eJournals mensch & pferd international 5/1

mensch & pferd international
2
1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2013
51

Begleitete Mitarbeit im Pferdestall

11
2013
Susanne Kupper-Heilmann
Anke Dreher
Die Idylle schlechthin: Menschen mit Behinderungen und ein Reiterhof. Die Arbeit mit den Pferden, das Ausmisten, Füttern, auf die Koppel bringen der Pferde aus dem Therapiebereich sowie der Pferde von externen Einstellern, wird „wie im Bilderbuch“ von Menschen mit Behinderungen übernommen. So jedoch kann es nicht gelingen. Es ist nicht „so einfach“ möglich, sehr unterschiedliche Menschen mit Behinderungen „nebenbei“ im Arbeitsalltag eines Reiterhofes „mitlaufen“ zu lassen, und mündet oft in stundenlangem Hofkehren oder auch gegenseitiger Enttäuschung
2_005_2013_1_0005
28 | mup 1|2013|28-34|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel Forum Begleitete Mitarbeit im Pferdestall ein Bestandteil der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd Susanne Kupper-Heilmann, Anke Dreher „Der junge Mensch braucht seinesgleichen - nämlich Tiere, überhaupt Elementares, Wasser, Dreck, Gebüsch, Spielraum. Man kann ihn auch ohne das alles aufwachsen lassen, mit Teppichen, Stofftieren, oder auch auf asphaltierten Straßen und Höfen. Er überlebt es - doch man sollte sich dann nicht wundern, wenn er später bestimmte soziale Grundleistungen nie mehr erlernt, z. B. ein Zugehörigkeitsgefühl zu einem Ort und Initiative. Um Schwung zu haben, muss man sich von einem festen Ort abstoßen können, ein Gefühl der Sicherheit erworben haben.“ Alexander Mitscherlich (1965) Die Idylle schlechthin: Menschen mit Behinderungen und ein Reiterhof. Die Arbeit mit den Pferden, das Ausmisten, Füttern, auf die Koppel bringen der Pferde aus dem Therapiebereich sowie der Pferde von externen Einstellern, wird „wie im Bilderbuch“ von Menschen mit Behinderungen übernommen. So jedoch kann es nicht gelingen. Es ist nicht „so einfach“ möglich, sehr unterschiedliche Menschen mit Behinderungen „nebenbei“ im Arbeitsalltag eines Reiterhofes „mitlaufen“ zu lassen, und mündet oft in stundenlangem Hofkehren oder auch gegenseitiger Enttäuschung. Aus diesen Erfahrungen heraus entwickelte das Reittherapeutische Zentrum Waldhof in den Jahren 2010 / 11 unter der Leitung von Susanne Kupper-Heilmann das Konzept „Begleitete Mitarbeit im Pferdestall“ und versuchte so, Menschen mit Behinderungen das Mitarbeiten im zentrumseigenen Therapiepferdestall als Ort für Erfahrungen zugänglich zu machen. Unser Verständnis der begleiteten Mitarbeit im Stall beruht auf den Grundlagen der Psychoanalytischen Pädagogik (Muck / Trescher 1993). Wir gehen davon aus, dass wir in einem möglichst gefahrenreduzierten Raum Menschen mit Behinderungen sinnvolle und als solche nachvollziehbare und erlebbare Aufgaben übertragen und deren Ausführung aus Aspekten der Sicherheit für Mensch und Pferd begleiten. Dazu zählt, dass eine Scheinwirklichkeit vermieden wird. Ziel ist es, gemeinsam zu kooperieren, Wege zu finden, die es dem Einzelnen ermöglichen, Teilbereiche oder auch komplette Handlungsabläufe alleine oder in Kooperation tatsächlich zu übernehmen. Die Mitarbeit ist kein „Spaß“ (wenngleich es oft allen Beteiligten tatsächlich viel Spaß bereitet), die man nach Lust und Laune „mal“ macht oder auch „mal“ ausfallen lässt, sondern es ist eine fest verabredete (unterschiedlich) lange Zeit der Mitarbeit. Unentschuldigtes Fernbleiben wird den Betreuern (aus dem Wohnbereich oder der Einrichtung) rückgemeldet, und es werden Lösungen gesucht, um eine verbindliche Mitarbeit zu ermöglichen. Das Ganze findet statt im Spannungsfeld zwischen der Förderung und Akzeptanz von Menschen mit Behinderungen einerseits und der Verantwortung den Pferden gegenüber andererseits, die nicht zum reinen „Objekt der Förderung“ gemacht werden dürfen. Forum: Kupper-Heilmann, Dreher - Begleitete Mitarbeit im Pferdestall mup 1|2013 | 29 Die „begleiteten Mitarbeiter“ Der Personenkreis, mit dem in der begleiteten Stallarbeit gearbeitet wird, hat kognitive, psycho-emotionale und / oder körperliche Defizite. Dabei gilt es zu beachten, dass Menschen mit geistiger Behinderung (Senckel 2006) einen ungleich längeren Lernprozess benötigen, um beispielsweise Erfahrungen zu speichern. Dies bedeutet, dass über das Erwachsenenalter hinaus ein hoher Lernbedarf besteht (Hahn 1999, 22). In den letzten zwei Jahren arbeiteten sehr unterschiedliche Menschen mit. Aus dem Betreuten Wohnen vor Ort waren es drei Frauen mit geistiger Behinderung, die jeweils einen Abend in der Woche regelmäßig beim Füttern, Pferde von den Paddocks holen und Weiden abäppeln halfen. Aus einer großen Behinderteneinrichtung waren es drei Erwachsene mit geistiger Behinderung, die ganz unterschiedliche Teilaspekte der abendlichen Versorgung der Pferde einmal pro Woche übernahmen und dort mitarbeiteten. Aus dem Wohnheim gab es einen erwachsenen Mann, der einmal pro Woche einen ganzen Vormittag regelmäßig handwerkliche Tätigkeiten verrichtete und am Füttern am Mittag beteiligt war. Zusätzlich gab es noch etliche körperlich und / oder geistig behinderte Kinder und Jugendliche, die im Rahmen des Heilpädagogischen Reitens das selbstständige Abäppeln der Reithalle mit einem Schubkarren und die Entsorgung des Pferdemistes auf dem hofeigenen Misthaufen vornahmen. Alle diese sehr unterschiedlichen Bereiche bedurften der Strukturierung im Vorfeld, der Anleitung und der individuellen Begleitung, um zu einem guten Ergebnis zu führen. Die Begleiter Die professionellen Begleiter der begleiteten Mitarbeit sind unterschiedlich ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Reittherapeutischen Zentrums: Pferdepflegerinnen, Stallmitarbeiter, Studentinnen, Fachkräfte aus dem Heilpädagogischen Reiten und dem Reiten als Sport für Menschen mit Behinderungen. Je nach dem individuellen Arbeitsfeld der begleitenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden individuelle Arbeiten gesucht und gefunden. So unterschied sich die begleitete Mitarbeit von Menschen mit Behinderungen aus dem Betreuten Wohnen vor Ort in Begleitung der Pferdepflegerin von der begleiteten Mitarbeit von Klienten aus dem Heilpädagogischen Reiten in Begleitung und Anleitung durch eine Fachkraft aus dem Heilpädagogischen Reiten. Während bei den Letztgenannten, zum Beispiel bei einem autistischen jungen Mann, die begleitete Stallarbeit darin bestand, ein einziges Pferd zu erkennen, mit Heu und Kraftfutter zu füttern und dessen Paddock abzuäppeln - so bestand die Mitarbeit der Erstgenannten daraus, alle Pferde des Therapiestalls zu füttern, ggf. Stroh oder Späne aufzufüllen, alle Paddocks abzuäppeln u. s. w. Schriftliche Reflexion Die professionellen Begleiter der begleiteten Stallarbeit fassen ihre Eindrücke nach jeder Stallschicht kurz schriftlich in einem „Stallbuch“ zusammen. Durch diese Notizen ist es möglich, in der Reflexion gemeinsam zu erkennen, dass das Befüllen der Futtereimer eine für des Lesens nicht mächtige Menschen schwierige Arbeit ist. Daraus resultierte, dass ein Symbol-Futtersystem entwickelt wurde. Ohne die schriftlichen Skizzierungen blieben die Arbeiten - da es sich in der Regel ja um immer wiederkehrende Tätigkeiten handelt - spurlos. Die regelmäßige Reflexion und Protokollierung der einzelnen Verläufe ist unabdingbar, um Lernfortschritte beobachten und aktuelle Themen aufgreifen zu können. Auch die Gespräche, Bilder, Szenen, die sich während der Stallschicht ergeben haben, werden kurz festgehalten. Männliche und weibliche Begleitung Für einige Menschen mit Behinderungen war es sehr wichtig, dass es auch einen männlichen Mitarbeiter gab. Die Identifizierung und „Verbrüderung“ im Sinne von „wir zwei Männer“ …in einer 30 | mup 1|2013 Forum: Kupper-Heilmann, Dreher - Begleitete Mitarbeit im Pferdestall Welt der Erzieherinnen, Betreuerinnen, Therapeutinnen, Pädagoginnen etc. ist ein haltgebendes Moment. Auch „männertypische“ Arbeiten wie das Flicken eines Reifens, Abhobeln einer Bank, Zusammenbauen von neuen Schubkarren, Bohren, Hämmern und Sägen ist - bei allen Klischees - eine gute Identifizierungsmöglichkeit mit einem aktiven, tatkräftigen, männlichen Anteil. Das Männliche bekommt Raum und Anerkennung in einer fast ausschließlich von Frauen dominierten Lebensrealität von Menschen mit Behinderungen. Pferde als Diagnoseinstrument Auf der Grundlage der Psychoanalytischen Pädagogik arbeiten, beinhaltet, die eigenen Gefühle und Gedanken in der Arbeit wahr und wichtig zu nehmen, in der Reflexion gemeinsam Übertragung und Gegenübertragung heraus zu arbeiten, durch das Konzept des Szenischen Verstehens (Gerspach 2009) aufmerksam zu sein für Situationen, die zunächst einmal seltsam oder verwirrend sind, dann aber einen Sinnzusammenhang bekommen können (Kupper-Heilmann 1999). Die Pferde stellen dabei ein Diagnoseinstrument dar - es ist bedeutsam, welches Pferd für den Klienten die größte Bedeutung und Aufmerksamkeit erhält, welche Phantasien sich darum ranken u. s. w. (Kupper-Heilmann 2012). Ebenso wichtig ist das Verhalten der Pferde, d. h. wie spiegeln sie den jeweiligen Menschen, wie reagieren sie auf dessen verbale und körperliche Gestimmtheit. Genauso aufschlussreich sind die Beziehung und Bindung zum begleitenden Mitarbeiter, die Wünsche, Hoffnungen und oft starken Emotionen, die sich in dieser Beziehung abzeichnen. Das Setting Echt statt konstruiert - Lernen durch Handeln In der Arbeit mit beeinträchtigten Menschen ist es bedeutsam, dass das Lernen durch Handeln stattfindet. Durch lebenspraktische und konkrete Anleitung können Kompetenzen erworben werden. Die Arbeit im Pferdestall bietet eine alltagsnahe Lernortverschiebung, bei der die Fürsorge für die Pferde während der begleiteten Stallarbeit übernommen werden kann. Hier wird die aktive Auseinandersetzung in realen Lebenssituationen ermöglicht, die sich als besonders effektiv erwiesen hat (Theunissen 2003, 72). Um einen Lernerfolg zu gewährleisten, ist es unbedingt notwendig, eine kontinuierliche Durchführung zu gewährleisten. Regelmäßigkeit und wiederholende Abfolgen bieten eine Orientierungshilfe für kognitiv beeinträchtigte Menschen (Theunissen 2003, 72). Nichtsdestotrotz bietet der Pferdestall genügend „Spielraum“ (Theunissen 2003, 73) für ungeplante und unvorhergesehene Situationen. Es ist bei allen diesen Tätigkeiten essentiell, dass nicht so getan wird „als ob“, d. h. Menschen mit Behinderungen machen diese Tätigkeiten - und wenn sie weg sind, wird noch mal ordentlich nachgekehrt, die falsch verteilte Futterration ergänzt oder verringert etc. Dazu werden diese Arbeiten ja begleitet, dass bei falscher Futterverteilung eingeschritten werden kann, Fehler erkannt und gemeinsam Lösungen gefunden werden u. s. w. Die festen Teams Es hat sich gezeigt, dass die Arbeit in festen Teams sehr wichtig ist. Bei Krankheit einer begleitenden Mitarbeiterin war es nicht möglich, dass Frau S. „ihre“ Arbeiten mit einer anderen Mitarbeiterin erledigte. Es entstand eine starke Verunsicherung, die bisherigen Handlungsabläufe wurden unsicher. Da wir dies mehrfach beobachtet haben, entschieden wir uns dazu, im (seltenen) Fall von Krankheit oder anderer Verhinderung, die Stallarbeit für die entsprechende Teammitarbeiterin abzusagen. Möglicherweise bedarf es bei der von uns begleiteten Personengruppe erst einmal einer langen Zeit der Vertrauensbildung und der Zweierbeziehung (Markowetz 2010, 210 f), bevor eine Dreierbeziehung (Triangulierung) erträglich wäre - auch wenn die Arbeiten und Arbeitsabläufe identisch sind. Forum: Kupper-Heilmann, Dreher - Begleitete Mitarbeit im Pferdestall mup 1|2013 | 31 Der eigene Stalltrakt Ebenso grundlegend ist es, dass diese Arbeit in einem eigenen Stalltrakt stattfindet. Der Fokus ist es, Menschen mit Behinderungen Erfahrungen zu ermöglichen. Dies kann nur gelingen, wenn hierzu der geeignete Raum (Rahmen) zur Verfügung steht. Man stelle sich vor: Dies geschehe in einem Stalltrakt, in dem auch Einstellerpferde untergebracht sind. Dann wird u. U. während dieser Fütterungszeiten ein Pferd aus dem Stall geholt, auf der Stallgasse gesattelt, es kommen viele Menschen (Fremde), Besucher u. a. in den Stall hinein. Nun kann man auf dem Standpunkt stehen, dass dies das „normale Leben“ ist und heutzutage - in Zeiten der allseits verbal geforderten Inklusion - scheint dies doch das „Normalste“ der Welt zu sein. Auf der anderen Seite bringt es jedoch Unruhe, Unübersichtlichkeit, Ansprüche von Dritten, vielleicht auch deren Stress und Ärger, deren emotionale Bedürftigkeit und Übergriffe in dieses Erfahrungsfeld mit ein. Für die von uns begleiteten Menschen wäre dies eine völlige Überforderung und würde die schrittweise Eroberung dieses Arbeitsfeldes verunmöglichen. Die geeigneten Pferde Ein weiterer wesentlicher Aspekt sind die Pferde. Die von uns eingesetzten Pferde sind den professionellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gut bekannt. Sie können gut und verlässlich eingeschätzt werden, z. B. wie sie sich beim Füttern, beim Führen, beim Misten, beim auf die Koppel bringen etc. verhalten werden. Auch dies ist ein Sicherheitsaspekt, der nicht zu unterschätzen ist. Die Pferde sind nicht zu groß (Stockmaß max. 1,60 - die meisten 1,45-1,55) und haben ein intensives Führ- und Bodenarbeitstraining absolviert (im Rahmen ihrer Aus- und Weiterbildung zum Therapeutischen Reiten). Für unsere Arbeit ist es grundsätzlich wichtig, Stuten und Wallache zu haben (Kupper-Heilmann 1999), da je nach Geschlecht des Pferdes im individuellen Fall seitens der Klientinnen und Klienten unterschiedliche Übertragungen stattfinden können. Ebenso bedeutsam ist es, dass die Pferde unterschiedlich „wirken“, d. h. verschiedene Fellfarben (Schimmel - Rappe - Fuchs - Braun - Schecke u. s. w.) haben und unterschiedliche Ausstrahlungen (männlich - mütterlich - kindlich - freundlich - neugierig pp.). Sicherheitsstandards Sicherheit im Umgang mit den Pferden und bei allen Arbeiten im Rahmen der begleiteten Mitarbeit haben höchste Priorität. Der Sicherheitsstandard besteht zumindest aus Sicherheitsschuhen (mit nagelfester Sohle und Stahlkappe im Zehenbereich) sowie aus Handschuhen (aus unserer Sicht haben sich leichte Reithandschuhe bewährt, da diese noch genügend Sensibilität im Finger-Handbereich ermöglichen). Der Sicherheitsaspekt beinhaltet auch eine genaue Wahrnehmung des begleiteten Mitarbeiters, um einschätzen zu können, welche Arbeitsschritte er weitgehend gefahrlos alleine bewerkstelligen kann, und bei welchen Arbeitsschritten eine direkte Begleitung notwendig ist. Wenn z. B. jemand in der Umsetzung der Aufgaben sehr langsam ist, kann dies bei stürmischen Pferden dazu führen, dass diese bei der Heufütterung aus der Box zu drängeln versuchen. Dies muss vermieden werden, um unnötige Negativerlebnisse (ich bin zu langsam - ich kann das nicht) nicht aufkommen zu lassen und um damit nicht zwangsläufig Tendenzen zur Verstärkung einer sekundären Behinderung (Sinason 2000) zu unterstützen. Fallbeispiele aus der Arbeit „HANSI bekommt zwei Schepper…“ Thorben nimmt alles wörtlich. Als es noch kein auf Symbolen begründetes Futtersystem gab, fragte er z. B. wie viel Kraftfutter HANSI bekommt. Antwort: „Zwei Schepper“. Er fragt weiter nach, wie viel Kraftfutter MARIE bekommt. Antwort: „Ein Schepper“. Als es ans Füttern geht, wundert sich die begleitende Mitarbeiterin, wo eigentlich die Schepper (Schaufeln für das Kraftfutter) hin- 32 | mup 1|2013 Forum: Kupper-Heilmann, Dreher - Begleitete Mitarbeit im Pferdestall gekommen sind und beschließt, diese nach dem Füttern zu suchen und wieder zurück in die verschiedenen Futtertonnen zu geben. Thorben füttert „seine“ zwei Pferde, HANSI und MARIE. Die begleitende Mitarbeiterin bemerkt intuitiv, dass etwas nicht stimmt: andere Geräusche, unruhige Pferde. Sie schaut nach und stellt verdutzt fest, dass HANSI zwei Plastikschaufeln - eine rote und eine blaue - in seinem Trog hat und MARIE eine gelbe Plastikschaufel. Die begleitende Mitarbeiterin geht mit Thorben rasch in die Futterkammer, füllt zwei Futtereimer mit dem entsprechenden Kraftfutter und füttert es gemeinsam mit Thorben. Dieser hat nicht das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, da er doch dem HANSI zwei Schepper und der MARIE einen Schepper füttern sollte … was er ja auch getan hat. An diese Szene schloss sich dann eine intensive Zeit der Beobachtung von Pferden beim Fressen, der Gespräche über Verdauungsvorgänge etc. an, um Thorben mit dem Thema des Essens, des Verdauens, der Genießbarkeit mehr vertraut zu machen. Gleichzeitig entwickelte eine Mitarbeiterin (Dreher 2012) ein Kraftfuttersystem, das auf Symbolen basiert und auch für des Lesens nicht mächtige Menschen ein selbstständiges Füttern ermöglicht. „Ist das richtig so …? “ Im heilpädagogischen Förderprozess mit dem Pferd fragt Herr Boss generell jeden einzelnen Handlungsschritt nach. Obwohl er schon viele Jahre zum Heilpädagogischen Reiten kommt, fällt ihm die Eigenständigkeit sehr schwer. Zudem fordert er stetig die Kontrolle seiner Arbeit ein. Auch das Füttern bereitete ihm zunächst große Schwierigkeit, da er u. a. die einzelnen Pferdeboxen nicht den Pferden zuordnen konnte. Durch das Futtersystem, das auf Vergleichen von Symbolen und Farben basiert und somit eine klare, strukturierte Übersicht gibt, kann er diese Aufgabe ohne hohe Fehlerquote meistern. Dies ließ sein Selbstbewusstsein derart ansteigen, dass er inzwischen ohne jegliches Nachfragen selbstständig und sichtlich stolz den gesamten Futterprozess übernimmt und kaum mehr Anleitung oder Assistenz notwendig ist. Für Herrn Boss ist diese plausible kognitive Hilfe eine Erleichterung und Förderung zugleich. „Ist das MARIE oder WILLI? “ Die junge erwachsene Frau Braun reitet schon seit mehreren Jahren im integrativen Reitunterricht mit und arbeitet regelmäßig einmal die Woche nach ihrer Berufstätigkeit im Stall. Sie ist extrem langsam in ihrer Auffassungsgabe, spricht sehr umständlich und ist schnell durch Anforderungen ihrer Umwelt überfordert. Lange Zeit verharrte sie im langsamen und äußerst peniblen Kehren der Stallgasse (ca. eine Zeitstunde). Dies wurde jedoch respektiert im Sinne von „Sie braucht das, um sich sicher zu fühlen“. Eines Tages formulierte Frau Braun von sich aus den Wunsch, auch beim Füttern mit zu helfen. Dabei fragte sie über viele Wochen hinweg, welches Pferd denn die MARIE und welches denn der WILLI sei. Nun können zwei Pferde eigentlich nicht unterschiedlicher sein als WILLI und MARIE: WILLI ist durchgehend schwarz-weiß gefleckt - MARIE dagegen ist braun mit vielen kleinen weißen Flecken nur auf der Kruppe. Hätte sie zwei Haflinger oder zwei Norweger nicht voneinander unterscheiden können, wäre dies nachvollziehbar gewesen, so jedoch kamen wir über viele Wochen nicht dazu, einen Verstehenszugang zu finden. Erst als wir bemerkten, dass sie auch sehr unterschiedlich große Hunde nicht voneinander unterscheiden kann (vgl. Prosopagnosie = Schwierigkeit bzw. Unfähigkeit Gesichter und Orte zu erkennen) (Sacks 2011, 95 f). Wir versuchten über das Anbringen von Symbolen an den Pferdeboxen für sie eine Orientierung zu ermöglichen. Und siehe da - Frau Braun konnte nun mit Hilfe der Symbole die Pferde voneinander unterscheiden. So lange also alles an seinem „richtigen“ Ort, mit dem „richtigen“ Symbol versehen war, konnte sie alles zuordnen. Diese Hilfe gelangte jedoch an ihre Grenze, wenn die Symbole fehlten und MARIE am Putzplatz an einem Ort stand, Forum: Kupper-Heilmann, Dreher - Begleitete Mitarbeit im Pferdestall mup 1|2013 | 33 an dem nicht ihr Symbol war - dann konnte Frau Braun wieder nicht alleine entscheiden, ob es sich um MARIE oder um ein anderes Pferd handelte. „Oh, heut geht es gar nicht gut…“ Herr Meier lebt in einem Wohnheim für Menschen mit Behinderungen. Durch einen Unfall erlitt er u. a. ein Schädel-Hirn-Trauma. In seiner Jugend hatte er eigene Pferde und bewirtschaftete ein kleines bäuerliches Anwesen. Im Wohnheim selbst war er nur schwer zu Aktivitäten zu motivieren. Herr Meier schiebt seine realen Schmerzen vor, um sich jeglichen Anforderungen zu entziehen. Zur regelmäßigen Mitarbeit im Pferdestall erscheint er jedoch - bis auf wenige Ausnahmen - hoch motiviert. Im Pferdestall arbeitet Herr Meier regelmäßig mit einem männlichen Begleiter zusammen und ist zu Leistungen imstande, die uns alle immer wieder in Staunen versetzten. Er kann bohren, sägen, hämmern, schrauben, und selbst wenn er einige Tätigkeiten nicht selbst körperlich ausführen kann, so ist er in der Lage, dem begleitenden Mitarbeiter so präzise Anweisungen zu geben, dass dieser an seiner Stelle die Arbeiten ausführen kann. Selbst an Tagen, an denen ihm vor Schmerzen die Tränen aus den Augen rinnen, will er zum Pferdestall kommen und findet Trost im versonnenen Streicheln der Pferde. Das olfaktorische (geruchliche) und taktile Anknüpfen an seine Vergangenheit tat ihm sichtlich gut. Ausblick Die begleitete Stallarbeit kann im entsprechenden Setting mit engagierten begleitenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine Persönlichkeitsentwicklung für Menschen mit Beeinträchtigung ermöglichen. Folgende Erfahrungen können wirksam werden: ■ Die Erfahrung, wichtig zu sein (die Pferde erwarten mich, sie reagieren auf mich), ermöglicht eine ICH-Stärkung: Ich werde wahrgenommen, ich bin wichtig für andere u. s. w. ■ Die Erfahrung, andere zu versorgen (die Pferde zu füttern, zu pflegen), ermöglicht eine Die Autorinnen Anke Dreher Jg. 1987, Sozialpädagogin, Reitabzeichen (FN), Longierabzeichen (FN), Fahrabzeichen (FN), Trainerassistentin Therapeutisches Reiten (DKThR), von 2009-2012 Helferin im Therapeutischen Reiten im Reittherapeutischen Zentrum (RtZ) der gemeinnützigen Waldhof GmbH, Ober-Ramstadt in Hessen, z. Z. Mitarbeiterin im Betreuten Wohnen der Caritas in Dieburg. Susanne Kupper-Heilmann Jg. 1960, Diplompädagogin mit den Schwerpunkten Sonder- und Heilpädagogik, Reitwartin (FN), Trainerin „Reiten als Sport für Menschen mit Behinderungen“ (FN), Fahrabzeichen (FN), langjährige Tätigkeit als Bildungsreferentin auf Landes- und Bundesebene mit den Schwerpunkten Integrative Erziehung (Paritätisches Bildungswerk Bundesverband e. V.), Frühförderung (Paritätisches Bildungswerk Hessen e. V.), Sportpolitik (Sportjugend Hessen im Landessportbund Hessen e. V.) sowie freiberufliche und angestellte Tätigkeit im Heilpädagogischen Reiten (Hof Engelthal / Wetterau, Zentrum für Therapeutisches Reiten / Wonsheim, Leitung des Reittherapeutisches Zentrum Waldhof/ Ober-Ramstadt von 2009-2012), zahlreiche Veröffentlichungen zum Therapeutischen Reiten, Entwicklung des Arbeitsfeldes „Heilpädagogisches Fahren“, z. Z. Projektkoordinatorin im Berufsbildungswerk Südhessen im Projektbereich „Initiative Inklusion: Berufsorientierung für schwerbehinderte SchülerInnen“. Anschriften: Anke Dreher · Backhausstr. 25a · D-64395 Brensbach ankedreher@t-online.de Susanne Kupper-Heilmann · In der Roterde 6 · D-60435 Frankfurt am Main · Kupper-Heilmann@gmx.de 34 | mup 1|2013 Forum: Kupper-Heilmann, Dreher - Begleitete Mitarbeit im Pferdestall Erhöhung des Selbstwertgefühls: Ich erhalte am Leben, ich nähre andere, ich bin gut zu den Tieren u. s. w. ■ Die Erfahrung, körperlich etwas bewegen zu können (ich trage Eimer, ich schleppe Heu, ich fahre mit der Mistkarre), ermöglicht das Erleben von Vitalität und Energie: Ich schaffe es, die volle Mistkarre auszubalancieren und bis zum Misthaufen zu fahren, ich kann das Heu abwiegen und portionsgerecht in die Pferdeboxen tragen u. s. w. Dabei ist es wesentlich, dass diese Erfahrungen echt sind, d. h. dass es sich nicht um eine künstliche (pädagogische) Lernsituation handelt, und dass das Lernen durch Handeln erfolgt. Eine solche begleitete Mitarbeit im Stall kann nicht „nebenbei“ gemacht werden, sie geschieht nicht von alleine. Es entsteht ein beträchtlicher Mehraufwand an benötigter Zeit und Anleitung (Hahn 1999, 22), dem in der begleiteten Mitarbeit im Pferdestall Rechnung getragen werden muss. Durch diese Art und Weise der Mitarbeit, nämlich der angeleiteten Befähigung zur Autonomie (Appel / Kleine Schaars 2006), wird der Mensch mit Behinderungen ernst genommen und man ermöglicht ihm mit diesen Erfahrungen ein Stück weit Selbstbestimmung (Hahn 1999, 23). So bedarf es des geeigneten Settings, der geduldigen und einfühlenden Anleitung und Begleitung und der begleitenden Reflexion. Dann ist die „Begleitete Mitarbeit“ Bestandteil einer gezielten heilpädagogischen Förderung und kann Entwicklungsschritte von Menschen mit Behinderungen ermöglichen und Wachstumsprozesse unterstützen, die ohne den besonderen Aufforderungscharakter der Pferde und des Setting des Pferdestalls nicht möglich wären. Literatur ■ Appel, M., Kleine Schaars, W. (2006): Anleitung zur Selbstständigkeit. Wie Menschen mit geistiger Behinderung Verantwortung für sich übernehmen. Juventa, Weinheim ■ Dreher, A. (2012): Entwicklung eines Symbol- Kraftfuttersystems zur selbständigen Fütterung von Pferden durch Menschen mit Beeinträchtigungen. Mensch und Pferd 1, 42-45 ■ Gerspach, M. (2009): Psychoanalytische Heilpädagogik. Ein systematischer Überblick. Kohlhammer, Stuttgart ■ Hahn, M. (1999): Anthropologische Aspekte der Selbstbestimmung. In: Wilken, E., Vahsen, F. (Hrsg.): Sonderpädagogik und Soziale Arbeit. Rehabilitation und soziale Integration als gemeinsame Aufgabe. Luchterhand, Berlin, 14-30 ■ Korff-Sausse, S. (1997): Ein psychoanalytischer Ansatz bei geistiger Behinderung. In: Heinemann, E., Groef, J. de (Hrsg.): Psychoanalyse und geistige Behinderung. Matthias Grünewald, Mainz, 58-73 ■ Kupper-Heilmann, S. (1999): Getragenwerden und Einflußnehmen. Aus der Praxis psychoanalytisch orientierten heilpädagogischen Reitens. Psychosozial, Gießen ■ Kupper-Heilmann, S. (2012): Pferde als Diagnoseinstrument. In: Buchner-Fuhs, J., Rose, L. (Hrsg.): Tierische Sozialarbeit. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Heidelberg, 353-367 ■ Markowetz, R. (2010): Inklusion im Lebensbereich Freizeit durch Freizeitbildung und Freizeitassistenz. In: Hinz, A., Körner, I., Niehoff, U. (Hrsg.): Von der Integration zur Inklusion. Grundlagen - Perspektiven - Praxis. Lebenshilfe, Marburg, 201-217 ■ Mitscherlich, A. (1965): Über die Unwirklichkeit unserer Städte, Suhrkamp, Frankfurt am Main ■ Muck, M., Trescher, H.-G. (Hrsg.) (1993): Grundlagen der psychoanalytischen Pädagogik. Mathias Grünewald, Mainz ■ Sacks, O. (2011): Das innere Auge - Neue Fallgeschichten. Rowohlt, Reinbek ■ Schwalb, H. (2009): Unbehindert am Arbeitsleben teilhaben. In: Schwalb, H., Theunissen, G. (Hrsg.) (2009): Inklusion, Partizipation und Empowerment in der Behindertenarbeit. Best-Practice- Beispiele: Wohnen - Leben - Arbeit - Freizeit. Kohlhammer, Stuttgart, 110-115 ■ Senckel, B. (2006): Du bist ein weiter Baum. Entwicklungschancen für geistig behinderte Menschen durch Beziehung. C. H. Beck, München ■ Sinason, V. (2000): Geistige Behinderung und die Grundlagen menschlichen Seins. Luchterhand, Berlin ■ Theunissen, G. (2003): Erwachsenenbildung und Behinderung. Impulse für die Arbeit mit Menschen, die als lern- und geistig behindert gelten. Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn