eJournals mensch & pferd international 5/3

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Fördermöglichkeiten der koordinativen Fähigkeiten durch das Voltigieren im Rahmen des Grundschulsports

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Lea Steinsiek
Meike Riedel
Dieser Beitrag setzt sich aus sportwissenschaftlicher Sicht mit den Fördermöglichkeiten der koordinativen Fähigkeiten durch das Voltigieren im Rahmen des Grundschulsports auseinander. Für eine erfolgreiche Altersbewältigung sowie den langfristigen Erhalt der Gesundheit, aber auch für die Aneignung sportartspezifischer Fertigkeiten sind koordinative Fähigkeiten unabdingbar. In der kindlichen Entwicklung bilden diese eine elementare Basis. Vor allem in der Phase des Schulkindalters (sechs bis ca. zwölf Jahre) ist ein positiver Entwicklungszuwachs zu erkennen. Zudem gilt diese Kindheitsphase als Zeitraum der günstigen Trainierbarkeit. Aus diesem Grund ist eine gezielte Förderung der koordinativen Fähigkeiten bei Kindern im Grundschulalter nicht nur sinnvoll - vielmehr sollte sie im Mittelpunkt der sportlichen Ausbildung stehen. Vielen Studien (u. a. Bös 2003; WIAD 2008; Bös u. a. 2008) ist zu entnehmen, dass sich die koordinativen Fähigkeiten von Kindern in den letzten Jahren verschlechtert bzw. nicht in dem Ausmaß entwickelt haben, wie es im Schulkindalter eigentlich möglich ist. Der Voltigiersport kann im Rahmen des Grundschulsports eine gute Möglichkeit für eine gezielte Förderung dieser Fähigkeiten bieten. Allerdings fehlen bislang Stu­dien, die nicht nur die Effektivität nachweisen, sondern die ebenfalls Implementationsmöglichkeiten bzw. geeignete Konzepte für das Voltigieren in der Schule aufzeigen. Im folgenden Beitrag werden die Fördermöglichkeiten des Voltigiersports auf theoretischer Basis dargestellt.
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mup 3|2013|125-137|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378/ mup2013.art06d | 125 Lea Steinsiek, Meike Riedel Schlüsselbegriffe: koordinative Fähigkeiten, Schulkindalter, Abnahme der motorischen Leistungsfähigkeit, Voltigieren, Grundschule Dieser Beitrag setzt sich aus sportwissenschaftlicher Sicht mit den Fördermöglichkeiten der koordinativen Fähigkeiten durch das Voltigieren im Rahmen des Grundschulsports auseinander. Für eine erfolgreiche Altersbewältigung sowie den langfristigen Erhalt der Gesundheit, aber auch für die Aneignung sportartspezifischer Fertigkeiten sind koordinative Fähigkeiten unabdingbar. In der kindlichen Entwicklung bilden diese eine elementare Basis. Vor allem in der Phase des Schulkindalters (sechs bis ca. zwölf Jahre) ist ein positiver Entwicklungszuwachs zu erkennen. Zudem gilt diese Kindheitsphase als Zeitraum der günstigen Trainierbarkeit. Aus diesem Grund ist eine gezielte Förderung der koordinativen Fähigkeiten bei Kindern im Grundschulalter nicht nur sinnvoll - vielmehr sollte sie im Mittelpunkt der sportlichen Ausbildung stehen. Vielen Studien (u. a. Bös 2003; WIAD 2008; Bös u. a. 2008) ist zu entnehmen, dass sich die koordinativen Fähigkeiten von Kindern in den letzten Jahren verschlechtert bzw. nicht in dem Ausmaß entwickelt haben, wie es im Schulkindalter eigentlich möglich ist. Der Voltigiersport kann im Rahmen des Grundschulsports eine gute Möglichkeit für eine gezielte Förderung dieser Fähigkeiten bieten. Allerdings fehlen bislang Studien, die nicht nur die Effektivität nachweisen, sondern die ebenfalls Implementationsmöglichkeiten bzw. geeignete Konzepte für das Voltigieren in der Schule aufzeigen. Im folgenden Beitrag werden die Fördermöglichkeiten des Voltigiersports auf theoretischer Basis dargestellt. Fördermöglichkeiten der koordinativen Fähigkeiten durch das Voltigieren im Rahmen des Grundschulsports 126 | mup 3|2013 Steinsiek, Riedel - Fördermöglichkeiten der koordinativen Fähigkeiten durch das Voltigieren Die Deutsche Reiterliche Vereinigung e. V. setzt sich seit geraumer Zeit für die Einbindung des Pferdesports in die Schulstruktur ein. Die Voraussetzung für eine Implementation des Voltigiersports in die Grundschule ist eine Kooperation zwischen Schule und Reitverein / Reitbetrieb (Deutsche Reiterliche Vereinigung e. V. 2011a, 6). In Deutschland gibt es bereits eine Vielzahl solcher Kooperationen. Im Jahr 2011 wurden 1562 Kooperationen zwischen Grundschulen und Pferdesportvereinen sowie 772 Kooperationen zwischen Pferdesportbetrieben und Grundschulen gezählt (Deutsche Reiterliche Vereinigung e. V. 2011b, 6). Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten der Integration des Pferdesports in den Schulalltag. Voltigieren in der Schule kann sowohl außerunterrichtlich als auch innerhalb des Sportunterrichtes stattfinden. Die zentrale Leitidee des Schulsports ist es, zum einen durch Bewegung, Spiel und Sport die Entwicklung der Schüler zu fördern und zum anderen eine Erschließung der Bewegungs-, Spiel- und Sportkultur zu ermöglichen (Deutsche Reiterliche Vereinigung e. V. 2011a, 43). D. h., den Schülern soll die Fähigkeit für ein selbstbestimmtes und verantwortungsvolles Handeln vermittelt werden, ihre physischen Fähigkeiten sollen gestärkt sowie ihre geistig-seelischen Kompetenzen gefördert werden. Das Voltigieren fordert und fördert in besonderem Maße die koordinativen Fähigkeiten, da es bei den turnerischen Übungselementen nicht um eine alleinige adäquate Bewegungstechnik, -qualität und -ausführung geht, sondern auch um die Bewegungsabstimmung des Voltigierens auf die vom Pferd ausgehenden Bewegungen. Als weitere Argumente für die Integration des Voltigierens in die Schulstruktur sind die positiven Auswirkungen auf die Entwicklung der Sinne, der Wahrnehmung und der sozialen Kompetenz zu nennen. Neben dem Gehör-, Tast- und Geruchssinn fördert der Voltigiersport sowohl die Kooperationsbereitschaft unter den Gruppenmitgliedern als auch den respektvollen und verantwortungsvollen Umgang mit dem Pferd (Deutsche Reiterliche Vereinigung e. V. 2011a, 9). Da durch das Voltigieren die ganzheitliche kindliche Entwicklung (motorisch, geistig, sozial, physisch) gefördert werden kann, scheint es sich bezüglich der genannten Zielsetzungen als eine geeignete Sportart für den Grundschulbereich anzubieten (Deutsche Reiterliche Vereinigung e. V. 2011a, 7). Des Weiteren weisen Pferde gegenüber Kindern einen hohen Aufforderungscharakter auf. Sie motivieren Kinder zur Handlung und Bewegung. Pferde tadeln die auf ihnen turnenden Kinder nicht für das Misslingen einer Übung und erzeugen somit auch kein vermindertes Selbstbewusstsein (Kröger 1995, 13). Kinder lernen die Geduld und Toleranz der Pferde kennen. Dieses „Mitmachen“ der Pferde erzeugt so viel Motivation und Freude seitens der Kinder, wie es kaum ein anderes Medium in dem Maße erbringen und dauerhaft erzeugen kann (Greifenhagen 1993, 153). Auch wirkt die andere Umgebungssituation beim Voltigieren sehr motivierend, da alle Arbeiten in Zusammenhang mit dem Pferd (Putzen, Pflegen, Misten, Füttern) einen spannenden und interessanten Charakter aufweisen. Koordinative Fähigkeiten und ihre Systematisierung Gemeinsam mit den konditionellen Fähigkeiten bilden die koordinativen Fähigkeiten die motorischen Hauptbeanspruchungsformen und stellen die Grundlage für sportliche Leistungsfähigkeit dar. Die koordinativen Fähigkeiten sind bestimmt durch Prozesse der Bewegungssteuerung und -regulation (Meinel / Schnabel 2007, 212) und entwickeln sich auf der Basis zentralnervöser Funktionsmechanismen. Gekennzeichnet sind sie durch unterschiedliche Handlungen der Informationsaufnahme, -verarbeitung und -steuerung. Diese Operationen Es existierten bereits viele Kooperationen zwischen Grundschulen und Vereinen. Steinsiek, Riedel - Fördermöglichkeiten der koordinativen Fähigkeiten durch das Voltigieren mup 3|2013 | 127 werden von Verlaufsqualitäten, wie z. B. Genauigkeit, Geschwindigkeit, Ökonomie, Präzision, Flexibilität und Differenziertheit, gesteuert (Schnabel u. a. 2005, 127). Hinsichtlich der kindlichen Entwicklung ist eine frühe Ausbildung dieser Fähigkeiten für den Alltag, für die allgemeine Lebensbefähigung und Gesundheit sowie für sportliche Handlungen bedeutsam. Ein bedeutender positiver Effekt gut ausgebildeter koordinativer Fähigkeiten ist die Reduktion des Sauerstoffverbrauchs für muskuläre Beanspruchung, das Schonen des Stoffwechsels sowie die Ökonomisierung der Bewegungstätigkeit durch situations- und aufgabenadäquate Krafteinsätze (Meinel / Schnabel 2007, 215). Zusätzlich können diese Fähigkeiten vor Fehlbelastungen und muskulären Dysbalancen schützen, eine Entlastung des Halte- und Bewegungsapparates ermöglichen und „zur Kompensation schwächerer oder abgeschwächter anderer Funktionssysteme beitragen“ (Meinel / Schnabel 2007, 215). Darüber hinaus haben die koordinativen Fähigkeiten einen großen Einfluss auf das motorische Lernen, die Aneignung motorischer Handlungskompetenzen sowie den Erwerb sportmotorischer und sporttechnischer Fertigkeiten aufgrund der Möglichkeit, bei den entsprechenden „Lernprozessen auf die verfestigten und generalisierten Verlaufsqualitäten koordinativer Fähigkeiten“ zurückzugreifen (Martin u. a. 1999, 83). Dies äußert sich vor allem durch Schnelligkeit und Genauigkeit beim Erlernen neuer Bewegungsfertigkeiten sowie in deren Stabilität. In der Literatur werden verschiedene Modelle bezüglich der Einteilung koordinativer Fähigkeiten angeführt. Aus den unterschiedlichen Systematisierungsversuchen lassen sich zwei Ansätze hervorheben. Zunächst ist das Greifswalder Modell, welches von Hirtz (1991) entwickelt wurde, zu nennen, des Weiteren das Arbeitsmodell der Leipziger Koordinationsforscher von Meinel / Schnabel (2007, 220). Für das Greifswalder Modell hat Hirtz aus der Vielzahl der koordinativen Tabelle 1: Koordinative Fähigkeiten nach Meinel / Schnabel (2007, 221-228) Koordinative Fähigkeit Definition Differenzierungsfähigkeit Diese Fähigkeit ermöglicht die genaue Feinabstimmung einzelner Bewegungen, Bewegungsphasen und Teilkörperbewegungen bezüglich räumlicher, zeitlicher und dynamischer Parameter. Deutlich wird die Ausprägung dieser Fähigkeit in der Bewegungsgenauigkeit und -ökonomie. Kopplungsfähigkeit Fähigkeit der zielgerichteten räumlichen, zeitlichen sowie dynamischen Abstimmung von Teilkörperbewegungen untereinander und in Verbindung mit der Gesamtkörperbewegung. Reaktionsfähigkeit Fähigkeit zur raschen Einleitung und Ausführung zweckmäßiger motorischer Handlungen auf entsprechende (akustische, optische, taktile oder kinästhetische) Signale. Orientierungsfähigkeit Fähigkeit, die Lage und Bewegung des Körpers in Raum und Zeit zu bestimmen und der Intention entsprechend zu verändern. Umstellungsfähigkeit Fähigkeit, das Handlungsprogramm aufgrund von Situationsveränderungen einer neuen Gegebenheit oder Situation anzupassen bzw. dies entsprechend zu ersetzen. Gleichgewichtsfähigkeit Fähigkeit, einen Gleichgewichtszustand zu halten bzw. wiederherzustellen. Meinel / Schnabel (2007) beschreiben zwei Seiten der Gleichgewichtsfähigkeit: 1. das statische Gleichgewicht: Fähigkeit, das Gleichgewicht in Ruhestellung oder bei langsamen Körperbewegungen zu halten, 2. das dynamische Gleichgewicht: Fähigkeit, das Gleichgewicht bei deutlichen und schnellen Lageveränderungen des Körpers zu halten oder wiederherzustellen. Rhythmisierungsfähigkeit Fähigkeit, einen vorgegebenen Rhythmus aufzunehmen und die eigenen Körperbewegungen diesem Rhythmus anzupassen bzw. diesen Rhythmus in eigenen Bewegungen zu realisieren. 128 | mup 3|2013 Steinsiek, Riedel - Fördermöglichkeiten der koordinativen Fähigkeiten durch das Voltigieren Fähigkeiten fünf ausgewählt, die sowohl eine „gute Bewertbarkeit des motorischen Lernens im Kinder- und Jugendalter zulassen“, als auch bei der „Entwicklung sportlicher Leistungen eine große Rolle spielen“ (Hirtz 1991, 130). Er bezeichnet diese als fundamentale koordinative Leistungsdispositionen. Dazu gehören die kinästhetische Differenzierungsfähigkeit, die räumliche Orientierungsfähigkeit sowie die Gleichgewichtsfähigkeit. Außerdem zählt Hirtz (1991) die komplexe Reaktionsfähigkeit sowie die Rhythmusfähigkeit zu den koordinativen Fähigkeiten. Das Arbeitsmodell von Meinel / Schnabel (2007, 220) zählt im Vergleich zu Hirtz (1991) folgende sieben koordinative Fähigkeiten auf, die als besonders fundamental und leistungsbestimmend gelten: Differenzierungsfähigkeit, Kopplungsfähigkeit, Reaktionsfähigkeit, Orientierungsfähigkeit, Umstellungsfähigkeit, Gleichgewichtsfähigkeit sowie Rhythmisierungsfähigkeit (siehe Tabelle 1). Dieses Arbeitsmodell wird im Folgenden aufgrund seiner höheren Komplexität als Grundlage für die theoretische Aufarbeitung des Voltigiersports bzgl. einer Koordinationsschulung herangezogen. Entwicklung und Trainierbarkeit koordinativer Fähigkeiten Koordinative Fähigkeiten entwickeln sich besonders intensiv im Schulkindalter. Die Lebensphase des Schulkindalters beschreibt den Zeitraum vom Schuleintritt bis zum Beginn der Pubeszenz (sechs bis ca. zwölf Jahre). Dieser Gesichtspunkt ist auf eine Vielzahl von Entwicklungsprozessen, wachstumsbedingter Besonderheiten und vor allem auf die Ausreifung des Nervensystems und der Analysatoren zurückzuführen. Die Ausbildung koordinativer Fähigkeiten sollte somit in dieser Lebensphase im Mittelpunkt stehen (Weineck 2002a, 358). Das frühe Schulkindalter (sechs bis ca. zehn Jahre) ermöglicht aufgrund „der hohen Plastizität der Hirnrinde in diesem Alter in ausgeprägtem Maße die Entwicklung der koordinativen Fähigkeiten“ (Weineck 2002b, 555). Es stellt somit ein ausgezeichnetes Lernalter dar. Ausschlaggebend dafür sind neben dem Bewegungsbedürfnis der Kinder und der psychischen Ausgeglichenheit die guten körperlichen Voraussetzungen - die Kinder sind klein, leicht und haben gute Kraft- Hebel-Verhältnisse. Außerdem verfügen sie im Vergleich zur vorherigen Altersstufe über eine verbesserte Konzentrationsfähigkeit, verfeinerte Differenzierungsfähigkeit und präzisierte Informationsaufnahme- und Verarbeitungsfähigkeit (Meinel / Schnabel 2007, 286). Der Grund dafür ist die beschleunigte Ausreifung wichtiger Funktionen des Zentralnervensystems und biologischer Reifungsprozesse. Mit dem Erreichen des späten Schulkindalters (zehntes Lebensjahr bis Eintritt in die Pubertät) geht der erste Höhepunkt in der motorischen Entwicklung einher. Diese Bezeichnung hängt mit der Fähigkeit des Kindes zusammen, „neue Bewegungsfertigkeiten aufgrund der noch vorliegenden hohen Plastizität der Hirnrinde sowie die verbesserte Wahrnehmungsfähigkeit und Informationsverarbeitung, außergewöhnlich schnell zu erlernen“ (Weineck 2002b, 555). Es tritt eine weitere Verbesserung der Last-Kraft-Verhältnisse ein, bedingt durch ein vermehrtes Breitenwachstum, deutlichen Kraftzuwachs sowie eine Optimierung der Proportionen (Weineck 2002a, 358). Im Alter von ca. zehn bis elf Jahren erfolgt die Ausreifung des Vestibularapparates und anderer Analysatoren. Aus diesem Grund verfügen die Kinder bereits über eine ausgezeichnete Körperbeherrschung. Sie sind in der Lage, „hochgradig schwierige Bewegungen mit ausgeprägten räumlich-zeitlichen Orientierungsanforderungen“ auszuführen (Weineck 2002a, 357). „Die motorische Steuerungsfähigkeit und damit die Beherrschung, Sicherheit und Ökonomie der Bewegungsausführung haben sich verbessert“ (Mei- Koordinative Fähigkeiten entwickeln sich besonders intensiv im Schulkindalter. Steinsiek, Riedel - Fördermöglichkeiten der koordinativen Fähigkeiten durch das Voltigieren mup 3|2013 | 129 nel / Schnabel 2007, 298). Die koordinativen Fähigkeiten entwickeln sich nicht nur besonders gut im Schulkindalter, sondern sie weisen in dieser vorpuberalen Phase auch eine äußerst günstige Trainierbarkeit auf (sensible Phasen für die koordinative Entwicklung) (Hirtz 1994, 126). Die unterschiedlichen koordinativen Fähigkeiten bilden sich aber nicht linear und gleichzeitig aus, sondern zu verschiedenen Zeitpunkten und ggf. in Abhängigkeit voneinander. Die kinästhetische Differenzierungsfähigkeit „ist bei Schuleintritt noch relativ gering ausgeprägt“, entwickelt sich aber sehr rasch innerhalb der ersten Schuljahre (Hirtz 1991, 134). Mit etwa zwölf bis dreizehn Jahren ist ein erster Höhepunkt erreicht (Hirtz 1991, 134). Die Gleichgewichtsfähigkeit entwickelt sich dynamisch zwischen dem siebten und zwölften / dreizehnten Lebensjahr. Anschließend ist nur noch ein geringer Leistungszuwachs bis hin zur Stagnation zu verzeichnen (Hirtz 1991, 136). Die räumliche Orientierungsfähigkeit entwickelt sich während der Schulzeit relativ kontinuierlich und erreicht erst im jungen Erwachsenenalter ihr Optimum. Entwicklungsschübe gibt es zwischen dem siebten und neunten Lebensjahr und zwischen dem dreizehnten und sechzehnten Lebensjahr (Hirtz 1991, 135). Die komplexe Reaktionsfähigkeit folgt keinem kontinuierlichen Verlauf, sie erreicht jedoch im jüngeren Erwachsenenalter ihren Höhepunkt. Jungen entwickeln sich in ihrer Reaktionsfähigkeit stets weiter, während bei den Mädchen eine Stagnation bis zum Erreichen des sechzehnten Lebensjahres zu verzeichnen ist. Training kann sowohl bei Jungen als auch bei Mädchen die Leistung positiv beeinflussen (Hirtz 1991, 137). Die Rhythmusfähigkeit entwickelt sich bis zum elften bzw. dreizehnten Lebensjahr rasch. Im Anschluss daran erfolgt eine deutlich langsamere Entwicklung bzw. Stagnation. Ein mehrmaliges Training in der Woche wirkt sich positiv auf die Rhythmusfähigkeit aus (Hirtz 1991, 138). Die Kopplungsfähigkeit hat enge Verbindungen zur Differenzierungs- und Rhythmusfähigkeit. Aus diesem Grund treten in den entsprechenden sensiblen Phasen weitgehende Übereinstimmungen auf. Den Entwicklungshöhepunkt der Kopplungsfähigkeit erreichen Kinder zwischen zehn und zwölf Jahren (Graumann / Weitendorff 1999, 25). Da die Umstellungsfähigkeit eng mit der Reaktions- und Orientierungsfähigkeit verknüpft ist, läuft die Entwicklung dieser Fähigkeiten gemeinsam ab. Die einzelnen Fähigkeiten bedingen sich in ihren Entwicklungen wechselseitig. Des Weiteren ist die Umstellungsfähigkeit in besonderem Maße von den sportartspezifischen Erfahrungen eines Sportlers abhängig. „Dadurch wächst diese koordinative Fähigkeit mit der Dauer und der Intensität des Betreibens einer Sportart“ (Graumann / Weitendorff 1999, 33). Bestandsaufnahme koordinativer Fähigkeiten bei Grundschulkindern Im Folgenden wird ein kurzer Forschungsüberblick hinsichtlich der motorischen Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen gegeben. Verschiedene Studien haben versucht, eine Bestandsaufnahme der motorischen Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen in den letzten drei Jahrzehnten zu machen, um etwaige Veränderungen bzw. säkulare Trends aufzeigen zu können. Allerdings weisen die Studien Probleme in der Vergleichbarkeit hinsichtlich Methodiken, Testverfahren, Stichproben und Ergebnisdarstellungen auf, so dass sich generalisierte Aussagen als sehr schwierig erweisen. Übersichtsarbeiten zur motorischen Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen lieferten Dordel (2000a), Dordel u. a. (2000b) und Gaschler (1999, 2000, 2001). Sie haben die Ergebnisse unterschiedlicher Studien zusammengetragen. Gaschler hat z. B. im Jahr 1987 die Die koordinativen Fähigkeiten weisen im Schulkindalter eine gute Trainierbarkeit auf. 130 | mup 3|2013 Steinsiek, Riedel - Fördermöglichkeiten der koordinativen Fähigkeiten durch das Voltigieren koordinativen Fähigkeiten von Kindern zwischen sechs und sieben Jahren mit Hilfe des Koordinationstest für Kinder (KTK) untersucht. Bei 31 % der Probanden wurde eine auffällige Koordination festgestellt. In einer weiteren Untersuchung Gaschlers ermittelte der KTK sogar bei 39 % Auffälligkeiten hinsichtlich der Koordination bei den Sechsbis Siebenjährigen (Schmidt u. a. 2006, 93 f). Prätorius / Milani (2004, 172) haben eine Untersuchung zur Koordinations- und Gleichgewichtsfähigkeit durchgeführt, wobei ein besonderes Augenmerk auf das Leistungsgefälle zwischen Kindern mit verschiedenen Sozialisationsbedingungen gelegt wurde. Sie weisen darauf hin, „dass sich die allgemeine Koordinationsfähigkeit im Mittel in den letzten Jahren nicht wesentlich verschlechtert hat“. Allerdings war die Verteilung der erreichten Punktzahl deutlich heterogener als in der Vergleichsstudie von Schilling aus dem Jahr 1974 (Prätorius / Milani 2004, 175). „Im Vergleich zu Schilling hat sich die Zahl der als auffällig oder gestört klassifizierten Kinder deutlich gesteigert“ (Prätorius / Milani 2004, 175). Des Weiteren sei ein deutliches Gefälle zwischen Kindern mit verschiedenen Sozialisationsbedingungen erkennbar. Demgegenüber konnte nachgewiesen werden, dass sich die sportliche Aktivität positiv auf die Koordinations- und Gleichgewichtsfähigkeit auswirkt (Prätorius / Milani 2004, 172). Raczek (2002, 201 f) untersuchte die Entwicklungsveränderungen der motorischen Leistungsfähigkeit der Schuljugend zwischen 1965 und 1995. Neben Schnellkraft, Ausdauer und Schnelligkeit wurde die Gewandtheit überprüft. „Im Entwicklungsverlauf der koordinativ-motorischen Leistungen konnten […] keine bedeutenden regressiven und progressiven Veränderungen beobachtet werden“. Allerdings ist eine Leistungsstagnation erkennbar (Raczek 2002, 204). Die ebenso als Längsschnitt angelegte WIAD- Studie (2008) zeigte einen generellen Rückgang der motorischen Leistungsfähigkeit auf (Stichprobe: N = 96646; Testverfahren: Münchener Fitness Test; sechs Erhebungszeitpunkte von 2001- 2006). Als „leicht rückläufig“ beschreibt Ziroli (2009) in seiner Längsschnittstudie die motorische Leistungsfähigkeit (Stichprobe: N = 681; Testverfahren MFT; sechs Erhebungszeitpunkte von 2002-2007), wobei er auffällige Schwankungen konstatierte. Von 2003 bis 2006 wurde vom Robert Koch- Institut die sogenannte KiGGs-Studie (Kinder- und Jugendgesundheitssurvey) durchgeführt (Starker u. a. 2007, 776). Zu den getesteten Dimensionen gehören Kraft, Koordination, Ausdauer und Beweglichkeit. Es wurden Kinder und Jugendliche zwischen vier und siebzehn Jahren untersucht. Bei dieser Altersgruppe liegt der Untersuchungsschwerpunkt bei der Erfassung der koordinativen Fähigkeiten (Bös u. a. 2002, 81 f). Bei allen Testaufgaben nimmt die Leistungsfähigkeit im Altersverlauf zu (Starker u. a. 2007, 782; Schmidt 2008, 154). Allerdings stagniert die körpergewichtsbezogene Leistungsfähigkeit, so dass sich der Leistungszuwachs vermutlich vor allem durch die konstitutionellen Veränderungen erklären lässt. „Die Kinder nehmen von sechs bis zehn Jahren deutlich an Größe und Gewicht zu“ (Schmidt 2008, 155). Aus diesem Grund kann von einer Leistungsstagnation gesprochen werden, da der Leistungszuwachs weniger auf die Verbesserung und Anpassung motorischer Prozesse zurückzuführen ist. Diese Ergebnisse überraschen, da dieser Lebensabschnitt als ideale Lern- und Entwicklungsphase angesehen wird (Schmidt 2008, 472). Es konnte ein Zusammenhang zwischen der sportlichen Aktivität und den Ergebnissen bezüglich der Koordination nachge- Verschiedene Studien haben eine Bestandsaufnahme der motorischen Leistungsfähigkeit gemacht. Steinsiek, Riedel - Fördermöglichkeiten der koordinativen Fähigkeiten durch das Voltigieren mup 3|2013 | 131 wiesen werden. Außerdem zeigen die Ergebnisse, dass Kinder mit einem niedrigen sozialen Status über eine geringere koordinative Leistungsfähigkeit verfügen (Starker u. a. 2007, 779-782). Bös (2003) und Bös u. a. (2008) haben in zwei großen Analysen die Ergebnisse aus 105 Studien zur motorischen Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen von 1965 bis 2005 auf der Datenbasis von „mehreren 100.000 Testpersonen im Alter von sechs bis siebzehn Jahren“ (Bös 2003, 100) miteinander verglichen. Beide Analysen (Bös 2003; Bös u. a. 2008) bilanzieren, dass die motorische Leistungsfähigkeit in den letzten 30 bis 40 Jahren um ca. 8 % zurückgegangen ist - jedoch weisen sie aufgrund z. T. unterschiedlicher Testdesigns auf eine mögliche eingeschränkte Aussagekraft hin (Bös u. a. 2008, 156). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Testergebnisse der verschiedenen Studien sehr unterschiedlich ausfallen und kaum vergleichbar sind. Festzuhalten ist aber, dass es eine Vielzahl von Kindern im Grundschulalter gibt, die Defizite hinsichtlich der koordinativen Fähigkeiten bzw. Koordinationsschwächen haben und somit einen Förderbedarf aufzeigen. Fördermöglichkeiten Im Folgenden werden die Fördermöglichkeiten des Voltigiersports hinsichtlich der koordinativen Fähigkeiten dargestellt. Beim Voltigieren stehen Bewegungstechnik, Ausführung und Bewegungsqualität im Vordergrund. „Verschiedene Einzelbewegungen müssen zu einem flüssigen Gesamtablauf verbunden werden“ (Deutsche Reiterliche Vereinigung e. V. 2006, 144). Außerdem müssen die entsprechenden Bewegungen mit den Bewegungen des Pferdes und unter Umständen mit Bewegungen des Partners oder der Partner koordiniert werden. Die vom Pferd ausgehenden Bewegungsimpulse verlangen dem Kind stetige Anpassungsreaktionen bzw. -bewegungen ab, da das Übertragen der Bewegungsimpulse in nicht immer gleichbleibender Weise geschieht. Das Pferd kann sowohl von seiner Zirkelbahn nach innen oder außen abweichen, als auch das Tempo in der jeweiligen Gangart variieren. Die Fördermöglichkeiten ergeben sich durch die Bewegungen des Pferdes von ganz alleine, denn „die vom Pferd ausgehenden Bewegungsimpulse im Schritt oder Galopp (wahlweise auch im Trab) sind von entscheidender Bedeutung, um die Bewegungsgrundlagen, wie Gleichgewicht, Reaktionsfähigkeit, kinästhetische Differenzierungsfähigkeit sowie Orientierungsfähigkeit zu schulen“ (Ringbeck 1995, 24). In der Literatur (Gast/ Rüsing-Brüggemann 1991; Rosemann 2006; Deutsche Reiterliche Vereinigung e. V. 2011a) wird das Voltigieren als eine Sportart mit vielseitigen Angeboten zum Training und zur Förderung koordinativer Fähigkeiten beschrieben. So werden verschieden Übungen, Spiele, vor allem Gruppenspiele mit dem Pferd, Parcours zum Führen und zur Langzügelarbeit, aber auch Arbeiten rund ums Pferd wie z. B. Pflegen, Misten oder Füttern benannt. In Tabelle 2 werden verschiedene Möglichkeiten zur Förderung koordinativer Fähigkeiten durch das Voltigieren exemplarisch aufgeführt. Viele Übungen und Spiele schulen nicht nur eine, sondern mehrere koordinative Fähigkeiten. Die Auflistung der turnerischen Übungen und Spiele zeigt lediglich einige Beispiele. Es gibt eine Vielzahl weiterer Übungen und Spiele am und auf dem Pferd im Rahmen des Voltigierens. Neben den positiven Effekten hinsichtlich der koordinativen Fähigkeiten kann sich das Voltigieren auch positiv auf die Muskulatur, die Körperhaltung (Riedel/ Zimmermann 2008), das Herzkreislaufsystem, die Psyche sowie der Wahrnehmung auswirken. Eine weitere Begründung für eine Integration dieser Sportart in die Schulstruktur stellt das Förderpotential hinsichtlich der Sozialkompetenzen dar. Zusätzlich ist anzu- Eine Vielzahl an Grundschulkindern weist einen Förderbedarf auf. 132 | mup 3|2013 Steinsiek, Riedel - Fördermöglichkeiten der koordinativen Fähigkeiten durch das Voltigieren Tabelle 2: Exemplarische Auflistung von turnerischen Übungen und Spielen mit und auf dem Pferd Förderung der Gleichgewichtsfähigkeit: Die eigene Bewegungsausführung muss mit den Bewegungen des Pferdes abgestimmt werden. Der Voltigierer turnt auf einer kleinen Unterstützungsfläche wie Hals, Rücken oder Kruppe des Pferdes, was besondere Anforderungen an das Balancevermögen stellt. Des Weiteren muss beim Voltigieren den auftretenden Fliehkräften entgegengewirkt werden, was ein stetiges Einstellen auf die wechselnden Gleichgewichtsbedingungen erfordert (Deutsche Reiterliche Vereinigung e. V. 2006a, 144). Fahne Aus der Bankstellung, ähnlich dem Vierfüßlerstand, wird die Fahne aufgebaut, indem das äußere Bein und ggf. der innere Arm nacheinander oder auch gleichzeitig ausgestreckt werden. Durch die Hinzunahme des diagonalen Armes wird die Unterstützungsfläche minimiert und die Anforderung an das Gleichgewicht gesteigert (Deutsche Reiterliche Vereinigung e. V. 2006a, 134 f). Schneidersitz Der Schneidersitz leistet einen guten Beitrag zur Gleichgewichtsfindung, da die Übung auf einer geringen Kontaktfläche mit dem Pferd geturnt wird (Kröger 2005, 144 f). Wanderball Ein Ball wird von dem Voltigierer zu einem der anderen Kinder geworfen. Der Voltigierer dreht sich danach in die Wurfrichtung um. Anschließend wirft das Kind, welches den Ball gefangen hat, diesen zurück zu dem Voltigierer. Der Voltigierer muss sich beim Fangen des Balls sehr gut ausbalancieren und gleichzeitig auf das Ballfangen konzentrieren können (Rosemann 2006, 96). Förderung der Differenzierungsfähigkeit: Die Differenzierungsfähigkeit fungiert als Grundlage für die ökonomische Abstimmung von Bewegungen oder Bewegungsimpulsen sowie für den erforderlichen Krafteinsatz der einzelnen Übungen. Sie ist entscheidend für eine hohe Bewegungsgenauigkeit und hat somit großen Einfluss auf das Ausführen vorgegebener Übungen gemäß der Leitbilder (Deutsche Reiterliche Vereinigung e. V. 2006a, 146). Orientalische Fahne Die Wahrnehmung der eigenen Körperposition kann durch das Einnehmen vorgegebener Positionen, besonders die Arme und Beine betreffend, erfahren werden. Es wird eine Fahne mit Arm und Bein durchführt, wobei die Extremitäten nicht gestreckt, sondern im rechten Winkel gehalten werden (Gast/ Rüsing-Brüggemann 2001, 114). Steinsiek, Riedel - Fördermöglichkeiten der koordinativen Fähigkeiten durch das Voltigieren mup 3|2013 | 133 Zielwürfe durch gehaltene Reifen Die Kinder stehen auf dem Außenzirkel und halten jeweils einen Reifen hoch. Der Voltigierer wirft verschiedene Wurfelemente wie Bälle, Ringe, Würfel oder Sandsäckchen durch die Reifen (Rosemann 2006, 100). Förderung der Kopplungsfähigkeit: Um räumlich, zeitlich und dynamisch aufeinander abgestimmte Teilbewegungen zu verbinden, ist eine gut ausgebildete Kopplungsfähigkeit von Nöten. Diese wird beim Voltigieren z. B. beim Verbinden von Schwingen und Stützen in Schwungübungen oder auch bei einer Abfolge mehrerer Kürübungen gefordert (Deutsche Reiterliche Vereinigung e. V. 2006a, 146). Gegengleiches Armkreisen im Knien Im Knien auf dem Pferderücken werden beide Arme in entgegengesetzte Richtung gekreist. Alternativ können beide Arme unterschiedliche Bewegungen ausführen, z. B. klopft eine Hand auf den Bauch und die andere führt Kreise auf dem Kopf durch. Umsitzer Durch die Aneinanderreihung verschiedener Übungen entstehen Übergänge und Verbindungen, die die Kopplungsfähigkeit besonders schulen. Sie ermöglichen eine harmonische Verbindung zwischen einzelnen Übungen. Beispiele sind Rollen, Drehungen, Umsteiger etc. Eine Möglichkeit des Übergangs stellt die Drehung zum Vorwärtssitz vor den Gurt dar. Aus dem Innensitz stützt der Voltigierer sich auf das rechte Bein (wenn auf der linken Hand voltigiert wird) und auf die Arme, hebt das Gesäß an und führt dann das linke Bein hoch über den Pferdehals nach außen. Dieser Übergang kann ebenso vom Hals auf den Rücken geturnt werden. Förderung der Orientierungsfähigkeit: Beim Voltigieren wechselt der Sportler häufig zwischen verschiedenen Positionen und Richtungen bezüglich des Pferdes. An dieser Stelle wird die Bedeutung der Orientierungsfähigkeit deutlich. Eine weitere Anforderung an die Orientierungsfähigkeit ist durch die Vorwärtsbewegung des Pferdes auf der Zirkellinie gegeben, denn das Pferd verändert dabei ständig seine Lage. Somit müssen sich die Voltigierer in jeder Situation orientieren können, um die Lage ihres Körpers im Raum wahrzunehmen und verändern zu können (Deutsche Reiterliche Vereinigung e. V. 2006a, 145). Rolle rückwärts auf den Pferdehals Die Rolle rückwärts auf den Hals beginnt aus dem Rückwärtssitz auf dem Pferderücken. Der Voltigierer rutscht nun so weit nach hinten Richtung Kruppe, dass er sich auf den Rücken legen kann. Anschließend ergreift er beide Griffe (Kammgriff) und führt seinen Kopf unter einem Arm durch, sodass er unterhalb des Griffes liegt. Aus dieser Position rollt der Voltigierer über die Schulter auf den Pferdehals (Gast/ Rüsing-Brüggemann 2001, 109). 134 | mup 3|2013 Steinsiek, Riedel - Fördermöglichkeiten der koordinativen Fähigkeiten durch das Voltigieren Slalom Alle Kinder laufen im Schritt oder Trab hintereinander hinter dem Pferd her. Das erste Kind dreht sich um und läuft im Slalom durch die Reihe und schließt sich hinten an. Nun ist das nächste Kind an der Reihe (Kröger 2005, 127). Förderung der Rhythmisierungsfähigkeit: Die Rhythmisierungsfähigkeit bildet die Grundlage für ein harmonisches Zusammenwirken von Voltigierer und Pferd, d. h. für das Anpassen an den Rhythmus der jeweiligen Gangart des Pferdes und zusätzlich für das Umsetzen vorgegebener Rhythmen bei allen Übungen (Deutsche Reiterliche Vereinigung e. V. 2006a, 145). Mühle: Bei der Mühle handelt es sich um eine ganze Drehung im Sitz. Aus dem Grundsitz wird eine Vierteldrehung zum Innenquersitz eingeleitet, wobei das äußere Bein in einem Bogen gestreckt über die Griffe geführt wird. Anschließend erfolgt eine Vierteldrehung zum Rückwärtssitz usw., bis der Voltigierer wieder die Ausgangsposition des Grundsitzes erreicht hat (Deutsche Reiterliche Vereinigung e. V. 2006a, 120 f). „Alle Phasen der Mühle müssen in der Pflicht in einem gleichmäßigen Takt (Rhythmus) aufeinander folgen. Dabei entspricht ein Galoppsprung einem Takt“ (Deutsche Reiterliche Vereinigung e. V. 2006a, 122). Zur Übung bietet es sich an, die Mühle im Galopp in einem anderen Takt oder in allen Gangarten zu üben (Rieder 2002, 97). Pferd rhythmisch klopfen Der Voltigierer klopft sitzend im Rhythmus der jeweiligen Gangart das Pferd am Hals, am Rücken etc. Variationen können ein beidhändiges oder einhändiges, gleichzeitiges oder diagonales Klopfen bei jedem Schritt, Tritt oder Sprung oder nur hin und wieder in einem festgelegten Abstand sein. Darüber hinaus kann ein lautes Mitzählen des Taktes in unterschiedlichen Positionen mit geöffneten oder geschlossenen Augen die Rhythmisierungsfähigkeit fördern (Peiler / Peiler 2004, 135). Förderung der Reaktionsfähigkeit: Die Reaktionsfähigkeit ist bedeutsam, da der Voltigierer jederzeit auf plötzliche Situationsveränderungen, die vom Pferd durch Bewegungsfehler oder evtl. einen Partner ausgelöst werden können, reagieren muss (Deutsche Reiterliche Vereinigung e. V. 2006a, 145). Die Reaktionsfähigkeit kann geschult werden, indem der Voltigierer auf akustische (Ansage von Zahlen, die für bestimmte Übungen stehen) oder optische (unterschiedlich farbige Karten) Signale bestimmten Aufgaben nachkommen muss. Zipp-Zapp Mühle Der Voltigierer turnt eine Mühle nach rechts. Bei dem Kommando „zipp“ muss er die Mühle nach rechts fortsetzen, bei „zapp“ muss die Mühle links herum weiter geturnt werden. Anlaufspiel Die Kinder stehen nebeneinander außerhalb des Zirkels. Jedes Kind bekommt eine Nummer zugeteilt. Der Longenführer ruft eine oder mehrere Zahlen. Die jeweiligen Kinder laufen hinter dem Pferd zum Longenführer und laufen an der Longe entlang zum Gurt und klopfen das Pferd. Anschließend nehmen sie ihren Ausgangsplatz in der Reihe wieder ein usw. (Rosemann 2006, 84). Steinsiek, Riedel - Fördermöglichkeiten der koordinativen Fähigkeiten durch das Voltigieren mup 3|2013 | 135 Förderung der Umstellungsfähigkeit: Die Umstellungsfähigkeit ist im Voltigiersport von grundlegender Bedeutung, da der Voltigierer sich jeder Zeit schnell wechselnden Bedingungen anpassen muss (Deutsche Reiterliche Vereinigung e. V. 2006a, 145). Diese Fähigkeit lässt sich also durch eine bewusste Veränderung der Bedingungen fördern. So können Partnerübungen beispielsweise mit wechselnden Partnern, Übungen in allen drei Gangarten nacheinander, Übungen auf beiden Händen des Pferdes oder Übungen mit Veränderung der Ausgangs- oder Zielposition durchgeführt werden. Weiterhin lässt sich die Umstellungsfähigkeit durch Voltigieren auf unterschiedlichen Pferden mit unterschiedlichem Bewegungsausmaß, aber auch durch Voltigieren an unterschiedlichen Orten (drinnen oder draußen, auswärts etc.) trainieren. merken, dass das Lebewesen „Pferd“ bei vielen Kindern eine Faszination auslöst und somit als Motivationsfaktor fungieren kann. Fazit Schaut man sich die Ergebnisse der Bestandsaufnahme der motorischen Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen an, zeigen diese eine Abnahme der koordinativen Fähigkeiten gegenüber früheren Generationen auf. Des Weiteren implizieren sie, dass für einige Kinder eine gezielte Förderung dringend notwendig ist. Erste theoretische Überlegungen belegen, dass sich der Voltigiersport aufgrund seines vielfältigen koordinativen Anforderungsprofils als explizite Trainings- und Fördermaßnahme koordinativer Fähigkeiten sehr gut eignet. Da gerade das Schulkindalter als Zeitraum der günstigen Trainerbarkeit dieser Fähigkeiten gilt, scheinen sich Voltigierangebote im Rahmen des Grundschulsports (Schulunterricht, AG oder Offener Ganztag) als geeignete Maßnahme anzubieten. Darüber hinaus ist das Besondere dieser Sportart im Einsatz des Mediums Pferd zu sehen. Tiere stellen für Kinder oftmals Identifikationsobjekte dar, und somit ist davon auszugehen, dass Pferde zum Voltigieren und letztlich zum Sport motivieren können. Kindern mit koordinativem Förderbedarf fehlt nicht selten der Anreiz sich sportlich zu betätigen, da sie sportliche Aktivität fast immer mit Frustrationserlebnissen assoziieren. Insbesondere für diese Kinder kann sich der Voltigiersport gut eignen, da sie im Umgang mit und beim Turnen auf einem so großen Tier Freude und Stolz erleben. Damit können der Frustration und dem häufig mangelndem Selbstbewusstsein entgegengewirkt werden. Dieser Beitrag soll aber auch verdeutlichen, dass es bisher kaum Studien zur Effektivität der Förderung koordinativer Fähigkeiten durch das Voltigieren gibt, und einen Anreiz dazu geben, dieses Thema in Zukunft mit größerem wissenschaftlichem Interesse zu behandeln. Ferner soll er dazu anregen, umsetzbare Konzepte zur Implementation des Voltigiersports in die Grundschule zu entwickeln, um die motorischen Fähigkeiten der Schüler positiv zu beeinflussen und ihnen vor allem einen Einblick in eine sonst eher unbekannte und vor allem für den Schulsport untypische Sportart zu geben. Literatur ■ Bös, K. (2003): Motorische Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen. In: Schmidt, W., Hartmann-Tews, I., Brettschneider, W.-D. (Hrsg.): Erster Deutscher Kinder- und Jugendsportbericht. 2. Aufl. Hofmann, Schorndorf, 85-107 ■ Bös, K., Oberger, J., Lämmle, L., Opper, E., Romahn, N., Tittlbach, S., Wagner, M., Woll, A., Worth, A. (2008): Motorische Leistungsfähigkeit. In: Schmidt, W. 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