandteil der therapeutischen Stunden. Seit Herbst darf P. nicht mehr reiten, da eine starke Arthrose im Lendenwirbelbereich sowie Gicht diagnostiziert wurde. Sarah ist 21 Jahre alt, lebt in einer betreuten Wohngruppe für geistig behinderte Menschen und nimmt regelmäßig an einer Gruppentherapie mit fünf weiteren Bewohnern teil. Sie hat eine schwere Herzerkrankung und große Angst, auf dem Pferd zu sitzen. Deswegen kann sie an gemeinsamen Wanderungen mit dem Pferd im Rahmen der Gruppentherapie nicht teilnehmen, bei welchen ein Teil der Gruppe läuft und jeweils zwei Personen reiten können. Franziska ist 25 Jahre alt und leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Von Kindheit an war es ihr größter Wunsch, reiten zu lernen. Ihre starke Adipositas mit 150 kg Körpergewicht macht dies aber unmöglich. Diese und viele weitere Fallbeispiele mit ähnlicher Problematik sind in der Praxis des heilpädagogischen und therapeutischen Reitens alltäglich und vielen Reitpädagogen bekannt. Als Lösung des Problems der mangelnden Mobilität und als Alternative zum Reiten entstand in unserem Betrieb die Idee, eine Kutsche im Rahmen der therapeutischen Einheiten einzusetzen. Voraussetzungen an die Reitpädagogin Um als Reitpädagogin mit dem Hilfsmittel einer Kutsche zu arbeiten, ist es Voraussetzung, über eine entsprechende Ausbildung im Fahren, mindestens jedoch dem Fahrabzeichen Klasse IV, zu verfügen. Zusätzlich sind Kenntnisse in der Arbeit am Langzügel und der Doppellonge hilfreich, um die eingesetzten Therapiepferde fundiert trainieren zu können. Ausbildung der Therapiepferde Neben der grundlegenden Ausbildung zum Therapiepferd ist für den Einsatz einer Kutsche im heilpädagogischen Reiten auch die solide Ausbildung und das regelmäßige Training des Therapiepferdes an der Kutsche Voraussetzung. Die Pferde sollten durch konsequente Kommandos trainiert werden, um auf Stimmhilfen zuverlässig zu reagieren und um beim Anschirren und beim Aufsteigen der Fahrer ruhig stehen zu bleiben. Aufgrund des insofern spezifischen regelmäßigen Trainings lassen sich alle unsere eingesetzten Therapiepferde anspannen, ohne festgehalten zu werden. Dies ist eine wichtige Voraussetzung, um absolut gefahrlos im Rahmen einer therapeutischen Einheit anspannen zu können. Im Gelände und im Straßenverkehr muss das eingespannte Therapiepferd zuverlässig und un- Praxistipp „Hab meinen Wagen voll geladen…“ Der Einsatz der Kutsche in der pferdegestützten Pädagogik und Therapie Praxistipp: Kreß - „Hab meinen Wagen voll geladen …“ mup 2|2012 | 89 Praxistipp: Kreß - „Hab meinen Wagen voll geladen …“ mup 2|2012 | 89 erschrocken sein, um eine Gefährdung aller Beteiligten weitest möglich auszuschließen. Die Auswahl der Kutsche Nach längeren Überlegungen haben wir uns für den Einsatz eines Gigs entschieden. Unter einem Gig versteht man eine einachsige Kutsche, ähnlich eines Sulkys, die jedoch über eine feste Sitzbank mit Rücken- und Armlehne sowie eine Scheibenbremse mit Fußpedal verfügt. Ein wichtiges Auswahlkriterium war unter anderem das niedrige Gesamtgewicht der Kutsche, mit knapp 70 kg. Das Anspannen wird dadurch für alle Beteiligten deutlich erleichtert. Für das Pferd werden unnötige Belastungen vermieden, die ansonsten durch steile Anstiege oder das Ziehen von stark adipösen Personen hervorgerufen würden. Ein weiterer großer Vorteil des Gigs ist der niedrige Einstieg, der auch motorisch eingeschränkten Personen und deren Helfern ein relativ einfaches Auf- und Absteigen ermöglicht. Die feste Arm- und Rückenlehne bietet Halt und Sicherheit; durch die relativ niedrige Sitzhöhe ist die Kommunikation zwischen Reitpädagogen und allen Teilnehmern der Therapie gut möglich. Der niedrige Schwerpunkt des Gigs macht die Kutsche sehr geländegängig - es können damit gefahrlos Feld- und Waldwege befahren werden. Die Kutsche verfügt über eine hydraulische Fußbremse, die, wie alle anderen Teile des Gigs, regelmäßiger Wartung bedarf. Anspannung und Einsatzvarianten Unsere Pferde werden durchgängig mit Brustblattgeschirr gefahren. Zusätzlich verwenden wir immer ein Hintergeschirr, welches dem Pferd, vor allem im bergigen Gelände ermöglicht, den Wagen mit der Hinterhand aufzuhalten. Als Zäumung setzen wir - je nach Einsatzart unseres Gigs - folgende Varianten ein: ■ die Reitpädagogin führt das Pferd - Zäumung: Stallhalfter mit Führkette oder Wassertrense ■ die Reitpädagogin führt das Pferd am Langzügel - Zäumung: Wassertrense mit Langzügel ■ die Reitpädagogin fährt auf der Kutsche - Zäumung: Fahrzaum mit Fahrkandare, Einspännerleine Alle Geschirrteile müssen hervorragend verarbeitet und beschaffen sein. Das komplette Geschirr bedarf der regelmäßigen Pflege und Kontrolle auf Schäden. Bild 1: Gig mit niedrigem Einstieg 90 | mup 2|2012 Praxistipp: Kreß - „Hab meinen Wagen voll geladen …“ 90 | mup 2|2012 Praxistipp: Kreß - „Hab meinen Wagen voll geladen …“ Der Einsatz des Gigs in den Therapiestunden Darstellung der Einsatzvarianten Wie soeben dargelegt, setzen wir den Gig im Rahmen der Therapieeinheiten in unterschiedlichen Varianten ein, die spezifische Aspekte mit sich führen: Die Reitpädagogin führt das Pferd: Meist setzen wir diese Art des Fahrens in der Gruppentherapie ein. Vor allem in Gruppen, in welchen das Laufvermögen wenig homogen ist, bringt diese Variante den Vorteil der Mobilität für alle Beteiligten mit sich. Das Führen des Pferdes gemeinsam mit der Therapeutin und die gegenseitige Hilfe beim Ein- und Aussteigen stärkt die Fähigkeit der Klienten, sich gegenseitig zu unterstützen. Das gemeinsame Erleben, vor allem bei Ausritten bzw. -fahrten, stärkt den Zusammenhalt und das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Gruppe. Die Reitpädagogin führt das Pferd am Langzügel: Diese Einsatzvariante ist der vorherigen sehr ähnlich. Sie bietet den Vorteil für Klienten, die in der Lage sind, das Pferd sicher zu führen, dies selbständig zu tun. Die Reitpädagogin stellt die wichtige Absicherung des Pferdes mit Position an der Hinterhand dar. Hierdurch kann das Selbstbewusstsein / Selbstkonzept und die Selbständigkeit der Teilnehmer intensiv gefördert werden. In der Einzeltherapie bringt der Langzügel den Vorteil einer einfachen Kommunikation zwischen Reitpädagogen und Klient. Durch das Mitlaufen des Reitpädagogen erfahren vor allem ängstliche Klienten die nötige Sicherheit, sich von „ihrem“ Pferd ziehen zu lassen und sich auf die Fortbewegung mittels Pferd einzulassen. Die Reitpädagogin fährt auf der Kutsche: Die gemeinsame Ausfahrt des Klienten mit der Therapeutin / dem Therapeuten findet vor allem in der Einzeltherapie ihren Einsatz. Sie wird vorwiegend für Personen eingesetzt, die nicht reiten können, sich aber gerne mit dem Pferd fortbewegen möchten. Es besteht die Möglichkeit, in allen Gangarten zu fahren. Das Erlebnis der Freude, Freiheit, Selbstbestimmung und Mobilität durch das Pferd sind die zentralen Themen dieser Art des Einsatzes des Pferdes in den Therapiestunden. Bei der gemeinsamen Ausfahrt besteht für alle Teilnehmer Helmpflicht. Ablauf einer Therapieeinheit Der Ablauf einer Therapiestunde, in welcher der Gig eingesetzt wird, unterscheidet sich im gesamten Rahmen grundsätzlich nicht von anderen Einheiten. Nach dem gemeinsamen Bereitstellen Bild 2: Gemeinsames Erleben von Ausritten bzw. -fahrten Praxistipp: Kreß - „Hab meinen Wagen voll geladen …“ mup 2|2012 | 91 Praxistipp: Kreß - „Hab meinen Wagen voll geladen …“ mup 2|2012 | 91 aller benötigten Utensilien für das Pferd und das Fahren - also Putzkasten, Fahrgeschirr und Gig - werden die Pferde begrüßt, und das eingesetzte Therapiepferd geputzt. Das gemeinsame Anspannen stellt eine Aktion dar, in welcher alle Teilnehmer gefordert sind, sich gegenseitig zu helfen. Die verschiedenen Teile des Fahrgeschirrs müssen zum Pferd gebracht, Schnallen geschlossen, der Schweif durch den Schweifriemen gezogen und die Landen des Gigs in den Tragösen eingehängt werden. Danach findet die Ausfahrt, wie oben schon beschrieben, statt. Nach dem Ausspannen und dem Aufräumen der Kutsche werden die Pferde versorgt und gefüttert. Zielgruppen Der Einsatz des Gigs wurde für folgende Zielgruppen entwickelt: ■ für Klienten, die an größeren Wanderungen und Spaziergängen, vor allem in der Gruppe, nicht teilnehmen können ■ für Teilnehmer, die aus verschiedenen Gründen nicht reiten dürfen, können oder möchten ■ für ältere Menschen aus landwirtschaftlichen Betrieben, die früher in der eigenen Familie Kutschpferde eingesetzt haben (Biographiearbeit) Dafür können folgende Gründe vorliegen: ■ hohes Lebensalter mit eingeschränkter Mobilität ■ stark ausgeprägte Ängste auf dem Pferd zu sitzen ■ körperliche Erkrankungen (Krampfanfälle, Erkrankungen des Bewegungsapparates, Herzerkrankungen, usw.) ■ Adipositas ■ sexueller Missbrauch mit Abneigung, im Reitersitz auf dem Pferd zu sitzen Förderziele Durch den Einsatz der Kutsche im Rahmen der heilpädagogischen Arbeit mit Hilfe des Pferdes ergeben sich eine Vielzahl an Fördermöglichkeiten, die den Klienten in verschiedenen Bereichen ansprechen. Vor allem im emotionalen und sozialen Bereich findet eine intensive Förderung statt, wie zum Beispiel: ■ Stärkung des Selbstbewusstseins / Selbstkonzeptes durch die Erfahrung der Selbstwirksamkeit ■ Abbau von Ängsten ■ Förderung von Verantwortungsbewusstsein Bild 3: Der Klient hält das Pferd fest Bild 4: Gemeinsames Ausspannen des Pferdes 92 | mup 2|2012 Praxistipp: Kreß - „Hab meinen Wagen voll geladen …“ 92 | mup 2|2012 Praxistipp: Kreß - „Hab meinen Wagen voll geladen …“ ■ Aufbau von Vertrauen ■ Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit ■ Erlernen des Umgangs mit den eigenen Grenzen und den Grenzen anderer ■ Erfahrung des sich gegenseitigen Unterstützens und Helfens und der Kooperation ■ Erleben einer gemeinsamen positiven Freizeitgestaltung ■ Erfahrung der Teilhabe am Gruppengeschehen, trotz eigener Einschränkungen ■ Ressourcenorientierung, positive Selbstwahrnehmung ■ Bewegung wird trotz eingeschränkter Handlungsmöglichkeiten aufgrund der Behinderung wieder möglich ■ Lösung aus Starrheit, vor allem im geistigen und seelischen Bereich Erfahrungen und Ausblick Unsere Erfahrungen beim Einsatz des Gigs in den therapeutischen Einheiten sind durchweg positiv. Die Rückmeldungen der Teilnehmer und der betreuenden Institutionen bestätigen den Erfolg der Maßnahme. Aus der grundlegenden Idee, mehr Mobilität für „Nichtreiter“ zu schaffen, entwickeln sich immer neue Impulse, die Kutsche für eine deutlich größere Zielgruppe einzusetzen. Ein interessanter Bereich in der Einzeltherapie stellt zum Beispiel die Biographiearbeit mit älteren Klienten dar, die wir in Kooperation mit betreuenden Institutionen ausarbeiten. Unter anderem arbeiten wir darüberhinaus an der Planung einer Ferienmaßnahme mit Schulklassen, in welchen wir die Kutsche als Gepäckbeförderung für mehrtägige Wanderungen einsetzen. Alle Therapiepferde unseres Betriebes bilden wir inzwischen an der Kutsche aus; Fortbildungen der Mitarbeiter in den Bereichen Langzügel, Doppellonge und Fahren sind in unserem Betrieb etabliert. Die Autorin Monika Kreß Dipl. Sozialpädagogin (FH), Zusatzqualifikation „Pferdegestützte Pädagogik und Therapie“ (PPT), eigener Reittherapiebetrieb in Ebersbach im Ostallgäu, langjährige Praxiserfahrung im Bereich der ambulanten Jugendhilfe, der Erwachsenenbildung, in der Vorschulpädagogik, mit Pflege- und Adoptivfamilien, mit traumatisierten Mädchen und Frauen, mit psychisch kranken und geistig behinderten Kindern und Erwachsenen. Anschrift: Monika Kreß · Am Katzenberg 20 · D-87648 Aitrang monika-kress@gmx.de