eJournals mensch & pferd international 6/1

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2014
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Merkmale der Reittherapie

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Annette Gomolla
In einer qualitativen Dokumenten- und Videoanalyse wurden reittherapeutische Einheiten im Hinblick auf übergeordnete Merkmale untersucht. Die Dokumentation von 36 Therapiestunden unterschiedlicher Klienten sowie acht Videos konnten in die Analyse einbezogen werden. Neben Rahmenfaktoren wie Sicherheitsvorkehrungen und Vorbereitung des therapeutischen Settings wurden zehn Merkmale durch eine Kategorienreduktion herausgefiltert, die das reittherapeutische Geschehen prägen und unabhängig von der therapeutischen Ausrichtung der einzelnen Fachkräfte und der konkreten inhaltlichen Umsetzung benannt werden konnten.
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Annette Gomolla 4 | mup 1|2014|4-12|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378/ mup2014.art02d Schlüsselbegriffe: Merkmale der Reittherapie, Qualitätssicherung, qualitative Analyse, therapeutische Umsetzung, Abläufe in der Reittherapie In einer qualitativen Dokumenten- und Videoanalyse wurden reittherapeutische Einheiten im Hinblick auf übergeordnete Merkmale untersucht. Die Dokumentation von 36 Therapiestunden unterschiedlicher Klienten sowie acht Videos konnten in die Analyse einbezogen werden. Neben Rahmenfaktoren wie Sicherheitsvorkehrungen und Vorbereitung des therapeutischen Settings wurden zehn Merkmale durch eine Kategorienreduktion herausgefiltert, die das reittherapeutische Geschehen prägen und unabhängig von der therapeutischen Ausrichtung der einzelnen Fachkräfte und der konkreten inhaltlichen Umsetzung benannt werden konnten. Ergebnisse einer qualitativen Dokumenten- und Videoanalyse reittherapeutischer Einheiten Merkmale der Reittherapie Gomolla - Merkmale der Reittherapie mup 1|2014 | 5 Eine reittherapeutische Intervention kann sehr unterschiedlich gestaltet werden, und sicherlich gibt es in einer speziell auf den Klienten ausgerichteten Arbeitsweise kein Patent-Rezept. Es findet sich bislang in der Fachliteratur keine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Gestaltung therapeutischer Settings in den Pferdegestützten Interventionen. Die vorliegende Arbeit soll sich mit dem Teilbereich der Reittherapie beschäftigen und Merkmale herausarbeiten. Es werden Ergebnisse einer qualitativen Untersuchung reittherapeutischer Einheiten zusammengefasst und daraus resultierende Merkmale in der Reittherapie zusammengestellt. Die Merkmale, welche herausgearbeitet, benannt und beschrieben werden, beziehen sich auf die Therapie mit dem Medium Pferd bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Entwicklungsverzögerungen, geistigen Behinderungen, Verhaltensstörungen, psychischen bis hin zu psychosomatischen Erkrankungen. Die Pferdegestützten Interventionen im Allgemeinen und die Reittherapie im Speziellen Innerhalb der Pferdegestützten Intervention, die den therapeutischen, pädagogischen sowie präventiven Einsatz von Pferden bezeichnet (Riedel 2011), wurden unterschiedliche Arbeitsformen gefunden. Hier sind neben den übergeordneten Begriffen der Hippotherapie, Reittherapie und Reitpädagogik Verfahren zu nennen wie z. B. Psychomotorik mit dem Pferd, progressive Muskelentspannung auf dem Pferd oder Familientherapie mit Pferden, um nur weniges beispielhaft aufzuführen. Es werden verschiedenste therapeutische oder pädagogische Methoden zur Anwendung gebracht, in welche das Pferd als Medium mit einbezogen wird. So hat sich das Feld der Pferdegestützten Interventionen stark ausdifferenziert. Bislang wird wissenschaftlich der Frage noch nicht nachgegangen, in welchem Maße das Pferd an sich und daneben die spezifische Interventionsstrategie mit unterschiedlichen Verfahrensweisen zum Erfolg einer Pferdegestützten Intervention beitragen. Weiterhin ist bisher wenig in den fachlichen Austausch einbezogen worden, in welchem Maß die Umgebung auf einem Hof mit unterschiedlichen Reizen sowie die Natur im Umfeld der Pferde einen Teil der Wirkung Pferdegestützter Interventionen ausmachen können. Das Setting als Gesamtes mit vielfältigen Handlungen rund um das Pferd, die Umgebungsfaktoren auf einem Hof und der Natur gehen vermutlich Hand in Hand mit der genuinen Wirkung des Pferdes im Setting. Häufig lässt sich in der Praxis nur schwer analysieren, was zu einem positiven Verlauf einer Therapieeinheit sowie eines Gesamtverlaufs führt. Ziele in Pferdegestützten Interventionen können auf physischer und psychischer Ebene formuliert werden. Als wichtige übergeordnete Ziele sind beispielhaft zu nennen: Verbesserung körperlicher Befindlichkeiten und Zustände (z. B. Gehfähigkeit, Rumpfaufrichtung, Tonusaufbau etc.), Schulung der Körperwahrnehmung und Grobsowie Feinmotorik, Stärkung des Vertrauens intern und extern, Abbau von Ängsten, Förderung der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses, des Raumgefühls, der Eigenständigkeit, des Sozialverhaltens und der (verbalen und non-verbalen) Kommunikation (Gomolla 2011, 15). Die Reittherapie ist als therapeutische Interventionsform innerhalb der Pferdegestützten Interventionen zu verstehen, die sich auf die Unterstützung körperlich-psychischer Zustände bei verschiedenen Klienten mit Entwicklungsverzögerungen, Behinderungen sowie psychischen Beeinträchtigungen oder Störungen ausrichtet. Es handelt sich in der Regel um eine additive Therapieform, die vor, begleitend oder nach zum Beispiel einer Ergotherapie oder Psychotherapie angewendet werden kann. In jedem Fall muss gewährleistet sein, dass eine ärztliche oder psychologische Abklärung erfolgte und bei bestehenden Diagnosen eine Therapie bei Fachkräften außerhalb der Reittherapie besteht bzw. bestand. 6 | mup 1|2014 Gomolla - Merkmale der Reittherapie Soll psychische Entwicklung unterstützt werden, können wir davon ausgehen, dass sich die Wirkung nicht auf einzelne isolierbare Übungen zurückführen lässt. Die psychotherapeutische Forschung zeigt auf, dass die Therapiebeziehung als einer der am besten gesicherten Faktoren für den Therapieerfolg verantwortlich ist (Grawe u. a. 1994). Daneben werden als therapeutische Wirkfaktoren Kategorien wie Einfühlungsvermögen und therapeutische Intensität beschrieben (Hain 2001, 133 f). Therapeutische Interventionen und Strategien sollen verschiedene Methoden integrieren, um effektiv und individuell angepasst in der Therapie wirken zu können (Hain 2001, 143). In der Reittherapie wird das Pferd als Medium einbezogen, ist somit eine Form von „Methode“, die genutzt wird. Die Wirkung des Pferdes auf psychische Faktoren ist in den Grundlagen nicht wissenschaftlich gesichert, erste Hinweise sprechen für eine emotionale Öffnung auf Seiten des Klienten (Beetz u. a. 2012) und weisen beispielsweise auf eine Verbesserung von Symptomen insbesondere bei Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensstörungen hin (Winkler/ Beelmann 2013). Wie sich nun das methodische Vorgehen innerhalb des pferdegestützten Settings auf den Therapieerfolg auswirkt, wurde noch nicht untersucht. Ein Hinweis besteht, dass ein längerer Behandlungszeitraum eher zum Erfolg führt (Winkler/ Beelmann 2013), jedoch wird auch kein sinnvoller zeitlicher Rahmen benannt. Gruppensettings sind der Metaanalyse von Winkler/ Beelmann (2013) nach effektiver als Einzeltherapien, was jedoch mit der Auswahl der Studien zu tun haben kann, die in die Analyse einbezogen wurden, denn es konnte nur bei zwölf von den 19 aufgeführten Studien diese Angabe ausgewertet werden, und dabei gab es einen Überhang von acht zu vier Studien im Gruppensetting versus Einzelsetting. Aus der praktischen Arbeit der Autorin heraus kann eine effektivere Wirkung im Gruppensetting nicht bestätigt werden, und die in der Literatur so häufig beschriebene Triade in der Therapie mit dem Pferd spricht für ein Einzelsetting (Brühwiler-Senn 2009). Dem Aspekt sollte in weiteren Untersuchungen nachgegangen werden. Welche Faktoren oder Merkmale beinhaltet eine Reittherapie, unabhängig von speziellen Ansätzen und einzelne Übungen, die darin eingebracht werden? Wie wird das Setting gestaltet und was sind zentrale, immer wiederkehrend zu beobachtende Interventionsmerkmale in der Reittherapie? Diesen Fragen soll anhand der qualitativen Auswertung reittherapeutischer Einheiten nachgegangen werden. Methodik Die Hinwendung zur qualitativen Forschung ist immer dann anzustreben, wenn das Forschungsfeld reflexiv beleuchtet werden soll und noch keine konkrete Hypothesenbildung aufgrund zu geringer bestehender Forschungsbefunde vorgenommen werden kann. Dabei steht die Prozesshaftigkeit des Vorgehens im Vordergrund, in der Daten mehrere Stufen der Erhebung und Interpretation durchlaufen (Flick 1995, 9). Das bedeutet, dass die Ergebnisse eines Schritts die Ergebnisse des nächsten maßgeblich strukturieren und eng an bestehendem Datenmaterial analysiert werden. Zur Beantwortung der Fragestellung wurde eine Video- und Dokumentenanalyse eingesetzt. In die Dokumentenanalyse wurden Stundendokumentationen reittherapeutischer Einheiten einbezogen mit dem Fokus auf die Identifizierung von immer wiederkehrenden Abläufen im Stundenaufbau sowie in Interventionsstrategien. Hierzu wurde die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2000) genutzt. Im ersten Schritt wurden aus dem schriftlichen Datenmaterial Aktivitäten und Handlungen aus den reittherapeutischen Einheiten benannt und zusammengetragen, die im zweiten Schritt zu übergeordneten Kategorien zusammengefasst wurden - z. B. Benennung der Aktivität „Klient wird von der Reittherapeu- Beziehungstriade als Wirkfaktor in der Reittherapie Gomolla - Merkmale der Reittherapie mup 1|2014 | 7 tin zur Begrüßung zum Pferd begleitet.“ oder „Klient wird auf eine Reaktion des Pferdes beim Putzen aufmerksam gemacht.“ für die Kategorie Aufmerksamkeitslenkung. Mit den Kategorien wurde danach das Videomaterial bearbeitet, wobei insgesamt aus jedem Video die ersten zehn Minuten sowie zehn Minuten aus dem Mittel- und dem Endbereich der Therapie analysiert wurden. Eine Zuordnung zu den aus dem zweiten Analyseschritt bestehenden Kategorien wurde immer nach einer Minute vorgenommen, sodass es bei jedem Video 30 Bewertungszeitpunkte gab. Durch die Dokumentenanalyse konnten bereits alle Kategorien bis auf den „Optimalen Erregungszustand“ benannt werden, welcher durch die Videoauswertung noch hinzukam. In dem vierten Schritt der Analyse wurden die Kategorien in ihrer Benennung noch einmal überarbeitet und passende zusammengefügt; z. B. wurden Aktivität und Ruhe zu einer Kategorie zusammengefasst. Der erste und zweite Analyseschritt wurden durch zwei Auswerter gemeinsam vorgenommen. Die Videoauswertung wurde von beiden Auswertern unabhängig vorgenommen. Die Intercoder- Reliabilität in der Auswertung der Videos war mit 0.86 zufriedenstellend. In der abschließenden Kategorienreduktion arbeiteten die Auswerter wieder gemeinsam. Innerhalb der Dokumentenanalyse kamen die Aufzeichnungen von 42 Therapieeinheiten zur Auswertung. Es handelte sich um Berichte abgeschlossener Therapien zweier Reittherapeutinnen aus den Jahren 2010 bis 2012. Die Therapeutinnen waren vom Grundberuf Ergotherapeutin bzw. Psychologin mit einer Zusatzqualifikation als Reittherapeutin. Es ging dabei jeweils um zwei Einheiten innerhalb der ersten fünf Sitzungen, der Sitzungen sechs bis zehn sowie der Sitzungen elf bis zwanzig ein und desselben Klienten. Sieben verschiedene Klienten wurden einbezogen, bei denen es sich um fünf Kinder und zwei Erwachsene handelte. Bei den Kindern waren zwei mit Sprach- und Entwicklungsrückständen, ein Kind mit Autismus, ein Kind mit Enuresis und ein Kind mit einer Verhaltensstörung (Hyperaktivität). Der Altersdurchschnitt der Kinder lag bei 8,75 Jahren (SD = 1,5), es handelte sich um drei Mädchen und zwei Jungen. Bei den Erwachsenen wurde ein männlicher Klient mit einem depressiven Syndrom ausgewählt (33 Jahre) und eine junge Frau mit selektivem Mutismus (21 Jahre). Bei allen Klienten war nachweislich durch die Therapieevaluation (Klient bzw. Eltern und Kind) eine erfolgreiche Reittherapie durchgeführt worden, in der eine hohe Zufriedenheit mit den erreichten Zielen und Umsetzungen angegeben wurde und sich die Symptomatik oder Problembereiche verbessert oder die Symptomatik aufgehoben hatten. Die Evaluation wurde mit den Evaluationsbögen aus dem DORI-K und DORI-E vorgenommen (Gomolla 2011; Gomolla 2013). In die Videoauswertung konnten acht Therapiestunden von drei verschiedenen Reittherapeutinnen einbezogen werden (Ergotherapeutin, Physiotherapeutin und Psychologin mit Zusatzqualifikation). Die Videos entstanden während der reittherapeutischen Behandlung von vier unterschiedlichen Personen, sodass je zwei Einheiten einer Person analysiert wurden. Es handelte sich um zeitlich zufällig ausgewählte Einheiten, wobei die eine Hälfte der Videos innerhalb der ersten fünf Therapiestunden entstand und die andere Hälfte im späteren Verlauf zwischen der 1. Schritt Dokumentenanalyse für Rahmenbedingungen 2. Schritt Benennungen von Aktivitäten aus den Dokumenten und Teil des Videomaterials 3. Schritt Bildung von übergeordneten Kategorien aus den Aktivitäten 4. Schritt Reduktion der Kategorien zu übergeordneten Merkmalen Analyseschritte 8 | mup 1|2014 Gomolla - Merkmale der Reittherapie sechsten und zwanzigsten Stunde. Es handelte sich um die Aufzeichnungen von einem Mädchen mit Down-Syndrom (9 Jahre), einem Mädchen mit Sprachentwicklungsverzögerung (7 Jahre), einem Jungen mit frühkindlichem Autismus (4 Jahre) und einem Jugendlichen mit ADHS (13 Jahre). Auch diese Therapiefälle wurden so ausgewählt, dass eine positive Therapieevaluation vorlag. Ergebnisse In der Reittherapie wird an therapeutischen Zielen gearbeitet, zu deren Erreichung das Pferd eingesetzt wird. Wie die Reittherapie aufgebaut ist, hängt von dem Problembereich und den Therapiezielen ab, ebenso von den Rahmenbedingungen wie dem zeitlichen Umfang der einzelnen Einheiten (von 30 Minuten bis 60 Minuten in den ausgewerteten Daten) sowie der Therapiedauer (zwischen 15 und 30 Sitzungen in den ausgewerteten Daten). Typischer Ablauf einer reittherapeutischen Einheit Übergreifend konnte festgestellt werden, dass alle Therapieeinheiten einem ähnlichen Ablauf folgten (vgl. Abb. 1). So gab es immer eine (oft ritualisierte) Begrüßung durch die Reittherapeutin sowie eine darauf folgende Begrüßung des Pferdes und am Ende eine Verabschiedung des Pferdes und der Reittherapeutin. Diese Phasen nahmen einen wichtigen Raum im Geschehen ein. In der therapeutischen Fachliteratur wird von „therapeutischer Rahmung“ gesprochen (Welter-Enderlin 2002), bei der die Therapeutin emotional in das therapeutische Geschehen einführt und auch wieder ausleitet. In der Reittherapie wird in dieser ersten Phase die Beziehung vom Klienten zum Reittherapeuten und ebenso zum Pferd aufgenommen. Nach der Begrüßung folgten in den ausgewerteten Einheiten immer eine erste zumeist auch körperliche Kontaktaufnahme sowie die Aufnahme von Handlungen mit dem und rund um das Pferd (z. B. Körper ertasten, Pferd putzen, Pferd zum Reiten herrichten). Dem folgte eine Phase der Betätigung vom Boden aus beim Führen des Pferdes, danach die der intensiven Beschäftigung mit dem Pferd beim Führen, dann die Phasen einer freien Begegnung und dem Reiten auf dem Reitplatz oder im Gelände. Das Ende der Therapiestunden wurde eingeleitet durch das Zurückkommen zu einer Handlung am oder rund um das Pferd (Pferd versorgen, füttern etc.), bevor die Verabschiedung eingeleitet wurde. Rahmenfaktoren a) Vorbereitung des Settings Aus der Dokumentenanalyse wurden die Rahmenfaktoren entnommen, die die Vorplanung zu den Therapiestunden beinhalteten. Aus dieser wurde das Merkmal „Vorbereitung des Settings“ bestimmt. Der Ort der Durchführung, das Pferd und das Equipment wurden immer auf die Zielformulierung abgestimmt. Die Reittherapeutinnen entschieden, wo die einzelnen Sequenzen der Therapie stattfinden sollten. Das Pferd wurde zusammen mit dem Klienten und in Bezug zu den Therapiezielen ausgesucht und über einen längeren therapeutischen Zeitraum beibehalten, um die Beziehungsaufnahme zum Tier zu nutzen / zu fördern. Die Pferde waren immer durch Bewegung (Weidegang vor Therapieeinheiten und z. B. Ablongieren) und Fellpflege für die Therapieeinheit vorbereitet. Um das Wohlbefinden des Pferdes zu gewährleisten, achteten die Reittherapeutinnen auf das Befinden des Pferdes und Abb. 1: Graphische Darstellung des Stundenablaufs in der Reittherapie Gomolla - Merkmale der Reittherapie mup 1|2014 | 9 schützten es vor unangenehmen Reizen während der Einheiten. Im Weiteren wurde das therapeutische Umfeld in sinnvollem Maße durch die Reittherapeutinnen vorgestaltet, sodass der Klient in der Stunde handlungs- und eigeninitiativ werden konnte und durch das Umfeld angeleitet und stimuliert wurde (siehe nachfolgende Merkmale). b) Sicherheitsvorkehrungen Aus der Videoanalyse konnte im Allgemeinen entnommen werden, dass in allen Einheiten Helmpflicht bestand, Ausnahmen waren therapeutisch notwendige und angeleitete Situationen, in denen der Helm störend wirkte. In diesen wurde der Klient durch die Therapeutin oder einen Helfer besonders gesichert. Das Equipment für die Therapie, Gurt, Decke und Zäumung waren so gewählt, dass sich der Klient selbst gut sichern und das Pferd je nach Einsatzort optimal sicher gehandhabt werden konnte. Weiterhin hielten sich die Reittherapeutinnen immer in der Nähe des Klienten auf und konnten sichernd oder helfend eingreifen. Merkmale reittherapeutischer Interventionen Im Nachfolgenden werden die Kategorien benannt und beschrieben, die im vierten und letzten Analyseschritt aufgestellt wurden. 1) Steter Kontakt zum Tier Innerhalb der reittherapeutischen Triade von Klient, Pferd und Reittherapeut bahnten die Reittherapeutinnen stets den Kontakt zwischen Klient und Pferd an und nutzten die Reaktionen des Pferdes, um die Beziehung zu intensivieren. Besonders die eigeninitiierte Kontaktaufnahme durch das Pferd wurde zugelassen und gefördert. 2) Nutzung der Wahrnehmungsreize durch Setting und Pferd Die Reittherapeutinnen nutzen die sich im Umfeld des Pferdes und durch das Pferd bietenden taktilen, vestibulären und propriozeptiven Reize (taktile Reize z. B. durch Streicheln und Massieren, Kämmen, Anmalen; vestibulär z. B. durch Reiten in verschiedenen Gangarten, in Biegung des Pferdes durch Kurven, Bewegungen auf dem Pferd; propriozeptiv z. B. durch Heben schwerer Gegenstände, Ziehen oder Schieben von Gegenständen, Auskratzen der Hufe). Ebenso wurden auditive, optische und teilweise auch gustatorische und olfaktorische Reize einbezogen und so der Klient auf allen Wahrnehmungskanälen gefördert. 3) Handlungsanbahnung Die Reittherapie beinhaltete viele Handlungen mit dem und rund um das Pferd. Handlungen wurden vom Klienten gerne angenommen und umgesetzt. Viele natürliche Abläufe wie Fegen, Füttern und Putzen, aber auch das Führen und Reiten wurden umgesetzt mit der Zielformulierung / dem Ziel, dass sich der Klient als kompetent und selbstwirksam erleben kann. 4) Aufmerksamkeitslenkung Die Reittherapeutinnen versuchten stets, die Aufmerksamkeit wach zu halten und unterstützten dies durch die Umfeldgestaltung (Ort der Therapie, Material), durch die Interaktionsaufnahme von Seiten des Pferdes, durch die Interaktion mit den Klienten, durch Handlungen sowie durch unterschiedliche sensorische Reize. Die Reittherapeutinnen lenkten im Setting die Aufmerksamkeit des Klienten dabei auf für sie als förderlich erachtete Situationen und Reize. Ein zu langes Abdriften der Klienten aus der Situation wurde (besonders bei behinderten und verhaltensauffälligen Kindern) vermieden. 5) Optimaler Erregungszustand Die Reittherapeutinnen achteten auf einen optimalen Erregungszustand beim Klienten, Übersowie Untererregung wurden vermieden. Ein Selbstwirksamkeit in Handlungen und Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt 10 | mup 1|2014 Gomolla - Merkmale der Reittherapie optimales Erregungslevel zeigte sich in der Anteilnahme des Klienten am Geschehen mit gleichzeitig überwiegendem Wohlbefinden und Ausdruck von Freude. 6) Wechsel von ruhigen und aktivierenden Situationen In den Reittherapie-Einheiten fand stetig ein Wechsel zwischen Aktivität und Ruhe statt. Innerhalb der Erreichung des optimalen Erregungslevels (siehe vorhergehender Punkt) ist die Generierung von ruhigen Momenten sinnvoll. Die ruhigen Momente wurden von den Reittherapeutinnen bewusst eingeleitet und gehalten. 7) Impulse des Klienten aufnehmen und verstärken Impulse für Verhaltensweisen wurden von den Reittherapeutinnen stets aufgenommen und unterstützt. Die Eigenimpulse wurden in den bestehenden Stundenablauf sinnvoll eingebunden, zum Teil wurde der Ablauf zur vorhergehenden Planung verändert im Hinblick auf die Impulse des Klienten. Damit kann eine größere Compliance für die Therapie bewirkt werden, ebenso ein Erleben von Kontrolle und Mitbestimmung. 8) Optimale Herausforderungen mit Erfolgserlebnissen In der Handlungsorientierung und dem Finden des optimalen Erregungszustandes wurde diese Kategorie bereits mit angesprochen, kann jedoch als eigenständige Kategorie eingestuft werden. Dem Klienten wurden in den reittherapeutischen Einheiten Herausforderungen gestellt, in denen er mit Ängsten umgehen lernte, mutig wurde, Erfolgserlebnisse direkt rückgemeldet bekam und Selbstwirksamkeit erlebte. 9) Eigenregulation des Klienten unterstützen In verschiedenen Momenten des reittherapeutischen Settings konnte die Eigenregulation unterstützt werden. Dies bedeutete, dass Klienten in Angst- oder Schrecksituationen sowie auch in Momenten der Frustration eine Regulation und den Umgang mit Gefühlen lernten. Dabei war die Anleitung der Reittherapeutinnen wichtig. Ebenso wurden in positiven Situationen Körperwahrnehmungen und Gedanken verankert, sodass diese in nachfolgenden schwierigen Situationen genutzt werden konnten. 10) Selbstständigkeit fördern und Regression angemessen zulassen In den Reittherapie-Einheiten wurde zu einem großen Teil der Zeitpunkte innerhalb der Handlungen mit, um das und auf dem Pferd versucht, den Klienten in die Selbst- und Eigenständigkeit zu führen. Jedoch wurde bei einigen Klienten auch die Möglichkeit der Regression vor allem auf dem Pferd genutzt. Dies wurde im Rahmen des Störungsbildes und der Zielplanung fachlich eingeschätzt und umgesetzt. In diesen Bereich fallen auch Übungen, die eher in Richtung Dominanz weisen oder eher das Loslassen und das Abgeben von Verantwortung beinhalten. Diskussion Die vorliegende Untersuchung sollte aufzeigen, welche Merkmale im reittherapeutischen Setting zum Tragen kommen, die unabhängig von den konkreten Inhalten bei verschiedenen Herangehensweisen und Klienten regelmäßig zu beobachten sind. Es konnten ein typischer Stundenablauf sowie Rahmenbedingungen aufgezeigt werden ebenso wie zehn übergeordnete Faktoren, die innerhalb der Therapieeinheiten sichtbar wurden und eine gelungene Reittherapie ausmachen können. In der wurde Dokumentenanalyse deutlich, dass in fachlicher Therapiearbeit nie ein Standardablauf umgesetzt werden kann, da dieser immer individuell an den Klienten und die Zielformulierung angepasst sein sollte. Es kann davon ausgegangen werden, dass nur ein Vorgehen, das sich an die individuellen Bedürfnisse und Symptomlagen des Klienten anpasst, erfolgreich sein kann. Die zehn Kategorien, die in der Analyse aufgestellt wurden, machen übergeordnete Merk- Gomolla - Merkmale der Reittherapie mup 1|2014 | 11 male aus, die eine sinnvolle reittherapeutische Umsetzung leiten können. Denn was macht den Einbezug des Pferdes in ein therapeutisches Setting aus? Anzunehmen ist, dass wir das Tier wesentlich als Beziehungspartner für den Klienten benötigen, dass daher natürlich der Kontakt zum Pferd stets genutzt werden sollte und auch das Tier die Möglichkeit erhält, in eigenständigen Kontakt mit dem Klienten zu treten. Die Aktivitäten um das Pferd herum im Stallbereich sowie auch Führübungen auf dem Reitplatz waren bedeutend im Setting. Sie nahmen ebenso viel Zeit ein wie das Reiten, teilweise auch eine größere Zeitspanne, je nach Förderschwerpunkt. Das Reiten diente oft der Aktivierung, gepaart mit Aufgaben oder auch in den höheren Gangarten. Das Liegen auf dem Pferd (zumeist rückwärts sitzend und mit dem Bauch über der Kruppe) wurde häufig als Ruhesituation aufgesucht. Je nach Klient diente auch das Sitzen im Grundsitz auf dem stehenden Pferd mit geschlossenen Augen der Erlangung von Ruhe, gepaart mit verschiedenen Anleitungen. Im Allgemeinen erschienen die unterschiedlichen Klienten in allen Stunden als sehr aufmerksam und reguliert, freudig, aber dabei dennoch ruhig. Ein optimaler Lernzustand kann damit angenommen werden, denn dieser ist geprägt durch eine freudige Stimmung, Wachheit und gleichzeitige Ruhe (Caine / Caine 2006; Schüßler 2004; Stöger 1986). Therapeutische Grundhaltungen der Empathie, Kongruenz und Akzeptanz konnten durch diese Art der Analyse nicht als Kategorien formuliert werden, waren in der Arbeit dennoch sichtbar und können als Basis für eine gute Beziehungsgestaltung zum Klienten angenommen werden. Zudem konnte erkannt werden, dass das Pferd und sein Wohlbefinden im Auge behalten wurde. Ein artgerechter Einsatz kann nur gewährleistet werden, wenn sich das Pferd durch die Haltungsbedingungen in einem ausgeglichenen und gesunden körperlichen und seelischen Zustand befindet, seinen Neigungen nach eingesetzt wird, auf die Stunden durch Training vorbereitet ist, eine feste Bezugsperson während der Stunden im Reittherapeuten findet und Stressanzeichen durch veränderten Einsatz frühzeitig begegnet wird. Sicherlich kann die vorliegende Studie nur einen Teil reittherapeutischer Arbeit beschreiben. Es wurde in der Planung der Analyse darauf geachtet, dass unterschiedliche Klienten mit einbezogen wurden und die durchführenden Reittherapeutinnen aus fachlich verschiedenen Arbeitsfeldern stammten. Dennoch kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich bei den ■ Vorbereitung des Settings ■ Sicherheitsvorkehrungen ■ Steter Kontakt zum Tier ■ Nutzung der Wahrnehmungsreize durch Setting und Pferd ■ Handlungsanbahnung ■ Aufmerksamkeitslenkung ■ Optimaler Erregungszustand ■ Ruhige Situationen ■ Impulse des Klienten aufnehmen und verstärken ■ Optimale Herausforderungen mit Erfolgserlebnissen ■ Eigenregulation des Klienten unterstützen ■ Selbstständigkeit fördern und Regression angemessen zulassen Merkmale einer gelungenen Reittherapie 12 | mup 1|2014 Gomolla - Merkmale der Reittherapie analysierten Daten um repräsentatives Material handelt. Zudem ist qualitative Forschung immer stark subjektiv, was auch durch den fachlichen Blick der Auswerter in dieser Untersuchung angenommen werden muss. Die erarbeiteten Merkmale sollen als Grundlage für weitere Studien begriffen werden. In einer weiterführenden Untersuchung könnte eine Faktorenanalyse genaueren Aufschluss über die Kategorienaufteilung geben und Zusammenhänge zwischen den einzelnen Merkmalen aufzeigen. Im Weiteren können die Ergebnisse zur Untersuchung der Wirkfaktoren in der pferdegestützten Therapie herangezogen werden, um eine Theoriebildung zur Wirkung der Pferde und den Wechselwirkungen zwischen Pferd, Umgebungsfaktoren und Interventionsstrategien durch den Therapeuten besser zu verstehen. Literatur ■ Beetz, A., Kotrschal, K., Uvnäs-Moberg, K., Julius, H. (2012): Basic neurobiological and psychological mechanisms underlying therapeutic Angaben zur Autorin Dr. rer. nat. Annette Gomolla Dipl.-Psychologin und Erwachsenenbildnerin (M. A.), arbeitet psychotherapeutisch und reittherapeutisch in eigener Praxis mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in den unterschiedlichsten Einsatzfeldern Pferdegestützter Interventionen und unterrichtet seit rund zehn Jahren am Institut für Pferdegestützte Therapie (IPTh) Reittherapeuten und -pädagogen. Anschrift: IPTh Dr. Annette Gomolla · Robert-Gerwig-Str. 12 D-78467 Konstanz · A.Gomolla@ipth.de effects of Equine Assisted Activities (EAA / T). HHRF Grant Public Report. In: www.horsesandhumans.org/ HHRF_grant_final_report_public_ version_June_2012_Basic_Neurobiological_ Psychological.pdf, 04.07.2013 ■ Brühwiler-Senn, R. (2009): Personenzentrierter Ansatz und körperorientierte Interventionen in der Reittherapie. In: Gäng, M. (Hrsg.): Reittherapie. 2. Aufl. Ernst Reinhardt, München / Basel, 57-67 ■ Caine, G., Caine, R. N. (2006): Meaningful learning and the executive functions of the brain. New Directions for Adult and Continuing Education, 53-61 ■ Flick, U. 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