eJournals mensch & pferd international 4/3

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mup2012.art07d
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Pferdegestützte Pädagogik und Therapie in Nicaragua

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Marianne Irmler
Nicaragua und gemeinwesenorientierte Rehabilitation In Nicaragua leben etwa 593.880 Menschen mit Behinderung. Dies entspricht ca. 12,12 % der Gesamtbevölkerung (Vásquez 2003, 12). In den ländlichen Regionen steigt die Häufigkeit von Behinderungen rapide an. Infrastrukturelle Schwierigkeiten verschärfen die Situation der Landbevölkerung. Vielen Familien dienen Pferde oder andere Lasttiere als einzige Transportmöglichkeit, wodurch der Zugang zu Rehabilitationseinrichtungen deutlich erschwert ist. Es erscheint demnach notwendig, eine Alternative zur institutionellen Rehabilitation zu bieten.
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Marianne Irmler Forum Pferdegestützte Pädagogik und Therapie in Nicaragua Chancen für eine gemeinwesenorientierte Rehabilitation 124 | mup 3|2012|124-128|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel Nicaragua und gemeinwesenorientierte Rehabilitation In Nicaragua leben etwa 593.880 Menschen mit Behinderung. Dies entspricht ca. 12,12 % der Gesamtbevölkerung (Vásquez 2003, 12). In den ländlichen Regionen steigt die Häufigkeit von Behinderungen rapide an. Infrastrukturelle Schwierigkeiten verschärfen die Situation der Landbevölkerung. Vielen Familien dienen Pferde oder andere Lasttiere als einzige Transportmöglichkeit, wodurch der Zugang zu Rehabilitationseinrichtungen deutlich erschwert ist. Es erscheint demnach notwendig, eine Alternative zur institutionellen Rehabilitation zu bieten. In den 1970er und 1980er Jahren entwickelten beteiligte Fachkräfte der sonderpädagogischen Entwicklungszusammenarbeit eine partizipative und interdisziplinäre Strategie. Sie orientierten sich an den Rahmenbedingungen der Länder sowie an einem gemeinwesenbasierten Paradigma (Albrecht 1996, 17). Die bekanntesten Ansätze hierzu bilden die „Community-Based Rehabilitation“ (CBR) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das „Village Based Rehabilitation Center“ nach Werner (1996). Die CBR wurde in den 1970er Jahren von der WHO entwickelt (Zimmermann-Erlach 1993, 46). Sie widmet sich der ländlichen Bevölkerung in kleineren Gemeinden. Durch die Verbindung unterschiedlicher organisatorischer und fachlicher Ebenen entsteht eine interdisziplinäre Arbeit mit Bezug zur nationalen Ebene, zur Distriktebene und zur Gemeindeebene (Tüschenbönner 2001, 85f). Das „Joint Position Paper“ von WHO, UNESCO und ILO (1994) fasst folgende Ziele für ein CBR-Projekt zusammen: (1) Prävention und Rehabilitation von Behinderung, (2) Integration in Bildungseinrichtungen, (3) Maßnahmen zur Einkommenssicherung sowie (4) Vertretung der Rechte für Menschen mit Behinderung (WHO u. a. 2004). Durch Evaluationen bestehender Projekte zeigte sich, dass auf der Gemeindeebene 70 % der Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung gedeckt werden können (Albrecht 1997, 151). Foto 1: Nicaraguanische Sattelgurte Forum: Irmler - Pferdegestützte Pädagogik und Therapie in Nicaragua mup 3|2012 | 125 Projektentstehung Nach einer längeren Vorbereitungsphase konnte das Pilotprojekt „Therapeutisches Reiten in Nicaragua“ von September bis Dezember 2007 in Zusammenarbeit mit einem entwicklungspolitischen Bildungsprogramm und Los Pipitos durchgeführt werden. Ziel des Pilotprojekts war das Herausstellen von Bedarfen, Ressourcen und Chancen bezüglich einer Implementierung der pferdegestützten Therapie und Pädagogik auf Gemeinwesenebene. Los Pipitos arbeitet bereits seit über 20 Jahren als Elterninitiative mit über 80 Zentren in Nicaragua. Die Organisation setzt sich zusammen aus Fachpersonal sowie angelernten Eltern und Helfenden. Ein Großteil der Organisation wird von Eltern von Menschen mit Behinderung getragen. Zudem ist Los Pipitos im gesamten Land nahezu der einzige Anbieter für Rehabilitation. Mit der Kooperation zwischen Eltern, Fachkräften der Los Pipitos Zentren und Fachkräften des zentralen Instituts „Instituto médico pedagógico Los Pipitos“ (IMPP) in Managua besteht bei Los Pipitos die Verbindung zwischen nationaler Ebene, Distriktebene und Gemeindeebene. Das Pilotprojekt An fünf Seminaren zur pferdegestützten Pädagogik und Therapie nahmen 58 Fachkräfte, Eltern und sonstige Interessierte aus 20 verschiedenen Gemeinden Nicaraguas teil. Zwei der Seminare fanden in der Hauptstadt Managua statt, drei Seminare in unterschiedlichen ländlichen Gemeinden im Norden Nicaraguas. Der Fachkräfteanteil war in den Seminaren in Managua deutlich höher als in den Seminaren der ländlichen Regionen (vgl. Abb. 1). Während in den zentral in Managua organisierten Seminaren über 70 % der teilnehmenden Fachkräfte waren, nahmen in den dezentralen Seminaren teilweise über 80 % Eltern und andere Interessierte der Gemeinden teil. In den Seminaren wurden sowohl theoretisches Basiswissen wie auch praktische Fertigkeiten vermittelt. Selbsterfahrungsübungen mit dem Pferd nahmen einen großen Teil der Seminare ein (siehe Abschnitt „Selbsterfahrung in den Seminaren“). Des Weiteren war eine Gruppenarbeit, in der Ressourcen, Bedarfe und Schwierigkeiten jeder einzelnen Gemeinde diskutiert wurden, fester Bestandteil jedes Seminars. Während und zum Ende der Seminare wurden qualitative und quantitative Evaluationen im Foto 2: Auf dem Weg zu Luis’ Familie Los Pipitos muss sich besonderen Herausforderungen stellen. Der 22jährige entwicklungsverzögerte Luis (Name geändert) z. B. lebt mit seiner Familie, die sich ausschließlich von Subsistenzwirtschaft, d. h. Bedarfswirtschaft im Sinne einer Selbstversorgungsgemeinschaft ernährt, in einer dorfähnlichen Gemeinschaft. Die Entfernung zur nächsten Bushaltestelle beträgt mit dem Pferd eine Stunde. Das nächste Rehabilitationszentrum liegt weitere eineinhalb Stunden mit dem Bus entfernt, wodurch ein regelmäßiger Besuch des Zentrums für Luis deutlich erschwert ist. Alle zwei Wochen besucht eine Mitarbeiterin von Los Pipitos die Familie. 126 | mup 3|2012 Forum: Irmler - Pferdegestützte Pädagogik und Therapie in Nicaragua Rahmen von Fragebögen und Einzelgesprächen durchgeführt. Vier bis sechs Wochen nach den Seminaren wurden erneut Umfragen in den Gemeinden durchgeführt. Im Juni und Juli 2008 fand eine weitere Befragung von sechs ausgewählten Gemeinden statt. Ergebnisse Die Ergebnisse der Seminare aus Managua und die der Seminare in den ländlichen Gemeinden unterscheiden sich deutlich. Im eher städtischen Bereich waren wesentlich mehr Fachkräfte anwesend. Diesen mangelte es jedoch häufig an reiterlichen Fähigkeiten und dem regelmäßigen Umgang mit Pferden. Auf diese Weise konnten die Seminare in Managua nur einen informativen Charakter im Sinne eines Kennenlernens einer speziellen Methode der Rehabilitation haben. Demgegenüber verfügten die Teilnehmenden in den ländlichen Gemeinden nahezu durchgehend über die gesuchten Ressourcen: Zugang zu bzw. Besitz von Pferden, reiterliche Fähigkeiten, ausreichend Platz für eine Durchführung und für die Pferde und keine entstehenden Zusatzkosten, die die Teilnehmer bewusst erkannten und zu benennen wussten. Als Schwierigkeiten formulierten die Teilnehmenden dennoch häufig fehlende finanzielle Unterstützung. Zu den Umsetzungs- Pferde sind in Nicaragua in erster Linie Nutztiere. Die Beziehung zu diesem Nutztier ist eine weniger emotionale als es die Beziehung der meisten deutschen Pferdebesitzer zu ihren Tieren ist. Diese unterschiedliche Haltung gegenüber dem Tier ebenso wie ein gewisser Anteil an Analphabeten erforderte den besonders hohen Anteil an Selbsterfahrungsübungen. Hierzu wurden die Teilnehmenden in Gruppen aufgeteilt, wobei sich jede Gruppe um ein Pferd kümmerte. Die Teilnehmenden waren dafür verantwortlich, das Pferd zu putzen und es für die Selbsterfahrung vorzubereiten (Decken und Gurte anlegen). Während dieser Vorbereitung sollten die Teilnehmenden überlegen, inwiefern ein Kind mit einer Behinderung in den Prozess mit eingebunden werden könnte. Während der Selbsterfahrung nahmen die Teilnehmenden rotierend unterschiedliche Rollen ein: ein Reiter, ein Pferdeführer, zwei Begleiter, die den Reitenden unterstützen und ein Beobachter. Alle Teilnehmenden erhielten Reflexionsfragen zu ihren Rollen. Im Zentrum der Reflexionsrunde stand die Überlegung, welche Bedeutung die eigenen Erfahrungen für die Begleitung eines Kindes mit einer Behinderung haben könnten. In weiteren Selbsterfahrungsübungen erhielten die Teilnehmenden Beobachtungsprotokolle und probierten verschiedene Übungen auf und mit dem Pferd aus (z. B. auf dem Pferderücken liegen, mit geschlossenen Augen reiten usw.). Am letzten Tag konnten die Teilnehmenden die erfahrenen Phasen mit Kindern mit Beeinträchtigung erleben: das Pferd begrüßen, putzen, vorbereiten, einen Kontakt aufbauen zwischen dem Kind und dem Pferd, einzelne Übungen ausprobieren und schließlich das Pferd versorgen und sich verabschieden. In weiteren Reflexionsrunden hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit ihre Erlebnisse und Beobachtungen bei der Arbeit mit den Kindern auszutauschen und zu diskutieren, Fragen zu stellen und Umsetzungsmöglichkeiten in der eigenen Gemeinde zu erarbeiten. Selbsterfahrung in den Seminaren Forum: Irmler - Pferdegestützte Pädagogik und Therapie in Nicaragua mup 3|2012 | 127 möglichkeiten wurden unterschiedliche Entwürfe der Gemeinden erarbeitet, die jeweils auf die Ausgangslage der einzelnen Gemeinde bezogen waren. Exemplarisch wird das Ergebnis einer Frage des Fragebogens zur Evaluation der Seminare in Abbildung zwei dargestellt, welches als entscheidend für die Überprüfung der Vorgehensweise und für die Planung weiterer Vorhaben innerhalb des Projekts angesehen wird (vgl. Abb. 2). Nicht nur die Ergebnisse der Fragebögen, sondern auch die Aussagen einzelner Teilnehmenden verdeutlichen, dass für das langfristige Ziel einer Implementierung insbesondere die Auswahl der Zielgruppe für die Seminare entscheidend ist. Demnach sollten vor allem Eltern aus den ländlichen Regionen über die Möglichkeiten der pferdegestützten Therapie und Pädagogik informiert werden, um die Ressourcen des Landes zu nutzen. Dies könnte einen großen Erfolg und eine hohe Nachhaltigkeit bei geringem Aufwand und geringen Kosten bedeuten. Um geeignete Multiplikatoren hierfür zu finden, bedarf es einer engen Zusammenarbeit mit den bestehenden gemeinwesenbasierten Rehabilitationsprojekten von Los Pipitos. Ein ressourcenorientierter Ansatz im Sinne von Helander (1989) und Werner (1996) wird durch die bisherigen Ergebnisse des Projekts bestätigt. Im Anschluss an das Pilotprojekt strebte Los Pipitos zunächst eine Kooperation mit einer internationalen Entwicklungsorganisation an, um ein aufbauendes Projekt zu finanzieren. Ebenso gab es Überlegungen, das Projekt im Rahmen einer Dissertation fortzuführen und mit einer Suborganisation der Vereinten Nationen zusammenzuarbeiten. Diese Bestrebungen wurden von einer ecuadorianischen Stiftung unterstützt. Dennoch konnte aufgrund von Finanzierungsschwierigkeiten leider keine Fortführung des Pilotprojekts umgesetzt werden. 100 % 80 60 40 20 0 Managua I Managua II Condega Gemeinden Somoto Miraflor Fachkräfte Eltern Andere 100 % 80 60 40 20 0 Stadt Land ja teilweise nein Abb. 1: Struktur der Teilnehmenden der Seminare in Prozent Abb. 2: Ergebnisse der Evaluationsbögen zur Frage: „Fühlen Sie sich ausreichend vorbereitet, um einzelne Techniken der pferdegestützten Therapie und Pädagogik umzusetzen? “ 128 | mup 3|2012 Forum: Irmler - Pferdegestützte Pädagogik und Therapie in Nicaragua Die Autorin Marianne Irmler Dipl. Rehabilitationspädagogin, 2007-2011 Tätigkeit als Motopädin und Heilpädagogin, seit 10 / 2011 LfbA der C. v. O. Universität Oldenburg Anschrift: Marianne Irmler · C. v. O. Universität Oldenburg Fakultät 1 Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik Postfach 2503 · D-26111 Oldenburg marianne.irmler@uni-oldenburg.de ■ Albrecht, F. (1997): Am Gemeinwesen könnte die Sonderpädagogik genesen. Die Gemeinschaft und ihre Bedeutung für eine soziokulturell angepasste Prävention und Rehabilitation in den Ländern der Dritten Welt. In: Albrecht, F., Meiser, U. (Hrsg.): Krankheit, Behinderung und Kultur. IKO, Frankfurt am Main, 141-180 ■ Helander, E. (Hrsg.) (1989): Training in the Community for people with disabilities. Programme for the United Nations Decade of Disabled Persons. WHO, Geneva ■ Tüschenbönner, H. (2001): Behinderung in Afrika. Zur Situation und Rehabilitation behinderter Menschen im östlichen und südlichen Afrika mit besonderem Schwerpunkt der CBR. Schriftenreihe der Ev. Fachhochschule Rheinland-Westfalen- Lippe, Bochum ■ Vásquez, A. (2003): La discapacidad en América Latina. Organización Panamericana de Salud, Washington ■ Werner, D. (1996): Disabled Village Children. A Guide for community health workers, rehabilitation workers and families. The Hesperian Foundation, Palo Alto ■ WHO, UNESCO, ILO (2004): CBR. A Strategy for Rehabilitation, Equalization of Opportunities, Poverty Reduction and Social Inclusion of People with Disabilities. Joint Position Paper, In: http: / / whqlibdoc.who.int/ publications/ 2004/ 9241592389_eng.pdf, 07.12.2011 ■ Zimmermann-Erlach, M. (1993): Gemeindenahe Rehabilitation und Integration behinderter Kinder in Nicaragua - Kommunikations- und Entwicklungsförderung im Bezirk III von Managua. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Dortmund Literatur ■ Albrecht, F. (1996): Wissenschaftlicher Modetrend oder notwendiger Beitrag zur Interkulturellen Verständigung - einige Reflexionen zur Verankerung der Thematik „Behinderung und Dritte Welt“ in Forschung und Lehre an Hochschulen in deutschsprachigen Ländern. In: Bericht des Symposiums der Bundesarbeitsgemeinschaft „Behinderung und Dritte Welt“, 14.-16. Juni 1996, Cursdorf/ Thüringen, 9-23