mensch & pferd international
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mup2013.art03d
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Hochbegabung und Reittherapie
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Beate Lubbe
Braucht besondere Begabung eine Therapie? Besonders intelligente Menschen, so glauben viele, sind doch besonders glücklich oder besonders privilegiert, mindestens aber besonders erfolgreich! Andererseits kämpfen hochintelligente Kinder oft auch mit besonderen Schwierigkeiten und erfahren Ablehnung durch ihre Umwelt (Fischer 2006). Enttäuschungen durch Sätze wie „Dafür bist du noch zu jung!“ begünstigen Lernschwierigkeiten oder Anpassungsprobleme. In diesem Artikel wird beschrieben, wie die Reittherapie die Ressourcen dieser Kinder stärken kann, ihre Motorik verbessert und ihnen hilft, ein realistisches und belastbares Selbstbewusstsein aufzubauen
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64 | mup 2|2013|64-77|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378/ mup2013.art03d Beate Lubbe Schlüsselbegriffe: Hochbegabung, Reittherapie, ADHS, sensorische Überforderung, Reittherapie bei Schulproblemen, Geschlechtsunterschiede Braucht besondere Begabung eine Therapie? Besonders intelligente Menschen, so glauben viele, sind doch besonders glücklich oder besonders privilegiert, mindestens aber besonders erfolgreich! Andererseits kämpfen hochintelligente Kinder oft auch mit besonderen Schwierigkeiten und erfahren Ablehnung durch ihre Umwelt (Fischer 2006). Enttäuschungen durch Sätze wie „Dafür bist du noch zu jung! “ begünstigen Lernschwierigkeiten oder Anpassungsprobleme. In diesem Artikel wird beschrieben, wie die Reittherapie die Ressourcen dieser Kinder stärken kann, ihre Motorik verbessert und ihnen hilft, ein realistisches und belastbares Selbstbewusstsein aufzubauen. Hochbegabung und Reittherapie Das Pferd als vorurteilsfreier Partner Lubbe - Hochbegabung und Reittherapie mup 2|2013 | 65 Definition von Hochbegabung Zur Definition von Begabung und Intelligenz gibt es eine breite Diskussion. Während früher mehr eindimensionale Vorstellungen vorherrschten, wird heute mit mehrdimensionalen Modellen gearbeitet (Gerritzen 2006). Wechsler (1961) schreibt hierzu: „Intelligenz ist die zusammengesetzte oder globale Fähigkeit des Individuums zweckvoll zu handeln, vernünftig zu denken und sich mit seiner Umgebung wirkungsvoll auseinanderzusetzen“. Damit ist Intelligenz nicht einfach nur die Fähigkeit abstrakt zu denken, sondern vielmehr eine zusammengesetzte Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten und in zielgerichtete und sinnvolle Tätigkeiten münden zu lassen. Von Hochbegabung wird infolgedessen ausgegangen, wenn der sogenannte Intelligenzquotient im oberen Extrembereich eines Jahrganges liegt. Wird also in einem Begabungstest ein Leistungswert gemessen, der extrem weit überdurchschnittlich ist und ca. zwischen den Prozenträngen 95 bis 99 liegt, so wird bei dem Probanden von einer Hochbegabung ausgegangen (Hartmann 2004). Die Grenzen der Prozentränge sind hierbei als fließend aufzufassen, da es verschiedene Aspekte der Intelligenz gibt und diese in den einzelnen Tests unterschiedlich gewichtet werden. Häufig wird jedoch der Bereich der obersten zwei Prozent als Hochbegabung definiert (Webb u. a. 1998). Dies bedeutet, dass 98 % der Gleichaltrigen eine geringere geistige Leistungsfähigkeit aufweisen. Diesen gesamten Definitionen von Normalität, von Unter- oder Überdurchschnittlichkeit, liegt die Vorstellung zu Grunde, dass Intelligenz einer Gauß’schen Normalverteilung folgt. Demnach befinden sich ca. zwei Drittel der Messwerte innerhalb der Normalität und ein Drittel außerhalb. Dieses Drittel verteilt sich nun auf die unterdurchschnittliche und überdurchschnittliche Leistungsfähigkeit und nur 1 / 50 verbleiben für den extrem unterdurchschnittlichen Bereich und 1 / 50 für den extrem überdurchschnittlichen Randbereich. Üblicherweise werden die intellektuellen Fähigkeiten eines Menschen an Hand von Intelligenztests überprüft. Dafür stehen völlig unterschiedlich konzipierte Verfahren zur Verfügung. Am einfachsten in der Durchführung sind die sogenannten „Paper-Pencil-Tests“, bei denen der Proband aus mehreren, schriftlich vorgegebenen Antworten die richtige auswählt. Bei diesen Tests ist eine Durchführung in der Gruppe möglich. Deutlich aussagekräftiger sind Verfahren, in denen eine eins-zu-eins Situation und somit eine genauere Beobachtung des Probanden möglich ist. Besonders bei stark kreativ begabten Menschen ist es erforderlich nachzufragen, wie sie zu bestimmten Lösungen gekommen sind. Nur in dieser direkten eins-zu-eins Situation ist es möglich, vermeintlich falsche Antworten nachzuvollziehen und in ihrer Besonderheit zu erkennen (Lubbe 2004). Kreative Menschen werden sonst in ihrer Begabung schnell unterschätzt und ihr Potenzial nicht wahrgenommen. Graphik 1: Verteilung der Intelligenzquotienten 66 | mup 2|2013 Lubbe - Hochbegabung und Reittherapie Mögliche Auswirkungen der Hochbegabung auf die motorische und taktile Entwicklung Die Tatsache, derart weit von der Normalität entfernt zu sein, wird nun zu einem Faktor, der die gesamte Entwicklung eines Menschen durchzieht und beeinflusst (Heinbokel 1988). Besonders intellektuell befähigte Kinder sind mit sehr aufnahmefähigen Sinnesorganen ausgestattet, das heißt, sie nehmen früher mehr wahr als andere. Dies betrifft insbesondere den optischen Wahrnehmungsweg; sie beobachten sehr viel, betrachten ihre Umwelt - „scannen“ sie quasi mit den Augen (Lubbe 2003). In Kombination mit einer hochlogischen Befähigung können sie sich dann aber auch ausmalen „Was wäre wenn …“. Einige nehmen Spielideen, wie Klettern oder Schaukeln, nicht in ihren Aktionsplan auf, wenn sie vorher beobachten konnten, wie andere stürzten. So kann das hohe Vorstellungsvermögen dazu führen, dass bestimmte Handlungen, wie auf einen Baum zu klettern, unterbleiben, da das Risiko zu hoch erscheint (Meyer / Arlinghaus 2003). Andererseits überspringen sie möglicherweise entscheidende Entwicklungsphasen, wie z. B. das Krabbeln. In dieser Phase aber werden entscheidende Verknüpfungen im wachsenden Gehirn angelegt, die für komplexe Bewegungsmuster von Bedeutung sind. Im reifenden Gehirn entstehen Verbindungen, die koordinierte Bewegungsabläufe kontrollieren. Durch das Auslassen einzelner Entwicklungsschritte können Schwächen der Links-Rechts-Koordination entstehen, die sich in Ungeschicklichkeiten, Stolpern oder in allgemeiner körperlicher Trägheit äußern können. So kommt es, dass die extrem hohe Intelligenz oftmals mit Problemen der sensorischen Integration verbunden sein kann. Ursächlich ist hier oft eine schwache Verarbeitung von Gleichgewichtsreizen. Die Erfassung des dreidimensionalen Raumes kann hierbei schwach sein, so dass die Unterscheidung von links oder rechts, oben oder unten am eigenen Körper schwer fällt (Lubbe 2003). Diese Schwäche wirkt sich auf den gesamten Bereich der muskulären Steuerung aus. Es resultieren daraus nicht nur Probleme der Grobmotorik, die meist der Umwelt auffallen, sondern auch feinmotorische Schwächen bis hin zu Problemen der Augenmuskelsteuerung. Dies alles kann dann zu Ungeschicklichkeiten führen, die von den Betroffenen wiederum, dank der sehr hohen Intelligenz, auch in hohem Maße registriert werden. Zu diesen Problemen der sensorischen Integration kann auch eine Überempfindlichkeit der Körperoberfläche gehören, eine taktile Übererregbarkeit. So reagieren manche Kinder extrem auf die Oberflächenstruktur von Materialien; beispielsweise wird Wolle oder ähnlich Raues nicht ertragen. Diese Kinder tun sich schwer, bestimmte Objekte wie Schwämme oder Kreide wegen der ungewöhnlichen Oberflächenstruktur anzufassen (Lubbe 2003). Die besondere geistige Entwicklung bei Hochbegabung Hochbegabung heißt nicht einfach schneller denken zu können, sondern in vieler Hinsicht auch einfach anders zu denken. Dies wird oft erst im schulischen Kontext offensichtlich. So können viele mathematisch Begabte die Lösungen „sehen“, aber kaum erklären, wie sie dahingelangt sind. Die rein mechanische Erfüllung von Aufgaben oder Wiederholungen fallen ihnen demgegenüber sehr schwer, wie z. B. die Lösung einer rechnerischen Aufgabe ordentlich zu unterstreichen, da sie lieber schon wieder weiterrechnen würden (Lodemann 2009). Lubbe - Hochbegabung und Reittherapie mup 2|2013 | 67 Schwierigkeiten können sich auch aus der sprachlichen Begabung ergeben. Viele Hochbegabte zeichnen sich durch einen frühen Einsatz anspruchsvoller grammatikalischer Formen, wie z. B. des Konjunktivs, aus. Fragt etwa ein vierjähriges Kind am Rand der Treppe einen Gleichaltrigen: „Würdest Du mich bitte vorangehen lassen? “, dann versteht das normalentwickelte Kind nur „vorangehen! “ und läuft los. Denn der Gebrauch und das Verständnis des Konjunktivs ist in diesem Alter normalerweise noch nicht möglich. Das unter Anwendung des Konjunktivs fragende Kind ist von diesem Verhalten naturgemäß enttäuscht. So kann es sehr früh zu sprachlichen Kommunikationsproblemen kommen, die nur auf den unterschiedlichen Reifungsstadien der Sprachbenutzung beruhen und nicht etwa auf einem absichtlichen Ausgrenzen des hochbegabten Kindes (Lubbe 1999). In diesem Zusammenhang ist auch der häufige Wunsch nach Perfektion zu sehen. Die hohe Fähigkeit zum vorausschauenden Denken lässt es zu, einen Handlungsplan von hoher Qualität zu entwerfen. Wenn dann die Handlungsfähigkeiten weniger „perfekt“ sind, sind hochbegabte Menschen enttäuscht und stellen oftmals ihre Bemühungen ein (Kempter 2007). So können schon Kindergartenkinder den Umgang mit bestimmten Spielmaterialien verweigern, wenn ihnen klar ist, dass sie z. B. den Klötzchenturm nicht bis zur äußersten Höhe aufbauen können würden. Mögliche Auswirkungen der Hochbegabung auf die emotionale Entwicklung Was bedeuten solche Erlebnisse für die Entwicklung der kindlichen Emotionalität? Die Ausbildung eines positiven Selbstbildes ist abhängig von entsprechenden Erfolgserlebnissen. Je jünger Kinder sind, desto eher beziehen sie ihre Erfolge aus ihren Handlungen. Die Verweigerung von Spielmöglichkeiten aus Angst vor Misserfolg kann den Erfahrungshorizont einschränken. So kann schon im Kindergarten die Entwicklung zum Minderleister beginnen (Kempter 2007). Insbesondere die beschriebenen sprachlichen Kommunikationsprobleme wirken in der Regel negativ auf das kindliche Selbstbild. Im Beispiel würde das fragende hochbegabte Kind registrieren, dass der Andere, trotz der höflichen Bitte zu warten, es absichtlich überrumpelt und überholt habe. Dies stellt keine gute Basis für eine freundschaftliche Beziehung dar. Im Gegenteil, die Reaktion des Anderen erscheint als eine Ablehnung und absichtliche Missachtung der höflichen Ausgangsfrage. Diese Missverständnisse können auch die sozialen Interaktionen stören. Es entsteht ein Unverständnis für die Verhaltensweisen der Umwelt, das auch Eltern und Erzieher an ihre Grenzen geraten lässt. Wie soll man z. B. einem dreijährigen Mädchen erklären, dass Erwachsene einerseits Respektspersonen sind, andererseits aber Autos verbotenerweise auf dem Radweg parken? Eigentlich taucht dieser Konflikt in diesem Lebensalter noch gar nicht auf, denn das selbständige Erkennen von Parkverbotsschildern und die Beherrschung der Straßenverkehrsregeln wäre üblicherweise erst eine Leistung des Grundschulalters. Sehr vulnerabel ist die schulische Leistungssituation: zeigt das hochbegabte Kind dort gute oder hervorragende Leistungen, läuft es Gefahr zum Außenseiter, zum Streber, erklärt zu werden. Eine Ausgrenzung ist die Folge. Zeigt es schwächere Leistungen, um sich anzupassen, dann wird oftmals seine Befähigung bezweifelt (Spahn 1997). Dies erzeugt ein inneres Spannungsfeld. Schwierig ist die Situation auch für die extrem kreativ Begabten. Wenn sie völlig neue Antworten auf bekannte Fragen entwickeln oder unerwartete Lösungsansätze präsentieren, wird oft nicht ihre Leistung gesehen, sondern nur, Schwierig ist die Situation auch für die extrem kreativ Begabten. 68 | mup 2|2013 Lubbe - Hochbegabung und Reittherapie dass die gegebene Antwort erwartungswidrig war (Spahn 1997). Hochbegabte Kinder und Jugendliche erleben viele Missverständnisse und Ablehnung, wenn auch nur vermeintlich, durch ihre Umwelt. Dadurch kann es nicht selten zu emotionalen Entwicklungsrückständen kommen. Dies betrifft vor allem den schulischen Bereich. Oft wird hier die Hochbegabung mit guten Schulnoten verwechselt. Die extrem hohe Intelligenz erschwert aber sogar meist das Verständnis für alltägliche Fragestellungen. Dieses Unverständnis und die Langeweile können dann bis hin zu einem völligen Abschalten führen. Konzentration ist trainierbar, dafür muss sie herausgefordert werden. Häufige Wiederholungen stellen für diese Kinder aber keine Herausforderung dar, deswegen beeinträchtigen sie die Konzentration (Stapf 2011). Dies ist einer der vielen Gründe, warum hochintelligente Kinder nicht selbstverständlich die besten Schüler sind. Was kann nun die Reittherapie für den Hochbegabten leisten? Das Besondere an der Reittherapie ist nicht eine spezielle Didaktik, die Erfindung einer neuen Methode, sondern es ist der einmalige Therapiepartner: das Pferd. Es verfügt über eine komplexe Wahrnehmungsfähigkeit, die in vollem Umfange noch gar nicht erforscht ist. Es reagiert aus seinem eigenen Verhaltensspektrum, dabei sind seine Reaktionen auf das Dasein in der Gruppe ausgerichtet. Es lebt selbst in einem Beziehungsgefüge. Diese Bereitschaft bringt es auch in die Reittherapie mit ein. Das Pferd versteht unsere aus Worten zusammengesetzte Sprache nicht und so fallen alle Sprachbarrieren fort. So nimmt das Pferd den hochbegabten Menschen zuallererst als Mensch wahr, nicht als den besonders effektiv denkenden Menschen, sondern als den sich bewegenden und fühlenden und handelnden oder eben auch nicht handelnden Menschen. Entscheidend für das Pferd ist nur, ob der Mensch durch sein Verhalten eine Gefahr darstellt oder nicht. Nähert sich der Mensch als ein sozial agierender Partner, so entsteht in kürzester Zeit eine Beziehung, gegründet auf gegenseitigem Vertrauen. Losgelassenheit des einen Partners führt zu Losgelassenheit des anderen Partners. Dadurch entsteht Nähe; Nähe, die wir für den therapeutischen Prozess benötigen. In diesem Verhältnis wird der Klient endlich einmal nicht in seiner Besonderheit wahrgenommen, sondern in seiner Alltäglichkeit, in seiner Normalität. Und das wünscht sich der Mensch meist: einfach normal zu sein (Heinbokel 1988). Eigene Ergebnisse Besonderheiten in der therapeutischen Situation In der pferdetherapeutischen Situation muss nicht erklärt werden, warum ein hochbegabtes Kind schon nach wenigen kurzen Erklärungen die Mitglieder der Pferdeherde auseinanderhalten kann, warum es schon in der zweiten Stunde weiß, wo die Halfter hängen und welche Farbmarkierung zu welchem Pferd gehört. Es weiß, wo der Stromschalter für den Elektrozaun ist oder wie Boxentüren geöffnet werden können, auch wenn die eventuell feinmotorisch ungeschickten Finger dazu gar nicht in der Lage sind. Das intellektuelle Fassungsvermögen dieser Kinder ist ja extrem groß. Den Intellekt des Kindes anzusprechen ist Aufgabe des Therapeuten, indem dieser es beobachten, kommentieren und reflektieren lässt. „Wo sind harte und weiche Stellen? “, „Was Lubbe - Hochbegabung und Reittherapie mup 2|2013 | 69 glaubst Du, welche Gelenke sind wo - beispielsweise das Knie? “, „Warum putzen wir die Beine nicht mit dem Striegel? “. Die Qualität der Fragen unterscheidet sich in keiner Weise von den sonst bekannten Fragen oder Anleitungen. Anders ist das Tempo und die rasche Verarbeitung der Antworten. Einmal verstanden, wird die Information zuverlässig umgesetzt. Hilfreich ist auch die Beantwortung einer Frage mit einer Gegenfrage: „Was glaubst Du, warum das so ist? “. Damit wird dem denkschnellen Kind die Gelegenheit gegeben, die Antwort selbst zu finden. Das schafft Freiraum und bindet den Klienten aktiv in den Ablauf einer Stunde ein. Besonderheiten im Beziehungsaufbau Für hochintelligente Kinder ist es wichtig, dass der Beziehungsaufbau zum Pferd, so wie Gäng (2010) es beschrieben hat, nicht nur über den körperlichen Kontakt durch Berühren, Abstreichen, Fühlen und Putzen zustande kommt. Für den Aufbau einer stabilen emotionalen Beziehung ist auch die geistige Ebene von Bedeutung. Das Pferd akzeptiert sie ohne Vorbehalte einfach als Menschen, und der Therapeut nutzt ihre geistige Befähigung, um ein gutes Verständnis für das Pferd herzustellen. Das Wissen um die Bedürfnisse des Pferdes färbt schließlich auf ein rücksichtsvolles und situationsangepasstes Verhalten ab. Umso adäquater der Mensch auf das Pferd einwirkt, desto feinfühliger ist die Rückmeldung und die Reaktion des Pferdes. Der Therapeut kann die Beziehung Klient-Pferd verstärken und vertiefen. Die nonverbale Kommunikation Klient-Pferd und Pferd-Klient führt so zu völlig neuen und positiven Erfahrungen. In diesem Zusammenhang ist es von Belang, dass die oben beschriebenen sprachlichen Kommunikationsprobleme in dieser Beziehung nicht auftreten können. Je stabiler die Verbindung vom Klienten zum Pferd zu gestalten ist, umso tiefgreifender werden die therapeutischen Effekte sein. Die Stärkung der Selbstkompetenz und Verbesserung der nonverbalen Kommunikation sind von entscheidender Bedeutung für den weiteren Lebenserfolg der Betroffenen. Besonderheiten im Stundenverlauf Dies erfordert allerdings eine hochgradig spezifische und individuelle Gestaltung der therapeutischen Situation. Hilfreich ist es, wenn mehrere Pferde zur Auswahl stehen, je nach Temperament des Klienten und seiner motorischen Leistungsfähigkeit. Die Inhalte der Stunden können variieren: von Stunden mit reiner Berührungsarbeit, über das Führen, über Bodenarbeit, das Sitzen auf dem Pferd, dem Geführtwerden, der Langzügelarbeit oder auch den ersten eigenen aktiven Reiteinheiten. Meiner Erfahrung nach ist die inhaltliche Varianz der Stunden und auch die Unterschiedlichkeit des Tempos im Verlauf der Gesamttherapie größer als bei Gleichaltrigen. Sie erfassen schnell die Gegebenheiten, so dass Erklärungen weniger oft wiederholt werden müssen und akzeptierte Regeln weniger vergessen werden. Einzelne Elemente, wie z. B. das Ertasten weicher oder harter Stellen, brauchen dann nicht wiederholt werden, da dies ins Putzen selbständig einbezogen werden kann. Kommandos der Bodenarbeit werden weniger vergessen, so dass hier die Übungsphase kürzer ausfallen kann. Bahnfiguren werden erinnert, so dass neue Formen erfunden werden müssen, um eine Herausforderung zu stellen. In der Einzeltherapiestunde gestaltet sich dies einfacher und individueller. Es braucht niemand auf den anderen zu warten, dadurch erfolgt der Ablauf der Stunde ungestörter. Das „Warten müssen“ ist ja oft eine negative Erfahrung, die hochbegabte Kinder aus der Schule schon mitbringen. Seitens der Eltern und auch der Lehrkräfte wird oft erwartet, dass das entwicklungsauffällige hochbegabte Kind unbedingt in der Gruppe zu behandeln sei, da es ja Probleme in der Gruppe aufweise (Uhrlau 2004). Aber diese Probleme werden nicht durch eine Wiederholung der pro- 70 | mup 2|2013 Lubbe - Hochbegabung und Reittherapie blematischen Situation gelöst. Erst im ungestörten Kontakt und Austausch mit dem Partner Pferd kann es zu einer Steigerung der sozialen Kompetenz kommen. Die Beziehung zum Pferd kann damit zur Grundlage für den Aufbau sozialer Kontakte werden. Indem der Klient in dieser Beziehung unterstützt und ihm von noch nicht erfüllbaren sozialen Ansprüchen der „Rücken“ freigehalten wird, kann die notwendige Ich-Kompetenz entstehen, die er genau für diesen Austausch im menschlichen Sozialgefüge braucht. Der Weg in das reale gesellschaftliche Sozialgefüge, egal ob Kindergarten oder Schule, führt über die ungestörte und von den Außenstehenden unbeeinflusste Beziehungsgestaltung zum Therapiepferd. Diese Erfahrungen sind Ausdruck meiner fast zwanzigjährigen Arbeit mit Hochbegabten. Im Folgenden werden die Behandlungsverläufe von 20 von mir reittherapeutisch behandelten, hochbegabten Kindern und Jugendlichen ausgewertet. Untersuchungsinstrumente Es wurde zu Beginn und zum Abschluss der Therapie eine vollständige ärztliche Untersuchung unter Einschluss neurologischer und orthopädischer Untersuchungstechniken sowie eine Motoskopie (Kontrolle des Bewegungsablaufes) durchgeführt. Gezielt wurde auch auf eine eventuell vorhandene taktile Übererregbarkeit untersucht. Der Intelligenzquotient der Kinder war durch etablierte vollständige Intelligenzmessverfahren, wie z. B. HAWIK (Petermann / Petermann 2007) oder K-ABC (Melchers / Preuß 1994) überprüft worden. Hierbei handelt es sich um häufig eingesetzte Verfahren (Hartmann 2004). Sowohl vor Beginn der Therapie als auch nach Beendigung erfolgten meinerseits Tests zur Überprüfung der Emotionalität. Zur Anwendung kamen hier zwei bekannte Zeichentests (Kurth / Kurth 1999), wie der Mann-Zeichen-Test (Ziler 1996) und der Sterne-Wellen-Test (Ave- Lallemant 2006). Insbesondere mit dem Mann- Zeichen-Test lässt sich die Selbstwahrnehmung und ihre Veränderung recht gut einschätzen. Im Sterne-Wellen-Test ergibt sich eher ein Blick auf die Person in ihrem Kontext. Die Realitätssicherheit und Verhalten unter sozialen Konfliktsituationen wurde durch den Bilderbelastungstest nach Rosenzweig (Duhm / Hansen 1957) beurteilt, der zu den projektiven und psychoanalytischen Tests gehört. Mit diesem Verfahren lassen sich auch die Selbstkompetenz und die sogenannte ego-defense beurteilen. Dies lässt Rückschlüsse auf das Selbstbewusstsein und die Konfliktlösungsfähigkeiten zu. Außerdem erfolgte eine Auswertung der einzelnen Stundenprotokolle sowie eine Interpretation der gezeigten Verhaltensweisen. Stichprobe Das Altersspektrum reichte vom fünfjährigen Kindergartenkind bis zum sechszehnjährigen Jugendlichen. Acht dieser Kinder (fünf Jungen, drei Mädchen) waren zwischen fünf und zehn Jahre alt, zwölf (acht Jungen, vier Mädchen) zwischen zehn und sechszehn Jahren. Das ergibt ungefähr eine Verteilung von einem Drittel Mädchen zu zwei Drittel Jungen. Diese deckt sich mit der Tatsache, dass in Deutschland sehr viel mehr Jungen als Mädchen als hochbegabt identifizieren werden (Endepohls-Ulpe 2010). Dies liegt daran, dass in Deutschland meist erst bei Problemen ein Intelligenztest durchgeführt wird. Jungen werden Zeichnung 1: Der Sterne-Wellen-Test (Abb. aus: Ave-Lallemant 2006) Lubbe - Hochbegabung und Reittherapie mup 2|2013 | 71 häufiger zur Untersuchung vorgestellt, weswegen bei ihnen häufiger die Hochbegabung gefunden wird. Bei den Jüngeren fanden sich häufiger motorische Auffälligkeiten, bei den Älteren dominieren Auffälligkeiten des Sozialverhaltens. Insbesondere die Jungen (zehn von zwölf) wiesen häufiger aggressive Verhaltensstörungen (Prügeleien auf dem Schulhof o. ä.) auf. Bezogen auf die Mädchen wurde eher über sozialen Rückzug bzw. depressive Störungen geklagt; diese fanden sich bei fünf von acht Mädchen. Bei zwei Mädchen bestand eine Depression kombiniert mit einer Essstörung. Alle 20 Kinder waren im Verhältnis zu ihrer extrem hohen geistigen Fähigkeit relativ schlechte Schüler, sogenannte „Minderleister“ oder „underachiever“. Graphik 5: Anzahl der Kinder bzgl. Minderleister und Underachiever Bei drei Schülern (jeweils Jungen) war aktuell die Versetzung in die nächsthöhere Klasse gefährdet. Bei sechs Kindern bestand außerdem eine Lese-Rechtschreibschwäche; hiervon waren fünf Jungen und nur ein Mädchen betroffen. Graphik 6: Anzahl der Kinder mit Lese-Rechtschreibschwächen In Bezug auf fünf Jungen, das entspricht fast einem Drittel, wurde außerdem von einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit Hyperaktivität (ADHS) ausgegangen. Graphik 7: Anzahl der Kinder mit ADHS Graphik 2: Altersspektrum Graphik 3: Anzahl der Kinder mit aggressiven Verhaltensstörungen Graphik 4: Anzahl der Kinder mit Depressionen 72 | mup 2|2013 Lubbe - Hochbegabung und Reittherapie Die Pferde Zur Verfügung standen auf der eigenen Reitanlage zwei ältere deutsche Reitponys sowie drei irische Tinker. Es handelte sich um vier Wallache und eine Stute. Sie leben im Offenstall und werden regelmäßig geritten und longiert. Alle fünf Pferde verfügen über Erfahrungen im therapeutischen Reiten. Seitens ihrer Persönlichkeit und Sensibilität unterscheiden sie sich naturgemäß deutlich. Durchführung der therapeutischen Einheiten Die Einzelstunden wurden vorab schriftlich geplant und anschließend dokumentiert. Die Auswahl des Pferdes erfolgte durch die Kinder selbst. Auf dem Paddock wurde ihnen die Möglichkeit gegeben, die einzelnen Pferde zu betrachten und kennenzulernen. Die „Partnerwahl“ erfolgte so direkt zwischen Klient und Pferd. Struktur und Ablauf der Stunden orientierte sich an den Erfahrungen, die Gäng (2010) beschrieben hat. Die Anzahl der Therapiestunden schwankte zwischen mindestens zwölf Einheiten, meistenteils um die zwanzig, einmalig auch sechsunddreißig. Schwerpunkt der Stunde bildete jeweils der Beziehungsaufbau durch den direkten Kontakt zum Pferd. Interventionen durch den Therapeuten beschränkten sich auf Erklärungen und Angebote und waren nur im Falle der Gefahrenabwehr direktiv. Das Pferd sollte beobachtet, betrachtet, erfühlt, betastet und mit allen Sinnen wahrgenommen werden. Dazu gehörten die Fellpflege, das Streicheln, das Putzen, das Erkennen seiner Bedürfnisse sowie deren Versorgung. Dann folgte das selbständige Führen, das Erarbeiten eigener kleiner Bodenparcours, in denen besonders für die jüngeren Kinder manchmal kleine Fantasiegeschichten eingearbeitet wurden. Besonders beliebt waren hier Themen wie mit dem Pferd - wahlweise als Prinz oder Prinzessin - unterwegs zum Schloss zu sein, dort einen Teddy zu retten oder einen Schatz (bestehend aus Möhren für das Pferd) zu heben (Gäng 2011). Der Verlauf Nach wenigen Einheiten tauchte rasch der Wunsch auf, selbst auf dem Pferd zu sitzen. Erwartungsgemäß waren die Jungen hier etwas forscher als die Mädchen, jedoch brauchten diese oft nur eine kleine Ermutigung. Das Sitzen auf dem Pferderücken entspannte auch überaktive Kinder rasch und deutlich. Der gleichmäßige Vier-Takt in der Gangart Schritt entspricht der motorischen Struktur des Menschen; in diesem Rhythmus erfolgt auch die Links-Rechts-Koordination. Deshalb erfolgten hier Schritt-Spaziergänge durch die Felder bzw. durch den nahegelegenen Wald. Die Beobachtung der Natur rundum stellte für die aufgeweckten „Geister“ eine zusätzliche Quelle neuer Beobachtungen und geistiger Auseinandersetzung dar. Dazu trägt naturgemäß die erhöhte Sitz- / Wahrnehmungsposition positiv bei. Bei den älteren Kindern fiel auf, wie rasch sie sich mit ersten kleinen Hilfengebungen für das Pferd beschäftigen konnten. Die hohe geistige Kompetenz half hier, sich die Anleitungen zu merken und umzusetzen. So kam es rasch zu ersten Erfolgserlebnissen. Insbesondere die Jugendlichen konnten bereits nach wenigen Stunden ihr Therapiepferd durch den ersten Slalomparcours lenken. Einen Unterschied zwischen den Geschlechtern konnte hier nicht gesehen werden. Auffällig wurden jedoch hierbei der extrem hohe Ehrgeiz und ein massives Perfektionsstreben. Erstaunlicherweise wurden aber (im Gegensatz zum häuslichen oder schulischen Kontext) die unvermeidbaren Rückschläge in der Regel mit Lachen und Spaß verarbeitet. Ursächlich ist hier m. E. die Tatsache, dass die Rückmeldung des Pferdes ohne negative Kritik erfolgt. Es tut einfach nicht das, was man wollte, aber es schimpft Die hohe geistige Kompetenz half hier, sich die Anleitungen zu merken und umzusetzen. So kam es rasch zu ersten Erfolgserlebnissen. Lubbe - Hochbegabung und Reittherapie mup 2|2013 | 73 nicht darüber, es kritisiert den Reiter nicht, es beschuldigt ihn nicht. Das Perfektionsstreben zeichnet auch den minderleistenden Hochbegabten aus (einer der Gründe, warum er manche Aufgaben gar nicht erst anfängt, wenn er weiß, dass das Ergebnis nicht perfekt genug sein würde) und so erlebten sie selbst den Umstand, kleinere Misserfolge spaßhaft finden zu können, als neu, aufregend, amüsant und bereichernd. Ergebnisse nach der Reittherapie Bei der Abschlussuntersuchung der motorischen Fähigkeiten zeigte sich, dass die Qualität der motorischen Bewegungsabläufe deutlich verbessert werden konnte, insbesondere im Bereich der Links-Rechtskoordination. Dies war erkennbar in einem flüssigeren Bewegungsablauf, insbesondere auch beim Rückwärtsgehen. Die Koordination zwischen Oberkörper und den Beinen war deutlich besser und bildete damit die Basis einer erhöhten Handlungskompetenz. Eine verbesserte Handlungsfähigkeit erleichtert den Alltag. So kann z. B. in der Schule schneller das Arbeitsmaterial aus der Tasche genommen werden und schneller geschrieben werden. Die verbesserte Motorik bezieht sich dabei nicht nur auf grobmotorische Abläufe, sondern auch auf die Feinmotorik bis hin zur besseren Augenmuskelsteuerung. Schnellere Augenbewegungen erleichtern dabei vor allem das Lesen. Das Ertasten und Erfühlen des Pferdes und des Fells verminderte die taktile Übererregbarkeit in einem erheblichen Maße. Bestanden bei einigen Kindern anfangs Bedenken z. B. schmutzige Fellteile mit den Fingern zu berühren, so war dies bereits nach wenigen Stunden kein Problem mehr. Die Auswirkungen dieser Tatsache auf den Lebensalltag der Kinder sind immens, wenn sie im Sportunterricht Kreide oder Sand anfassen können oder das Säubern der Tafel mit einem feuchten Schwamm für sie möglich wird. Auch stark sensorisch überempfindliche hochbegabte Kinder ließen sich erstaunlich schnell darauf ein, die Therapiepferde mit allen Sinnen wahrzunehmen. Am einfachsten fiel ihnen natürlich die optische Unterscheidung, doch sie konnten auch bald Unterschiede in der Fellstruktur ertasten oder die Pferde am spezifischen Geruch wiedererkennen. In der Regel konnten Klient und Pferd „sich gut riechen“. Meiner Meinung nach erfahren hochbegabte Kinder durch ihre oft extrem offenen Sinnesorgane immer wieder einen so hohen sensorischen Input, dass trotz der hohen Informationsverarbeitung eine Überlastungsreaktion eintritt. Durch diese schlechte Filterung können sie Überflüssiges also schlecht weg- oder abschalten. Der reproduzierbare und strukturierte Rahmen der Therapiestunde und die tragfähige emotionale Beziehung zu „ihrem“ Pferd bildeten die Struktur, die reichlich vorhandenen Sinnesreize zu ordnen und dann auch zu verarbeiten. Dies alles führt zusammen zu einer Verbesserung der sensorischen Integration. Verbesserung der geistigen Ebene Bemerkenswert sind die Verläufe bei den zu Beginn als hyperaktiv und aufmerksamkeitsgestört eingestuften Kindern, allesamt Jungen. In den ersten Stunden zeigten sie sich als erheblich körperlich unruhig und übermäßig ablenkbar. So erweckten sie, z. B. monoton die Arme bewegend, den An- 74 | mup 2|2013 Lubbe - Hochbegabung und Reittherapie schein, das Pferd zu putzen, waren jedoch mit ihren Augen ganz woanders. Hier halfen kleine Aufgaben, wie: „Welche Stelle ist weich, welche hart, welche Stelle kalt, welche warm? “. Durch ihre hohe Intelligenz hatten sie solche Fragen rasch beantwortet, so dass Anreize geschaffen werden mussten, um ihre Aufmerksamkeit erneut an das Pferd zu binden. Am meisten profitierten diese Jungen vom Geführtwerden auf dem ungesattelten Pferderücken durch einen kleinen Parcours. Natürliche Hindernisse und Herausforderungen, wie kleine Hügel, Baumstämme oder der Bachdurchritt bündelten ihre Aufmerksamkeit am stärksten. Insbesondere der Bach wurde immer zu einem kleinen Abenteuer. Gegenüber anderen Kindern ließ sich in der Gruppe der Hochbegabten sehr rasch ein Transfer der verbesserten Konzentrationsleistung in den schulischen Alltag erkennen. Versetzungen, die gefährdet waren, konnten in allen erwähnten Fällen erreicht werden und der geplante Schulformwechsel wegen zu schwacher Leistungen konnte verhindert werden. In der Gruppe der Mädchen waren Aufmerksamkeitsstörungen kein wesentliches Problem. Durch ihre hohe Auffassungsgabe waren sie jedoch sehr schnell in der Lage, Lektionen zu erfassen und korrekt wiederzugeben. Dadurch kam es sehr schnell zu Erfolgserlebnissen. Und Erfolgserlebnisse sind die Basis des Selbstbewusstseins. Dadurch wurden sie lockerer und spontaner und trauten sich mehr zu. Verbesserung der emotionalen Ebene Bei fast allen Kindern und Jugendlichen konnte das Selbstbewusstsein gestärkt und die Selbstkompetenz verbessert werden. Dies bestätigten die erwähnten Testverfahren. Die unaufgeregte positiv gestimmte Reaktionsbereitschaft des Therapiepferdes schuf eine Situation, in der die durch negative Kritik verletzten jungen Persönlichkeiten sich endlich vertrauensvoll entfalten konnten. Nur in einem Fall gelang diese Umsetzung nur teilweise. Ein sechzehnjähriges hochbegabtes Mädchen baute zunächst eine positiv getönte therapeutische Beziehung auf, die dann durch massive familiäre Auseinandersetzungen so stark überschattet wurde, dass eine Lösung ausschließlich im Rahmen der Reittherapie leider nicht möglich war. Die beschriebenen aggressiven Verhaltensstörungen der Jungen konnten vermindert werden, so dass für einen Jungen der geplante Schulwechsel nicht mehr nötig wurde. Auch hier konnte testdiagnostisch eine verbesserte Realitätssicherheit und Lösungskompetenz erkannt werden. Die Rückzugstendenzen der Mädchen konnten genauso vermindert werden. Eine Jugendliche wurde zum Ende der Therapie zur Klassensprecherin gewählt, eine andere traute sich das Überspringen einer Klasse zu. Bei einem dritten Mädchen konnte die vorzeitige Einschulung realisiert werden, bei einem weiteren wurde auf Grund der gestiegenen Belastbarkeit doch das Gymnasium als weiterführende Schulform gewählt. Diskussion Die extrem hohe Intelligenz von Kindern und Jugendlichen geht nicht zwangsläufig mit einer extrem hohen Leistungsfähigkeit Hand in Hand. Ihre Begabung wird in der Schule häufig nicht erkannt (Bergold 2012). Wenn intelligente Kinder schlechte Schüler sind, dann leidet auch das Selbstbewusstsein, und sie zeigen gehäuft ein grenzüberschreitendes Verhalten oder einen sozialen Rückzug (Schneider-Maessen 2007). Die therapeutische Arbeit mit dem Pferd bietet sich hier geradezu an, da sie nonverbal erfolgt und körperliche Aktivität mit geistiger Anregung und emotionaler Unterstützung in idealer Weise verbindet. Die durch die Reittherapie aus- Natürliche Hindernisse und Herausforderungen, wie kleine Hügel, Baumstämme oder der Bachdurchritt bündelten ihre Aufmerksamkeit am stärksten. Lubbe - Hochbegabung und Reittherapie mup 2|2013 | 75 gelösten Effekte und Entwicklungsmöglichkeiten sind dadurch sehr vielschichtig. Körperliche Veränderungen lösen psychische Effekte aus und umgekehrt. Dies erschwert in der Auswertung die genaue Zuordnung, welche Maßnahme welche Folge veranlasste. Dennoch lassen sich deutliche positive Folgen verzeichnen. Diese weiter zu differenzieren, bleibt Aufgabe weiterer wissenschaftlicher Arbeit. Die einzelnen Interventionen durch den Therapeuten unterschieden sich nicht grundsätzlich von der Arbeit mit anderen Klientengruppen, nur waren das Tempo höher, die innere Varianz größer, der Ablauf schneller, die Spontaneität größer. Durch die hohe Auffassungsgabe der Hochbegabten war die inhaltliche Varianz der einzelnen Stunden recht groß, Stundenplanung mussten oftmals spontan ergänzt oder ausgebaut werden, da sie in ihrem hohen Tempo Stundenziele in kürzerer Zeit als geplant erreicht hatten. Es ist somit stets notwendig, immer einen „Plan B“ für neue Stundeninhalte in Reserve zu haben. In den hier ausgewerteten zwanzig Behandlungsverläufen zeigte sich bei der Eingangsdiagnostik eine typische Unterschiedlichkeit in der Symptomatik zwischen Jungen und Mädchen. Jungen imponierten als extrovertiert verhaltensauffälliger, die Mädchen eher zurückgezogener bzw. depressiv getönt. Ob diese Geschlechterdifferenz unterschiedliche Erwartungshaltungen der Gesellschaft Rechnung trägt oder andere Ursachen hat, konnte hier nicht geklärt werden. Trotz dieser Unterschiede wurde bei fast allen eine deutliche Verbesserung der Gesamtsituation erzielt. Die Jungen lernten, ihre Aufmerksamkeit besser zu bündeln und ihre Wahrnehmung des Gegenüber zu verbessern. Die Mädchen wurden mutiger und trauten sich eher, ihre Leistungsfähigkeit zu zeigen. Für den Verlauf erscheint es mir von Bedeutung, dass die Therapie als Folge von Einzelsitzungen angelegt wird und nicht in der Gruppe erfolgt. In einer gemischten Gruppe könnte es wieder frustrierende Erfahrungen geben, z. B. dass andere, motorisch geschickte Kinder, die aber vergessen hatten, wo ihr Pferd überhaupt steht, dieses schneller aus der Box haben als ein betroffenes anderes Kind selbst. Die besondere geistige Befähigung würde sich im Alltag wieder als überflüssig, mindestens aber als nicht nützlich erweisen. Und genau diese Wiederholung frustrierender Erlebnisse soll ihnen in der Therapie erspart werden. Das Pferd selbst fragt ja nicht nach; es ist zufrieden, wenn es von einem kleinen handlungsschwachen und ängstlichen Menschen einfach nur geputzt und mit einer Möhre belohnt wird. Konkurrenz und der Vergleich mit anderen ist für den frustrierten und minderleistenden Hochbegabten oft negativ besetzt. Dies erschwert gerade die therapeutische Arbeit in einer Gruppe hochbegabter Klienten. Veith / Struck (2008) berichten in ihrer Projektarbeit über ihre reittherapeutische Arbeit mit hochbegabten Kindern in einer Gruppe darüber, dass es im Stundenverlauf Konkurrenz und der Vergleich mit anderen ist für den frustrierten und minderleistenden Hochbegabten oft negativ besetzt. 76 | mup 2|2013 Lubbe - Hochbegabung und Reittherapie zu „Machtspielen“ innerhalb der Gruppe kam. Jeder wollte sozusagen der Erste sein. Dieses Phänomen wurde in der Einzelsituation bei den hier vorgestellten Kindern nicht gesehen. In der Gruppe entsteht automatisch die Situation des Vergleichs: wer war schneller, höher oder hat mehr Aufmerksamkeit bekommen? Damit entsteht unausweichlich Druck. Meines Erachtens ist es wichtig, derartigen Druck aus der therapeutischen Situation ganz herauszunehmen. Dazu bietet sich die Einzelstunde an. Der Vergleich mit anderen ist natürlich etwas, von dem die Kinder und Jugendlichen lernen müssen, sich zu stellen. Doch dazu müssen sie erst in einen Zustand der emotionalen Belastbarkeit gebracht werden. Die hier vorgestellten Ergebnisse zeigen, dass es dazu oft nur eine überschaubare Anzahl von Stunden braucht. Wahrscheinlich ist dieser Effekt sogar schneller zu erreichen, wenn der negative Konkurrenzdruck im therapeutischen Setting gänzlich entfällt. Entscheidend ist die Beziehung zum Therapiepartner Pferd. Gerade die nonverbale Kommunikation bietet den oft sprachlich extrem weit entwickelten Kindern einen neuen Erfahrungshorizont ohne sprachliche Missverständnisse. Gerade in der Einzelstunde ist es einfacher diesen Dialog ungestört wachsen zu lassen. In diesen Momenten wurde erkennbar, dass die therapeutische Reitstunde nicht als eine aufgezwungene Intervention zur Änderung ihrer Persönlichkeit empfunden wurde, sondern als eine seltene Insel von Mit-sich-im-Reinen-sein. So entstehen Lockerheit und Vergnügen, diese bereiten den Boden für eine weitere gesunde und vollständige Entfaltung der Persönlichkeit. Besonders geistig befähigte Kinder benötigen für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit eine maximale intellektuelle Herausforderung und das Gefühl in ihrer Besonderheit angenommen zu sein. Therapeutische Erfolge, die ihnen helfen ihre Fähigkeiten in der Schule zu zeigen, sind für den individuellen Lebensweg als extrem bedeutsam einzuschätzen. Ohne den Therapiepartner Pferd wären diese Behandlungserfolge nicht in so kurzer Zeit so eindrucksvoll umzusetzen gewesen. Literatur ■ Ave-Lallemant, U. (2006): Der Sterne-Wellen- Test. 3. Aufl. Ernst Reinhardt, München / Basel ■ Bergold, S. (2012): Identifikation begabter Schüler durch Lehrkräfte. Labyrinth 111, 12-14 ■ Duhm, E., Hansen, J. (1957): Der Rosenzweig P-F Test. Hogrefe, Göttingen ■ Endepohls-Ulpe, M. (2010): Einflussfaktoren auf die Identifikation hochbegabter Schüler durch Lehrkräfte. 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