eJournals mensch & pferd international 4/3

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mup2012.art05d
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Pferde und Dissoziation. Stabilisierungsarbeit mit traumatisierten Menschen im Rahmen pferdegestützter Therapie

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Katharina Josten
Jan Volmer
Die Entwicklung dissoziativer Muster (lat.: dissociare = "trennen, scheiden") ist als Bewältigungsstrategie für unerträgliche Lebenssituationen zwar verstehbar, greift jedoch weitreichend in die Lebensführung traumatisierter Menschen ein. Die Betroffenen sind oftmals durch ein Gefühl von Handlungsunfähigkeit und Kontrollverlust beeinträchtigt und in ihrer Beziehungsfähigkeit eingeschränkt. In diesem Artikel wird beschrieben, wie im Rahmen pferdegestützter Therapie dissoziative Zustände erkannt und unterbrochen werden können.
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108 | mup 3|2012|108-116|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378/ mup2012.art05d Katharina Josten, Jan Volmer Schlüsselbegriffe: Trauma, Dissoziation, Pferde, Stabilisierung, Re-Orientierung, Präsenz, pferdegestützte Therapie Die Entwicklung dissoziativer Muster (lat.: dissociare = „trennen, scheiden“) ist als Bewältigungsstrategie für unerträgliche Lebenssituationen zwar verstehbar, greift jedoch weitreichend in die Lebensführung traumatisierter Menschen ein. Die Betroffenen sind oftmals durch ein Gefühl von Handlungsunfähigkeit und Kontrollverlust beeinträchtigt und in ihrer Beziehungsfähigkeit eingeschränkt. In diesem Artikel wird beschrieben, wie im Rahmen pferdegestützter Therapie dissoziative Zustände erkannt und unterbrochen werden können. Stabilisierungsarbeit mit traumatisierten Menschen im Rahmen pferdegestützter Therapie Pferde und Dissoziation Josten, Volmer - Pferde und Dissoziation mup 3|2012 | 109 „Die Arbeit mit dem Pferd im therapeutischen Kontext“ ist im Mai 2008 vom „Deutschen Kuratorium für Therapeutisches Reiten“ (DKThR) mit der Gründung eines gleich lautenden Arbeitskreises als einer der fünf Bereiche des Therapeutischen Reitens konstituiert worden. In einer stetig wachsenden Zahl von Publikationen ist auf die Möglichkeiten des Einsatzes von Pferden im Rahmen von Behandlungen psychischer Störungen hingewiesen worden. Als wegweisend können aus jüngerer Vergangenheit die Arbeiten vom DKThR (DKThR 2005), der Fachgruppe Arbeit mit dem Pferd (FAPP / DKThR 2005) in der Psychotherapie (Mehlem 2005) und Opgen-Rhein u. a. (2011) genannt werden. Ausgehend von den neueren Erkenntnissen aus der Psychotraumatologie wurde der Einsatz von Pferden auch in der Arbeit mit traumatisierten Patienten zunehmend beschrieben (Scheidhacker 2005; Heintz 2005; Dettling u. a. 2011). Beim XIII. Internationalen Kongress für Therapeutisches Reiten 2009 in Münster stellten Shambo (2009, USA) und Thelle (2009, Norwegen) erstmals Effektivitätsstudien zur Wirksamkeit von Reittherapie bei traumatisierten Patienten vor. Shambo (2009) konnte in einer kleinen Stichprobengruppe von sechs Patienten eine signifikante Reduzierung depressiver und dissoziativer Symptome nachweisen. Dissoziative Symptome wurden von Scheidhacker bereits 2005 in eindrücklicher Weise anhand eines Fallbeispiels einer jungen Frau dargestellt. Sie beobachtete bei der Patientin in der Interaktion mit dem Pferd den „Verlust der heilenden Mitte“, den sie als Folge traumatischer Erlebnisse verstand. Ausgehend von unseren Erfahrungen mit traumatisierten Patienten des Psychotherapeutischen Zentrums Kitzberg Klinik, Bad Mergentheim, haben wir uns mit dem Phänomen der Dissoziation im Rahmen der therapeutischen Arbeit mit dem Pferd näher beschäftigt. In unserem Beitrag soll das Augenmerk auf ■ das Erkennen von Dissoziation ■ das Unterbrechen dissoziativer Zustände im Rahmen pferdegestützter Therapie gerichtet werden. Es soll ein Versuch unternommen werden, die Beobachtungen aus der Praxis vor dem Hintergrund psychotraumatologischer Erkenntnisse einzuordnen und Anregungen für den Umgang mit dissoziierten Patienten zu geben. Dissoziation als Folge traumatischer Erfahrungen Der Begriff „Trauma“ (griechisch: Verletzung, Wunde) beschreibt aus medizinischer Sicht die Schädigung oder Verwundung des Körpers durch äußere Einflüsse. In Abgrenzung dazu beschäftigt sich die Psychotraumatologie mit seelischen Verletzungen. Fischer und Riedesser (2009) definieren Trauma als ein „vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt“ (Fischer / Riedesser 2009, 84). Ein Trauma bemisst sich daher nicht allein am Ausmaß des objektiv eingetretenen Ereignisses, sondern vor allem an der individuellen Interpretation der Betroffenen: Zentral ist das subjektive Erleben absoluter Ohnmacht. Verständlicher wird diese Unterscheidung, wenn im Folgenden die drei Reaktionsmuster auf lebensbedrohliche Ereignisse erläutert werden. Flight-Fight-Freeze Eine bedrohliche Situation ist gekennzeichnet durch eine Konfrontation mit einem extremen äußeren Stressor (Huber 2009). Dabei kommt es zu einer Überflutung mit „feindlichen“ Reizen, die der Betroffene in Millisekunden beantworten muss. Zwei der vom Stammhirn gesteuerten Notfallinstinkte, mit denen der Organismus auf eine Bedrohung reagiert, sind das „Fliehen (Flight)“ und das „Kämpfen (Fight)“. Gelingt eine Überwindung der bedrohlichen Situation, werden die zur Flucht oder zum Kampf mobilisierten Körperreaktionen (erhöhte Herzfrequenz, Muskelaktivität, schnelle, flache At- 110 | mup 3|2012 Josten, Volmer - Pferde und Dissoziation mung) reduziert, und es tritt Entspannung ein. Stehen die Möglichkeiten des Kampfes oder der Flucht aufgrund situativer oder personaler Bedingungen nicht zur Verfügung, bleibt als dritte Notfallreaktion das „Einfrieren (Freeze)“. Dabei werden die zu „Flight“ oder „Fight“ mobilisierten Körperreaktionen sowie emotionale Reaktionen (z. B. Angst) eingefroren. „Freeze“ ist ein „geistiges Wegtreten“ mit dem Ziel, einen Angriff nicht spüren zu müssen. Damit einher geht das Entfremden von eigenen Empfindungen. Gefühle, Gedanken und Körperempfindungen werden abgespalten. „Es ist, als wenn das Gehirn sich sagt: ich bringe den Organismus nicht erfolgreich aus der Situation heraus, und ich kann den aggressiven Impuls nicht äußerlich niederringen - also muss ich genau dies intern tun: ich mache den aggressiven Reiz unschädlich und erlaube dem Organismus, sich innerlich zu distanzieren“ (Huber 2009, 43). Dieser Vorgang wird Dissoziation genannt. Die in der Notfallsituation vom Körper bereitgestellte, aber nicht aktivierte Energie verbleibt jedoch eingeschlossen im Körper und schafft das Potenzial für traumatische Symptome. Oft verwandelt sie sich in psychosomatische Symptome, also in körperliche Affektregulate, die mit somatisch bedingten Krankheiten nicht verwechselt werden dürfen. Dissoziation als Traumamuster Wird Dissoziation in der traumatischen Situation als Möglichkeit erkannt, emotional unerträgliche Wahrnehmungen und Erfahrungen zu bewältigen, kann sie sich als dauerhafte Bewältigungsstrategie über weite Teile des Erlebens und Lebens ausbreiten. Verantwortlich dafür ist das Körpergedächtnis: Obwohl unter Dissoziation der Strom des Bewusstsein unterbrochen wird und dem expliziten Gedächtnis deshalb später allenfalls noch Erinnerungsfragmente zugänglich sind, sind die traumatischen Erfahrungen im Körper gespeichert. In Situationen, die in irgendeiner Weise an das Trauma erinnern (sogenannte „Trigger“ wie Gerüche, Geräusche, Gefühltes oder Erblicktes), reagiert der Organismus hochsensibel auf diese Wahrnehmungen und aktiviert sogleich das bewährte physikalische Notfallprogramm - auch wenn die Situation objektiv betrachtet vollkommen unbedrohlich ist. „Das Denken wird von den Gefühlen überfallen. Menschen mit PTSD ( Post-traumatic Stress Disorder; engl. für PTBS---Posttraumatische Belastungsstörung ) sind sehr sensitiv darauf eingestimmt, selbst auf minimale Reize so zu reagieren, als ob ihr Leben in Gefahr sei“ (van der Kolk u. a. 2000, zit. n. Levine / Kline 2004, 29). Dieser Verlust der Unterscheidungsfähigkeit kann sich auch in der Interaktion mit dem Pferd zeigen. Die körperliche Nähe, die Bewegungen und bereits der Anblick seines mächtigen Leibes können körperliche Erinnerungen an unerträgliche Momente wecken - und dazu führen, dass der Patient dissoziiert. In diesem Zustand sind Betroffene nicht mehr mit allen Sinnen „da“ und dadurch - auch im Kontakt zum Pferd - in ihrer Beziehungsfähigkeit erheblich eingeschränkt. Eine Unterbrechung dieses Musters ist notwendig, um Präsenz und Kontrolle zurückzugewinnen, den eigenen Handlungsspielraum wieder zu erweitern und so den Gefahren einer neuerlichen Versehrtheit sowie einer weiteren Chronifizierung des dissoziativen Verhaltens vorzubeugen. Dissoziation hat seinen Ursprung im Versuch, eigentlich unerträgliche Situationen zu überleben. Der bedrohte Mensch bedient sich eines Schutzmechanismus und findet darin eine Traumabewältigungsstrategie. Häufig angewendet kann sich Dissoziation als Muster etablieren. Dissoziation kann bereits durch erhöhten Stress oder sogenannte Trigger wie ein erinnerndes Gefühl, ein bestimmtes Geräusch, Geschmack, Geruch, ein Gedanke oder eine erinnernde Person ausgelöst werden. Dissoziation im Kontext pferdegestützter Therapie In den vorherigen Abschnitten ist Dissoziation als Traumamuster beschrieben worden. Im Folgenden soll nun die Bedeutung des Pferdes im Erkennen und im Umgang mit diesem Josten, Volmer - Pferde und Dissoziation mup 3|2012 | 111 Muster reflektiert werden. Das Erkennen dissoziativer Zustände ist selbst für erfahrene Kliniker schwierig. Es bedarf nicht nur eines sehr geschulten Blicks, sondern auch einer hohen Sensibilität, um das „innere Abdriften“ eines Patienten wahrzunehmen. Das gilt besonders dann, wenn dieser über gute kognitive und sprachliche Fähigkeiten verfügt, und er im Reden gut nachvollziehbare und vermeintlich kluge Reflexionen anstellt. Diese haben unter der Dissoziation jedoch keinen Kontakt zum Gefühl, enthalten deshalb auch keinerlei emotionale Färbung und verbleiben „seelenlos“. Während Therapeuten diese dissoziativen Zustände häufig nicht oder erst sehr spät wahrnehmen, reagieren Pferde darauf hochsensibel. Damit wollen wir uns im Folgenden anhand von Praxisbeispielen unter zwei Gesichtspunkten befassen: 1. Das Erkennen von Dissoziation im Kontext pferdegestützter Arbeit 2. Das Unterbrechen von Dissoziation im Kontext pferdegestützter Arbeit 1. Das Erkennen von Dissoziation im Kontext pferdegestützter Arbeit Fallbeispiel 1: In einer Reittherapiestunde arbeiten die Patientin Frau K. (alle Initialen und Namen geändert, Fotos nachgestellt) und ihre zehn-jährige Tochter Anna im Round-Pen. Anna beginnt, das Pferd in verschiedenen Tempi und Richtungen zu bewegen, während ihre Mutter außerhalb des Round-Pen stehend zuschaut. Das Pferd richtet sein inneres Ohr zu Anna und reagiert auf ihre kleinsten Impulse. Annas Konzentration gilt ganz dem Pferd. Pferd und Kind sind spürbar miteinander im Kontakt. Als Frau K. die Übung beginnt, ignoriert das Pferd alle ihre Signale. Es fängt an zu grasen, verändert sein Tempo und seine Richtung nach Belieben, und es schnappt sich selbst trabend noch Grasbüschel. Es scheint die Patientin gar nicht wahrzunehmen. Frau K. kommt nach kurzer Zeit an Gefühle der Hilflosigkeit und Verzweiflung und bricht die Übung resigniert ab. In der anschließenden Reflexion berichtet Frau K., dass es zwischen ihrer Tochter und ihr ein Beziehungsmuster der Rollenumkehr gäbe. Sei ihre Belastung sehr hoch, würde sie sich von ihrer Tochter „alles aus der Hand nehmen lassen“. Dann würde Anna die Führung übernehmen, während sie „wie benommen“ daneben stünde. Fallbeispiel 2: Die 65-jährige Patientin Frau T. streichelt das Pferd am Hals, immer wieder von oben nach unten in monotonen Bewegungen. Ihr Blick richtet sich weder zum Pferd noch zu ihren Händen, die das Pferd streicheln, sondern starr in die Leere. Sie scheint das Pferd trotz der Berührung nicht wahrzunehmen. So bemerkt sie auch nicht die ersten Reaktionen des Pferdes, das zunehmend seinen Hals anspannt und ein unruhiges Ohrenspiel zeigt. Die Patientin streichelt das Pferd weiter, bis dieses zur Seite weicht. Dann erst blickt die Patientin auf. In beiden Beispielen ist zu beobachten, dass es eine Störung zwischen Pferd und Patientin gibt. 112 | mup 3|2012 Josten, Volmer - Pferde und Dissoziation deutige Kommunikation und Hierarchien beruft. Dies sichert den einzelnen Herdenmitgliedern ihre Existenz und ihre Grundbedürfnisse. Die Hierarchie eines Familienverbandes wird angeführt durch die Leitstute, die die Führung übernimmt, sowie den Leithengst, der für den Schutz seiner Herde sorgt. Die Rangfolge wird auch durch physische Faktoren wie Größe, körperliche Verfassung oder Geschlecht bestimmt. Im Wesentlichen haben jedoch psychische Faktoren einen Einfluss, zum Beispiel Selbstvertrauen, Reaktionsfähigkeit oder die Erfahrung, die das Pferd mitbringt (Pirkelmann / Ahlswede / Zeitler- Feicht 2008). Wie das Fallbeispiel 1 zeigt, sind für Pferde auch bei einem menschlichen Gegenüber diese Eigenschaften ausschlaggebend dafür, ob das Pferd den Menschen als Ranghöheren akzeptiert. Kommunikation Aufgrund der existenziellen Notwendigkeit haben Pferde mit der Zeit ein sehr komplexes Kommunikationssystem entwickelt. Dabei kommunizieren sie zu einem sehr großen Anteil über ihre Körpersprache: Beziehungsangebote, Grenzsetzungen, Neugierde, Angst etc. werden über Körperaktionen, Gestik und Mimik vermittelt. Die Besonderheit der Körpersprache ist, dass sie sich nur im Hier und Jetzt „sprechen“ lässt. Das Verhalten der Pferde kann durch ihre Erinnerungen und Erfahrungen beeinflusst werden, ihre Handlungsebene stellt aber die Gegenwart dar. Daher gibt es kein Nachtragen, keine heimlichen Erwartungen, keine Rache …stattdessen: Klarheit, Eindeutigkeit und Präsenz. Im Zustand von Dissoziation werden an das Trauma erinnernde Gefühle, Gedanken, Handlungen, Körperwahrnehmungen abgespalten. Der Mensch ist damit nicht im Hier und Jetzt der Situation präsent, sondern mit seinen Gedanken und Gefühlen „woanders“. Scheidhacker (2005) beschreibt es in ihrem Aufsatz „Auf der Suche nach der heilen(den) Mitte“ wie folgt: „Das Pferd reagiert auf die ‚Körperlosigkeit‘ des trauma- Weder Frau K. noch Frau T. gelingt ein Dialog mit dem Pferd. Die innere Abwesenheit der Patientinnen verhindert eine klare Kommunikation mit dem Pferd. Dieses scheint zu spüren, dass sein Gegenüber nicht mit ihm im Kontakt ist und reagiert auf die physische Anwesenheit des Menschen bei seiner gleichzeitigen emotionalen Abwesenheit mit einer Reihe von „Symptomen“: Diese reichen von Fluchtverhalten über Anspannung und Nervosität bis zu dem Versuch, eine reitende Patientin abzuwerfen. Anhand der Reaktionen des Pferdes ist das Muster der Dissoziation der Patientinnen zu erkennen. Das Pferd spiegelt dabei nicht über das gesprochene Wort, sondern in Form einer erlebbaren vitalen Erfahrung. Dadurch macht es das Muster des Dissoziierens wie durch eine Lupe vergrößert sichtbar und gibt damit ein Feedback an die Patientin bzw. einen diagnostischen Hinweis an die Reittherapeutin. Die Gründe für die Eignung von Pferden als „Diagnosemedium“ für dissoziatives Verhalten finden wir in der Ethologie der Pferde. Daher wird an dieser Stelle kurz das artspezifische Sozial- und Kommunikationsverhalten der Pferde erläutert. Sozialverhalten Pferde sind Herdentiere. Ihre Sozialisation gründet sich in einem klar strukturierten Verband, der sich auf Regeln, ein- Josten, Volmer - Pferde und Dissoziation mup 3|2012 | 113 tegie. Die Symptome traumatisierter Menschen können daher als „psychobiologisch sinnvoller Selbsthilfeversuch verstanden werden“ (Riedesser 2006, 168), der dem Zweck dient, die Wucht der traumatischen Erfahrungen zu mindern oder deren Wiederholung zu verhindern. Gleichzeitig sind diese Strategien aber auch „Abkömmlinge“ des Traumas, durch die ein Heilungsprozess blockiert wird. Ein Großteil der Energie traumatisierter Menschen fließt dann nämlich in die Versuche, sich „das Trauma vom Hals“ zu halten, wie Huber (2006, 91 f) es formuliert. In der Stabilisierungsphase ist es daher notwendig, die Kontrolle über diese dysfunktionalen Muster und die Entwicklung der Fähigkeit zur Selbststabilisierung in den Mittelpunkt der Behandlung zu rücken. Das Erkennen und Kontrollieren der dysfunktionalen Muster ist notwendig, „weil sie immer nur kurzfristig helfen und wegen ihrer engen Verwandtschaft zum belastenden Material den negativen Bereich ständig vergrößern“ (Plassmann 2007, 34). Es ist bereits gezeigt worden, wie Pferde das Erkennen von Dissoziation unterstützen können. Nun soll erläutert werden, wie die pferdegestützte Arbeit zum Unterbrechen (oder Kontrollieren) dissoziativer Muster beitragen kann. Interventionen zum Unterbrechen dissoziativer Zustände Huber (2011, 163) schreibt: „Die Begegnung mit einem freundlichen Tier, seine Berührung, vielleicht sogar das ausgiebige Streicheln, machen einen guten Parasympathicotonus, dieser öffnet das Lernfenster“. Im Erleben mit dem Pferd lernt Frau K. (Fallbeispiel 1) zum einen, dass sie dissoziiert. Zum anderen wird sie sich der Notwendigkeit bewusst, dieses Muster stoppen zu müssen, wenn sie von ihrem Gegenüber (z. B. von ihrer Tochter) ernst genommen werden möchte. Zur Erläuterung der Interventionen wird noch einmal den Begriff der Präsenz aufgegriffen. Sie bildet die Basis für das Erleben von Kontrolle und Handlungsfähigkeit. Erst wenn die Patientin mit all ihren Gefühlen, Getisierten Patienten und nimmt ihn kaum wahr, weil nur der Kopf will und die ‚Körperhülle‘ diesen Willen nicht wirklich weiterleiten kann“ (S. 170). Dieses Beziehungsgeschehen ist in beiden Fallbeispielen gut zu beobachten. Sozialverhalten und Kommunikation von Pferden hingegen zeichnen sich insbesondere durch Präsenz (im Sinne von Anwesenheit, Gegenwart) aus. Präsent zu sein heißt, sich seines eigenen Körpers bewusst zu sein, Zugang zu eigenen Gefühlen und Bedürfnissen zu haben und bewusst denken, wahrnehmen und handeln zu können. Präsenz bedeutet daher, für das Gegenüber eindeutig wahrnehmbar zu sein. Die Kommunikation zwischen Pferden und dissoziierten Menschen misslingt, da Pferde genau diese Gegenwartsorientierung auch von ihren Gegenübern fordern. Aufgrund seiner artspezifischen Kommunikation und seines Sozialverhalten kann das Pferd Dissoziation für die Menschen sichtbar machen. Sein promptes Feedback auf fehlende Präsenz unterstützt Patienten und Reittherapeuten dabei, dissoziative Zustände zu erkennen. 2. Das Unterbrechen von Dissoziation im Kontext pferdegestützter Therapie In der Behandlung traumatisierter Menschen hat sich schulenübergreifend ein phasenspezifisches Therapiemodell bewährt. Die Unterteilung in die Phasen Stabilisierung, Exposition und Integration basiert im Wesentlichen auf Herman (1994) und wurde seitdem vielfach adaptiert und weiterentwickelt. Einigkeit besteht über die hervorragende Bedeutung der Stabilisierungsphase, die im Folgenden erläutert werden soll. Die Bedeutung stabilisierender Arbeit bei traumatisierten Menschen Bei unverarbeiteten traumatischen Erlebnissen bildet sich um das traumatische Material ein Ring kompensatorischer Abwehrmaßnahmen, die als Traumabewältigungsstrategien bezeichnet werden können. Dissoziation ist eine solche Bewältigungsstra- 114 | mup 3|2012 Josten, Volmer - Pferde und Dissoziation nen“ ins „Nahe“ zu re-orientieren: zunächst die Umgebung, dann das Pferd und schließlich sich selbst wahrzunehmen. Fallbeispiel 1: Frau K. beschreibt zunächst den Round-Pen: „Ein Zaun mit Büschen herum …“, dann das Pferd: „Es sucht nach Grasbüscheln, seine Aufmerksamkeit ist auf den Boden gerichtet“ und anschließend ihren eigenen Zustand: „Ich bin erschöpft und enttäuscht, meine Atmung geht schnell, ich beiße die Zähne aufeinander…ich möchte, dass das Pferd mich ernst nimmt.“ Auf die zurückerlangte Präsenz folgen im weiteren Verlauf der Reittherapiestunde Übungen zum Aktivieren des eigenen Gefühls von Kontroll- und Handlungsfähigkeit. Frau K. wird dazu eingeladen, das Pferd zu führen - zunächst mit einem Leitseil, anschließend frei. Die Patientin plant den Weg, trifft Entscheidungen (über die Richtung, das Tempo) und gibt dem Pferd Signale. Sie spürt die Wirksamkeit feinster Körpersignale und ihre Einflussnahme auf das Pferd. Ihre Körperhaltung verändert sich in eine aufrechte Position, sie kann tief durchatmen und fest auftreten. Ihre wahrnehmbare Präsenz bewirkt, dass sich das Pferd sogar frei von ihr führen lässt: „Wenn ich bei mir bin, nimmt mich das Pferd wahr und folgt mir überall hin“. Fallbeispiel 2: Frau T. wird eingeladen, einen Schritt zurückzutreten, um sich zunächst am Putzplatz zu re-orientieren, dann das Pferd bewusst wahrzunehmen und schließlich sich selbst. Dabei muss das Pferd angeschaut werden, damit eine tatsächliche Gefahr von der phantasierten unterschieden werden kann: „Das Pferd hält den Kopf hoch, seine Ohren sind gespitzt, es schaut uns an …“. Sinn der Re-Orientierung ist zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken und zu fühlen (sowohl taktil als auch emotional), was jetzt ist. Frau T. wird eingeladen, sich dem Pferd aus sicherer Entfernung langsam zu nähern und bei jedem Schritt zu prüfen, wie es ihr dabei geht. Sie findet heraus, wie viel Nähe zum Pferd ihr hier und jetzt danken, Bedürfnissen und Körperwahrnehmungen im „Hier und Jetzt“ ist, kann sie bewusst mit ihrer Umwelt in Interaktion treten. Auf die zwei Aspekte der Stabilisierungsphase (Erkennen und Kontrollieren) übertragen bedeutet dies: Frau K. (Fallbeispiel 1) würde bemerken, dass sie sich gerade „alles aus der Hand nehmen lässt“ und könnte dies bewusst stoppen. Frau T. (Fallbeispiel 2) könnte das Pferd wahrnehmen und eine bewusste Entscheidung treffen, ob sie es wirklich streicheln möchte oder nicht. Eine Methode zur Förderung von Präsenz, die in der pferdegestützten Therapie gut einsetzbar ist, ist die „Re-Orientierung im Hier und Jetzt“. Das bedeutet ein Sich-Zurückholen in die Gegenwart , wenn unter der Dissoziation (teilweise unbewusste) Erinnerungen an Vergangenes aktiv sind. „Re-Orientierung“ kann im Raum (Stall, Reitplatz, Gelände), am Pferd (das Erscheinungsbild, Stimmung, Fell, Wärme, Muskeln des Pferdes) oder am Patienten selbst (Atmung, Körperhaltung, Gedanken, Gefühle, Bedürfnisse) stattfinden. Dabei empfiehlt es sich vom „Fer- Josten, Volmer - Pferde und Dissoziation mup 3|2012 | 115 Die Reittherapeutin bietet der Patientin mit dem Pferd ein geschütztes Übungs- und Lernfeld. Ihre Aufgabe ist es, das Verhalten des Pferdes auch als eine mögliche Reaktion auf Dissoziation in Betracht zu ziehen. Sie „übersetzt“ das Verhalten des Pferdes, indem sie das Sichtbargewordene in Worte fasst, um eine Bewusstwerdung zu ermöglichen und mögliche Interventionen einzuleiten. Sie sollte sich der möglichen Reaktionen des Pferdes auf Dissoziation bewusst sein, die den Patienten in Unsicherheiten oder Gefahr bringen könnten (z. B. Abwurf des Reiters). Dies erfordert eine enge Begleitung der Patientin. Unbedingt sollte bei einer akut dissoziierenderen Patientin zunächst eine Re-Orientierung erfolgen, bevor sie sich auf das Pferd begibt. Die Interventionen im Kontakt mit dem Pferd unterstützen das Stoppen von Dissoziation durch Förderung von Präsenz und durch das Zurückgewinnen von Kontrolle und Handlungsfähigkeit. Fazit In der pferdegestützten Therapie von Menschen mit Traumaerfahrungen geht es in der Stabilisierungsphase um das Sichtbarmachen und Stoppen von dysfunktionalen (Trauma-) Mustern. Ein solches Muster ist das Dissoziieren. Es enthält den Verlust von Bewusstheit und Präsenz des traumatisierten Menschen. In der pferdegestützten Therapie kann den Folgen eines Traumas als ein vitales Erlebnis mit vitalen Interaktionen des Pferdes begegnet werden. Vor allem die Qualität der Präsenz, welche Pferde im Sozialverhalten und der Kommunikation zeigen, kann genutzt werden, um 1. wie eine Art Lupe das Muster des Dissoziierens sichtbar zu machen, 2. im Kontakt mit dem Pferd dieses Muster zu stoppen, indem die eigene Präsenz und das Gefühl von Kontrolle und Handlungsfähigkeit zurück gewonnen wird. gut tut. Frau T. erlebt, dass sie Nähe herstellen und sich wieder distanzieren kann. Gegenüber der phantasierten und durch Dissoziation „bewältigten“ Gefahr durch die Nähe zum Pferd stellt sich ein Gefühl von Kontrolle und Handlungsfähigkeit ein. „Der psychisch kranke Mensch, der innerlich gespalten ist und gelernt hat, ambivalent und misstrauisch auf Beziehungen zuzugehen, kann in der Begegnung mit dem Tier eine heilsame Geradlinigkeit und Eindeutigkeit erfahren. […]. Berührungen und Liebkosungen werden vom Pferd angenommen, wenn sie situativ und persönlich stimmig sind“ (Scheidhacker 1998, 56). Der Kontakt mit dem Pferd fordert ständig die eigene Präsenz und schult in vielerlei Hinsicht das Gefühl von Handlungsfähigkeit und Kontrolle. Einige weitere Interventionen seien im Folgenden kurz hervorgehoben. Liegen auf dem Pferd: Das Pferd bietet einen großflächigen Körperkontakt, über den die Patientin sowohl den Körper des Pferdes wahrnehmen als auch ihre eigene Körperlichkeit (Atmung, Muskeln, Haut) spüren kann. Bewusstes Mitschwingen im Links-Rechts- Rhythmus: Alle Kräfte und Ressourcen können in der (heilenden) Mitte zusammen kommen. Reiten in schnellen Gangarten (nicht bei akuter Dissoziation): Traben oder Galoppieren verlangt vom Reiter hohe Konzentration und Balancehalten im Hier und Jetzt und erfordert daher die bewusste Wahrnehmung des eigenen Körpers. Hufeauskratzen: Die Patientin spürt ihre Kraft beim Aufnehmen und Halten des Pferdehufes. Sie entscheidet, wann sie den Huf wieder absetzt. Anreiten zu schnelleren / Anhalten zu langsameren Gangarten: Die Patientin erfährt ihre Selbstwirksamkeit durch ihre Körpersprache: Sie kann durch Anspannung - Entspannung sowie Aufrichtung - Ausatmen das Pferd beeinflussen. 116 | mup 3|2012 Josten, Volmer - Pferde und Dissoziation ■ Hermann, J. (1994): Die Narben der Gewalt. Kindler, München ■ Huber, M. (2011): Viele sein. Ein Handbuch. Junfermann, Paderborn ■ Huber, M. (2009): Trauma und die Folgen. Trauma und Traumabehandlung. Teil 1. Junfermann, Paderborn ■ Huber, M. (2006): Wege der Traumabehandlung. Trauma und Traumabehandlung. Teil 2. Junfermann, Paderborn ■ Levine, P. A. (1998): Trauma-Heilung. Das Erwachen des Tigers. Synthesis, Essen ■ Mehlem, M. (2005): Angst und Pferde - Wege zur Bewältigung und Integration von Ängsten mit Hilfe von Pferden. In: FAPP, DKThR (Hrsg.): Psychotherapie mit dem Pferd. FN, Warendorf, 20-38 ■ Opgen-Rhein, C., Kläschen, M., Dettling, M. (2011): Pferdegestützte Therapie bei psychischen Erkrankungen. 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(2009): A pilot study on equine-facilitated psychotherapy for trauma related disorders (Vortrag beim 13. Internationalen Kongress für Therapeutisches Reiten in Münster 2009) ■ Thelle, M. (2009): Integration of psychotherapy with horses with a structured intensive psychotherapy in-patient program for severe sexual abuse (Vortrag beim 13. Internationalen Kongress für Therapeutisches Reiten in Münster 2009) ■ Van der Kolk, B., McFarlane, A., Weisaeth, L. (2000): Traumatic Stress: Grundlagen und Behandlungsansätze. Theorie, Praxis, Forschung zu posttraumatischen Stress und Traumatherapie. Junfermann, Stuttgart Literatur ■ Deutsches Kuratorium für Therapeutisches Reiten (Hrsg.) (2005): Sonderheft „Die Arbeit mit dem Pferd in Psychiatrie und Psychotherapie“. FN, Warendorf ■ FAPP, DKThR (Hrsg.) (2005): Psychotherapie mit dem Pferd. FN, Warendorf ■ Fischer, G., Riedesser, P. (2009): Lehrbuch der Psychotraumatologie. 4. Aufl. Ernst Reinhardt, München / Basel ■ Heintz, B. (2005): Lucia - Therapie einer Jugendlichen mit Posttraumatischen Belastungssyndrom. In: FAPP, DKThR (Hrsg.): Psychotherapie mit dem Pferd. FN, Warendorf, 64-75 Die Autoren Katharina Josten Dipl. Pädagogin, Weiterbildung zur syst. Beratung / Familienberatung, Reittherapeutin IPTH (i. A.), seit 2008 tätig als Reittherapeutin in der Kitzberg-Klinik Dr. phil. Jan Volmer Dipl. Pädagoge, Systemischer Therapeut und Berater (SG), Promotion an der TU Dortmund zum Thema „Traumatisierte Jungen“, seit 2006 pädagogischer Leiter der Kitzberg-Klinik Anschriften: Katharina Josten · Psychotherapeutisches Zentrum Kitzberg-Klinik Bad Mergentheim · Erlenbachweg 24 D-97980 Bad Mergentheim k.josten@ptz.de Dr. phil. Jan Volmer · Psychotherapeutisches Zentrum Kitzberg-Klinik Bad Mergentheim · Erlenbachweg 24 D-97980 Bad Mergentheim j.volmer@ptz.de