mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Praxistipp - In den Fokus gerückt - Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung in der pferdegestützten Therapie und Pädagogik
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Judith Stahlberg
In Deutschland leben rund 1,2 Millionen Menschen mit einer Sehbehinderung oder Blindheit. Viele davon sind alte Menschen, die aufgrund beispielsweise einer Diabetes oder einer altersbedingten Makulardegeneration erst in den späten Lebensjahren erblinden. Wird also regelmäßig mit Menschen mit geistigen oder mehrfachen Behinderungen in der pferdegestützten Therapie oder Pädagogik gearbeitet, so kann davon ausgegangen werden, dass sich unter diesen Klienten oder Patienten auch solche mit einer Sehbehinderung oder gar Blindheit finden. Mit einfachen Mitteln und Grundsätzen kann dabei Hilfestellung geleistet und eine Situation geschaffen werden, die allen Beteiligten die Arbeit am und auf dem Pferd erleichtert.
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40 | mup 1|2013|40-44|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel Judith Stahlberg Praxistipp In den Fokus gerückt - Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung in der pferdegestützten Therapie und Pädagogik Zum Klientel In Deutschland leben rund 1,2 Millionen Menschen mit einer Sehbehinderung oder Blindheit. Viele davon sind alte Menschen, die aufgrund beispielsweise einer Diabetes oder einer altersbedingten Makulardegeneration erst in den späten Lebensjahren erblinden. Eine weitere große Gruppe der Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung sind Menschen mit Mehrfachbehinderungen, d. h. zum Beispiel Menschen mit einer geistigen Behinderung und einer zusätzlichen Sehbehinderung. Diese Gruppe ist weitaus größer als gemeinhin angenommen, da viele der häufig celebral bedingten (von Gehirn ausgehenden) Sehbehinderungen auch von Fachpersonal nicht oder nur unzureichend erkannt werden. So zeigen Studien, dass 20 % der Beschäftigten einer Werkstatt für behinderte Menschen Probleme mit dem Sehen haben. Bei Menschen mit noch komplexeren Behinderungen liegt der Prozentsatz wahrscheinlich noch weitaus höher (Strassmann 2008; Walthes 2005). Wird also regelmäßig mit Menschen mit geistigen oder mehrfachen Behinderungen in der pferdegestützten Therapie oder Pädagogik gearbeitet, so kann davon ausgegangen werden, dass sich unter diesen Klienten oder Patienten auch solche mit einer Sehbehinderung oder gar Blindheit finden. Mit einfachen Mitteln und Grundsätzen kann dabei Hilfestellung geleistet und eine Situation geschaffen werden, die allen Beteiligten die Arbeit am und auf dem Pferd erleichtert. Methodische Vorüberlegungen Menschen mit Sehbehinderung / Blindheit lernen nicht übers Zuschauen oder Dabeisein, sondern in erster Linie über das selbstständige Tun, über die eigene leibliche Erfahrung. Sie können sich Fertigkeiten nicht einfach abschauen, wie das Normalsichtige gemeinhin tun. Um eine Tätigkeit, wie beispiels- Praxistipp: Stahlberg - In den Fokus gerückt - Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung mup 1|2013 | 41 weise das Satteln oder das Hufeauskratzen, vollständig erfassen zu können, brauchen sie die Zeit und den Raum, aber auch die adäquate Anleitung, diese selbständig, in kleinen Teilschritten auszuführen und sie sich anzueignen. Das Prinzip der Selbsttätigkeit sollte deshalb immer der wesentliche Handlungsgrundsatz in der Arbeit mit diesen Menschen sein. Aus diesem Grund sollte das Setting und die Situation in der pferdegestützten Arbeit mit blinden oder sehbehinderten Menschen so gestaltet werden, dass sie sich möglichst selbständig orientieren und agieren können (Herget/ Herwig 1998; Stahlberg 2011). Gestaltung des Settings Viele soziale Interaktionen werden über das Sehen wahrgenommen, wie beispielsweise die Mimik oder Gestik eines Gegenübers. Fällt dieser Sinn ganz oder teilweise weg, müssen die verbliebenen Sinne dies kompensieren, was gerade in größeren sozialen Gruppen sehr schwierig ist. Dazu kommt das ständige „in Bewegung sein“ der einzelnen Beteiligten in einem Setting am Pferd, was für viele Menschen mit Sehbehinderung / Blindheit eine zusätzliche Schwierigkeit bei der Orientierung und Kontaktaufnahme darstellt. Um das Setting für diese Menschen trotzdem nachvollziehbar und überschaubar oder hörbar zu gestalten, empfiehlt es sich, in der pferdegestützten Arbeit folgende Punkte zu beachten: ■ nur wenige Teilnehmer im Gruppensetting, ■ bei Gruppenangeboten Einsatz von geschulten und flexiblen Helfern, auch um Gefahrenmomente zu minimieren, ■ Einsatz von ruhigen, zuverlässigen Pferden, die ruhig stehen können, sich möglichst überall anfassen lassen und sich nicht leicht erschrecken (Morgenegg 2009), ■ genügend Zeit zur Verfügung - Tasten und selbstständiges Ausprobieren braucht in der Regel viel länger als bloßes Sehen und Zuschauen. Gestaltung der Situation am und auf dem Pferd Normalsichtige Menschen nehmen Situationen und Gegebenheiten auf einen Blick wahr und können entsprechend schnell und zügig agieren. Dies gelingt Menschen mit Sehbeeinträchtigung in der Regel nicht. Sie brauchen andere Wahrnehmungsinformationen als normal sehende Menschen, um Situationen zu erfassen. So ist beispielsweise zu beachten, dass Dinge oder Tiere, die sich frei bewegen, wie ein freilaufender Hund oder ein Traktor in nächster Nähe, von Menschen mit Sehbehinderung / Blindheit schlechter einschätzbar sind und deshalb unter Umständen 42 | mup 1|2013 Praxistipp: Stahlberg - In den Fokus gerückt - Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung Angst auslösen können. Darüber hinaus nehmen Menschen mit Seheinschränkungen Gefahrenmomente, die gerade in der Arbeit am Pferd schnell entstehen können, wenn sich z. B. ein Pferd erschrickt, in der Regel nicht so schnell wahr und können entsprechend langsamer und weniger adäquat reagieren. Bedenkt man bei der Gestaltung der Situation von vornherein bestimmte Gegebenheiten, so können auch Menschen mit Blindheit/ Sehbehinderung möglichst selbständig handeln. Gefahren können minimiert werden. So sollte man u. a. daran denken, ■ die Situation möglichst immer gleichbleibend zu gestalten. Hängt das Halfter an der dafür vorgesehen Stelle, oder ist das Pferd da angebunden, wo es immer steht? Damit erleichtert man dem Klienten die Orientierung in Anforderungen an die Fachkraft ■ Versetze dich in die Wahrnehmungswelt des Klienten und passe deine Sprache entsprechend an. Vermeide aber nicht zwanghaft Worte wie „anschauen“ oder „Auf Wiedersehen“. Diese gehören zum allgemeinen Sprachgebrauch, auch für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung (Herget/ Herwig 1998). ■ Übe das richtige und sichere Führen von Klienten mit Sehbehinderung / Blindheit, sage Treppenstufen, Bodenunebenheiten, aber auch Gefahren in Kopfhöhe (tiefhängende Äste etc.) rechtzeitig an. ■ Versuche, die räumliche Situation entsprechend der Wahrnehmung des Klienten zu erklären. Nicht: „Die Putzkiste ist da drüben.“, sondern „Die Putzkiste steht hier an dieser Wand auf dem Boden“. ■ Erkläre das Pferdeverhalten in der Situation, zum Beispiel, wenn sich ein Pferd erschrickt, da der Klient in der Regel nicht erkennt, warum das Pferd so plötzlich reagiert. ■ Lass dem Klienten Zeit, Dinge selbständig zu erledigen, und greife nicht sofort helfend ein. ■ Melde dich ab, wenn du die Situation verlässt und informiere deinen Klienten, wo du hingehst. ■ Sprich den Klienten mit Namen an und gib ihm Rückmeldung, dass du ihm zuhörst. ■ Gib dem Klienten nach dessen Einwilligung mit Hilfe von Handführung oder Berührung eine Idee vom Bewegungs- oder Handlungsablauf. ■ Bleibe in der Arbeit mit und auf dem Pferd sehr aufmerksam und konzentriert, um Gefahrenmomenten vorzubeugen. (Stahlberg 2011) der Situation, was die selbständige Tätigkeit fördert, ■ in einer möglichst hellen Umgebung zu arbeiten, Blendungen jedoch zu vermeiden, ■ Gefahrenquellen, wie beispielsweise eine Schubkarre (da wo sie nicht hingehört) oder eine halboffene Schranktür, rechtzeitig zu beseitigen, ■ für aufgeräumte Schränke und Putzkisten zu sorgen, ■ Dinge, die für die Einheit gebraucht werden, dort abzulegen, wo sie der Klient gut und sicher finden kann. Bei Ausritten ist zudem zu beachten, dass sich Menschen mit Blindheit/ Sehbehinderung im Straßenverkehr kennzeichnen müssen, um an- Praxistipp: Stahlberg - In den Fokus gerückt - Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung mup 1|2013 | 43 dere Verkehrsteilnehmer auf ihre Behinderung aufmerksam zu machen. Dies geschieht in der Regel durch den weißen Stock, oder, zum Beispiel auf dem Pferd, mit einer Armbinde oder einer Weste mit drei schwarzen Punkten auf gelbem Grund (§ 2 FeV). Einsatz und Modifikation von Materialien Mit einfachen Mitteln lassen sich Dinge des täglichen Gebrauchs, wie Putzzeug oder Halfter, aber auch eingesetzte Materialien so gestalten, dass sie für Menschen mit Sehbehinderung / Blindheit leicht auffindbar und handhabbar sind. Arbeitet man mit Menschen mit Sehbehinderung, die ihr vorhandenes Sehvermögen noch einsetzen können, so kann z. B. das Auffinden von Material durch das Schaffen von deutlichen Kontrasten in der Umgebung erleichtert werden. „Je höher der Kontrast zweier nebeneinander liegender Oberflächen ist, desto leichter fällt es Menschen mit reduziertem Sehvermögen, diese zu unterscheiden“ (Probst/ Spring 2008). Zum Erzeugen von Kontrasten können u. a. einfache selbstklebende Glitzer- oder Neonfolien benutzt werden, die in jedem Baumarkt oder im Bastelbedarf erhältlich sind (Engert 2008). Beim Auffinden der richtigen Putzkiste oder des richtigen Sattels helfen tastbare Markierungen, zum Beispiel einfache geometrische Formen aus Moosgummi, die am Gegenstand befestigt werden oder, je nach Kenntnisstand der Klienten, auch Beschriftungen in Brailleschrift (Stahlberg 2011). Abschließende Bemerkungen Arbeitet man das erste Mal mit Menschen mit Sehbehinderung / Blindheit so kann es sinnvoll sein, sich vorab weitere Informationen einzuholen. Zum Weiterlesen empfehlen sich zum Beispiel Broschüren der Selbsthilfe, wie dem Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband, die sehr alltagsnahe Tipps und Hilfestellungen zum richtigen Umgang miteinander geben. Diese sind auch im Internet zu finden. Sich auf die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Sehbehinderung / Blindheit in der pferdegestützten Arbeit einzustellen, erfordert etwas Aufwand und Fachwissen. Es braucht außerdem Neugierde und ein hohes Einfühlungsvermögen, sich in die etwas andere Wahrnehmungswelt hinein zu versetzen. Jedoch lohnt sich der Aufwand in jedem Fall. Können Klienten mir Sehbehinderung / Blindheit zum Beispiel durch kleine Veränderungen in der Situation selbständig und eigeninitiativ tätig 44 | mup 1|2013 Praxistipp: Stahlberg - In den Fokus gerückt - Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung Die Autorin Judith Stahlberg Dipl. Sozialpädagogin (FH), staatlich geprüfte Fachkraft für heilpädagogische Förderung mit dem Pferd, tätig in einer Einrichtung für Kinder und Jugendliche mit Sehbehinderung / Blindheit und zusätzlichen Beeinträchtigungen Anschrift: Judith Stahlberg · Fürther Str.8 D-90429 Nürnberg Judith.stahlberg@web.de werden, ohne permanent auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, erhöht sich der Erfolg der pferdegestützten Maßnahme um ein vielfaches. Literatur ■ Engert, A. (2008): Heilpädagogisches Reiten am Blindeninstitut Rückersdorf. Konzeption. Unveröffentlichtes Manuskript. Rückersdorf ■ Herget, M.; Herwig, H. (1998): Bewegungserziehung am Pferd und Reiten für Sehgeschädigte. Didaktisch-methodische Aspekte für die Einführung Blinder und Sehbehinderter in den Pferdesport. In: Deutsches Kuratorium für Therapeutisches Reiten e. V. (Hrsg.): Reiten als Sport für Behinderte. Sonderheft, Warendorf ■ Morgenegg, S. (2009): Einblicke in das Heilpädagogische Reiten mit blinden und sehbehinderten Kindern. In: Gäng, M. (Hrsg.): Ausbildung und Praxisfelder im Heilpädagogischen Reiten und Voltigieren. 4. Aufl. Ernst Reinhard, München, Basel ■ Probst, K., Spring, S. (2008): Wenn anders sehen zur Herausforderung wird. Ein Ratgeber für Angehörige, Betreuende und Pflegende von Menschen mit Mehrfachbehinderung und Sehschädigung. SZH / CSPS, Bern ■ Stahlberg, J. (2011): Damit es kein Blind Date wird … - Vorbereitungs-, Planungs- und Durchführungshilfen in der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd bei sehbehinderten und blinden Menschen mit geistiger Behinderung in Theorie und praktischer Erprobung. Unveröffentlichte Abschlussarbeit. Nürnberg ■ Strassmann, B. (23.12.2008): Ein Licht für mehr Leben. Die Zeit. Hamburg. http: / / www.zeit.de/ 2009/ 01/ M-Waldheim- Stiftung, 8. März 2011. ■ Walthes, R. (2005): Einführung in die Blinden- und Sehbehindertenpädagogik. 2. Aufl. Utp, München
