mensch & pferd international
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Flow-Erleben und Tölt
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Nina Kobszick
Bewegung und Wahrnehmung sind zentrale Elemente in der Förderung einer ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung. Reiten bietet beste Möglichkeiten für ein besonderes Erleben von Bewegung und Wahrnehmung. Im Rahmen dieses Artikels wird Flow-Erleben beim Reiten betrachtet und der Frage nachgegangen, ob es durch die herausragenden Bewegungs- und Wahrnehmungsmomente im Kontakt zwischen Mensch und Pferd besonders gut möglich ist, Flow zu erleben und wofür dieser Zustand, beispielsweise unter therapeutischen Aspekten, hilfreich sein könnte.
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14 | mup 1|2015|14-21|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2015.art03d Nina Kobszick Schlüsselbegriffe: Flow, Reiten, Wahrnehmung, Bewegung, Tölt Bewegung und Wahrnehmung sind zentrale Elemente in der Förderung einer ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung. Reiten bietet beste Möglichkeiten für ein besonderes Erleben von Bewegung und Wahrnehmung. Im Rahmen dieses Artikels wird Flow-Erleben beim Reiten betrachtet und der Frage nachgegangen, ob es durch die herausragenden Bewegungs- und Wahrnehmungsmomente im Kontakt zwischen Mensch und Pferd besonders gut möglich ist, Flow zu erleben und wofür dieser Zustand, beispielsweise unter therapeutischen Aspekten, hilfreich sein könnte. Flow-Erleben und Tölt Nina Kobszick Kobszick - Flow-Erleben und Tölt mup 1|2015 | 15 „Flow“ bezeichnet das Gefühl völligen Aufgehens in einer Tätigkeit (Schmid 2007, 130 f). Mihaly Csikszentmihalyi (1995, 15) begann erste Untersuchungen zum sogenannten Flow zu Beginn der 1980er Jahre. Fachleute unterschiedlicher Disziplinen haben das Konzept aufgegriffen und für theoretisch fundiert eingestuft (Csikszentmihalyi 1987, 23 f). In sich versunken, völlig konzentriert, schwerelos, fließend, anstrengungslos, schwebend - all das beschreibt Flow (Csikszentmihalyi / Jackson 2000, 20). Flow ist ein besonderer, dynamischer Zustand. Ein ganzheitliches Gefühl entsteht, es folgt Handlung auf Handlung ohne bewusstes Eingreifen (Csikszentmihalyi 1987, 58 f). Dieser spezifische Erlebniszustand wird als so erstrebenswert empfunden, dass versucht wird, ihn immer wieder zu erlangen. Er wurde von Csikszentmihalyi (1995, 43) als „Flow“ bezeichnet, da viele Interviewpartner immer wieder den Begriff des „Fließens“ verwendet haben. Die Flow-Komponenten Die wahrgenommenen Anforderungen (Herausforderungen) und mitgebrachten Fähigkeiten (Können) müssen im Gleichgewicht zueinander stehen, damit optimales Erleben im Sinne von Flow zustande kommen kann. Ist die Aufgabe zu schwierig, entsteht ein Gefühl von Überforderung, eine zu leichte Aufgabe führt zu Langeweile. Der Handlungsablauf wird im Flow als glatt, gleitend und flüssig erlebt, Körper und Geist verschmelzen förmlich miteinander. Die Ziele sind klar und erreichbar, zudem ist jeder nächste Schritt zur Zielerreichung ersichtlich. Die Tätigkeit gibt eindeutige Rückmeldung bzgl. der Zielerreichung. Die Konzentration liegt ganz auf der Aufgabe, die Aufmerksamkeit ist zentriert. Das momentane Handeln wird nicht hinterfragt oder reflektiert. Man empfindet subjektiv ein Kontrollgefühl, hat die Aufgabe „im Griff“. Die bewusste Reflexion über sich selbst verschwindet. Es kann eine Ausdehnung des Selbst über die Körpergrenzen hinweg erlebt werden. Bewertende Gedanken über sich selbst setzen aus. Gegebenenfalls erlebt man eine veränderte Zeitwahrnehmung. Das Gesamterlebnis ist in sich selbst befriedigend (Csikszentmihalyi 1987, 1995, 2000; Engeser/ Vollmeyer 2005, 63; Rheinberg 2006, 154; Frankenberg 2010, 16f; Schmid 2007, 130f). Ob eine Person Flow erlebt, ist abhängig von der Struktur der Aktivität sowie den individuellen Interessen und Fähigkeiten. Flow tritt meist bei klar strukturierten Aktivitäten auf, bei denen der Anspruch der Anforderung und der nötigen Fähigkeiten verändert und gesteuert werden kann. Sport bietet sich dafür optimal an (Csikszentmihalyi 1995, 44f). In sich versunken, völlig konzentriert, schwerelos, fließend, anstrengungslos, schwebend ‒ all das beschreibt Flow. Bewegung und Wahrnehmung als Flow-förderliche Momente Menschliche Bewegung ist nicht nur Ortsveränderung des Körpers in Raum und Zeit, sie ist Ausdruck der ganzen Persönlichkeit und eingebettet in Handlungen (Artus 2001, 136 f). Bewegungserfahrungen sind an den Körper gebunden, Bewegungserlebnisse nicht von der eigenen Persönlichkeit zu trennen. Der Bewegungsbegriff ist ganzheitlich ausgerichtet und als dialogische Mensch-Welt-Beziehung zu sehen (Fischer 2009, 57 f). Bewegung ist immer mit Wahrnehmung verbunden. „Durch den Wahrnehmungsakt tritt das Individuum in Beziehung zu seiner Umwelt, es entdeckt, was die Umwelt anzubieten hat, was wiederum eine erhöhte Aufmerksamkeitszentrierung zur Folge hat“ (Fischer 2009, 63). Ein gelingender Bewegungsablauf ist von Gefühlen begleitet, dieses sog. Bewegungsgefühl ist überwiegend emotional orientiert. Treten bei der Bewegungsausführung Störungen auf, beginnt eine eher kognitiv orientierte Phase der Handlungsregulation (Lippens 2006, 8-14). Aus gelungenem Bewegen entsteht ein besonderes Bewegungsgefühl. Man nimmt es dann wahr, wenn die Bewegungsorganisation optimal klappt und als flüssiges Ganzes, nicht als Summe von Einzelteilen erlebt wird (Lippens 16 | mup 1|2015 Kobszick - Flow-Erleben und Tölt 2006, 5 f). Ein außergewöhnliches Bewegungsgefühl kann als Bewegungserlebnis gesehen werden. Dies „(…) ergibt sich aus ungewohnten Körperlagen, die (…) ‚tolle‘ Körpergefühle auslösen. Faszinierendes, mitunter rauschhaftes Bewegungserleben geht weiterhin von bewegungsdynamischen Erfahrungen wie fließenden Bewegungen und den mit Bewegungsabläufen verbundenen hohen Geschwindigkeiten aus“ (Allmer 1998b, 84). Im Flow kommt es zu einer intensivierten Wahrnehmung und Bewegung (Csikszentmihalyi 1987, 67). Ein besonderes Bewegungserlebnis kann sich zum Flow-Erleben steigern. So gibt es Augenblicke, in denen sich die Spaltung zwischen Körper und Selbst aufhebt, da sich das Bewusstsein ausklinkt. Dieser Punkt lässt sich als Flow-Erlebnis nach Csikszentmihalyi bestimmen (Haubl 1998, 24). Der Bewegungsrhythmus kann zudem für Flow von Bedeutung sein. Eine rhythmische Bewegung setzt sich aus der Folge von in sich stimmigen Bewegungsabläufen zusammen, die Zeitverhältnisse sind gegliedert und geordnet. Es geht eine belebende Kraft von rhythmischen Bewegungsabläufen aus (Artus 2001, 145). Dieser Bewegungsrhythmus wird im Kontext des Flow-Erlebens beim Reiten noch einmal bedeutsam. Reiten ist bewegend Das Pferd wird durch Veränderungen des Reiterkörpers vor eine Bewegungsaufgabe gestellt. Ist es aufmerksam und bereit, tritt es in einen nonverbalen Wahrnehmungs- und Bewegungsdialog mit seinem Reiter und „beantwortet“ die Bewegungsanforderung. Daraus wiederum verändert sich die auf den Reiter wirkende Bewegung, dieser liefert wieder eine Bewegungsantwort (Deppisch 1992, 7 f). Im Idealfall verwachsen Reiter und Pferd zu einer harmonischen Einheit (Heipertz-Hengst 1977, 197). Zudem kann das Pferd auf unbewusste, emotionale Strukturen des Menschen wirken: Die wiegende Schwingbewegung des im Schritt gehenden Pferdes kann den Reiter unbewusst an Bewegungsdialoge zwischen Mutter und Säugling erinnern. Eine Rolle im archaischen Erleben des Pferdes spielt auch die Tatsache, dass die Frequenz des Pferdes im Schritt ungefähr dem Herzschlagrhythmus des Menschen entspricht (Deppisch 1992, 4 f). Gleichzeitig wirken beim Reiten Beschleunigungskräfte, Zentrifugalkräfte sowie dreidimensionale Schwingungsimpulse auf den Reiter ein (Riedel / Zimmermann 2008, 6). Die unterschiedlichen Gangarten liefern differenzierte Wahrnehmungs- und Bewegungserlebnisse. Beim viertaktigen Schritt nimmt man deutliche Aufwärts-Vorwärtsstöße und schaukelnde Bewegungen wahr, die meist als milde, angenehme Bewegungsimpulse empfunden werden. Der Trab als Zweitakt mit Schwebephase hinterlässt meist ein rüttelndes, unruhiges Gefühl. Im dreitaktigen Galopp lässt sich eine rhythmische, schwunghafte Bewegung erfühlen. Tölt ist wie Schritt ein Viertakt. Das Pferd trägt jedoch Kopf und Hals aufrechter. So entstehen völlig andere Bewegungsäußerungen. Die Aktionsfolge ist deutlich schneller, Vorhand und Hinterhand des Pferdes sind ständig in Bewegung. Die Sattellage verhält sich dagegen so gut wie ruhig. Die Bewegungen im Tölt sind vervielfacht, aber schwächer und in kürzeren Zeitabständen. Für den Reiter ergibt sich ein ausgesprochen ruhiger und bequemer Sitz, dennoch fühlt er die Bewegungsimpulse. Um Tölt zu reiten und aufrecht zu erhalten, muss der Reiter v. a. seine eigene Körperspannung verändern. Der Passgang ist v. a. im langsamen Tempo eher unangenehm für den Reiter (Heipertz-Hengst 1977, 138-144). Tölt als komfortable und dennoch energiegeladene Gangart mit fließendem Takt kann möglicherweise das Flow-Gefühl in besonderem Maße begünstigen, worauf später differenzierter eingegangen wird. Das Bewegungsgefühl des Reiters Beim Reiten wird der Stütz- und Bewegungsapparat gefordert, gleichzeitig muss der Mensch Reaktionen gegen die Schwerkraft und zur Aufrechterhaltung der Balance ausführen. Diese Leistungen werden u. a. durch das Bewegungsgefühl bestimmt. (Heipertz 1991, 29). Kinder versuchen automatisch in Einklang mit den Bewegungen des Pferdes zu kom- Kobszick - Flow-Erleben und Tölt mup 1|2015 | 17 men. Erwachsene möchten dagegen häufig durch Bewegungskorrekturen der Idealvorstellung bestimmter Bewegungsmuster näher kommen. Dies löst Stress und Verkrampfungen aus, der Reiter kann die Pferdebewegungen nicht mehr aufnehmen, sondern arbeitet eventuell sogar dagegen. (Deppisch 1992, 4 f). Aber „erst (…) wenn man ein Gefühl für das Bewegungsmiteinander entwickelt hat, kann man anfangen, in einen Bewegungsdialog mit dem Pferd zu treten, also aktiv zu reiten“ (Deppisch 1992, 7). Beim Reiten ist zentral, dialogisch mit einem zweiten Lebewesen so zu kommunizieren, dass die Bewegungen beider harmonisch, ökonomisch, rhythmisch, fließend und elastisch sind (Meyners 1996, 96). „Grundlage für ein gefühlvolles Sich-Bewegen ist die Fähigkeit, seinen eigenen Körper wahrzunehmen. Der Reiter muss Spannungs- und Entspannungszustände ebenso spüren wie die räumlichen Möglichkeiten seines Körpers. All diese Aspekte werden unter dem Begriff Körperbewusstsein zusammengefasst. Hat der Reiter die Fähigkeit des Sich-Bewegens erreicht, ist er sensibel für unterschiedliche Sinneswahrnehmungen. Er wird die Freude am Bewegungsfluss seines Körpers im Dialog mit dem Pferd erleben und eine „Leichtigkeit des Tuns“ empfinden. Wenn der Reiter seine Bewegungen und die des Pferdes als leicht empfindet, ist die größte Harmonie und somit das höchste Niveau erreicht“ (Meyners 2005, 11). Diese „Leichtigkeit des Tuns“ kann als Flow-Erleben gekennzeichnet werden. Das beschriebene Bewegungsgefühl ist als harmonischer, nonverbaler (Bewegungs-) Dialog des Reiters mit dem Pferd zu sehen, ein zusammenhängendes Spüren und Bewirken im Kontext von Bewegung und Wahrnehmung (Meyners 2005, 12). Es bedeutet u. a., eigene Bewegungen fühlen zu können, aber auch, sich von seinem Gefühl leiten zu lassen und steht gleichsam für ein emotionales (Bewegungs-)Erlebnis (Hirtz u. a. 2003). Flow-Erleben im Kontakt zwischen Mensch und Pferd Reiten eignet sich auf Grund der motivationalen Komponente, des rhythmisch-fließenden (Bewegungs-)Erlebnisses sowie sämtlicher weiterer Bausteine äußerst gut, um diesen Flow zu erleben. Engagiert betriebene Freizeitaktivitäten bieten sich dafür besonders an (Engeser/ Vollmeyer 2005, 3; Csikszentmihalyi/ Jackson 2000, 13), denn es ist nahezu immer ein intrinsischer Faktor vorhanden (Csikszentmihalyi/ Jackson 2000, 145; Immes 1993, 128 f). Eine motivationale Besonderheit beim Reiten ist, dass sich mit einem Lebewesen gemeinsam bewegt wird und der partnerschaftliche Kontakt emotionale Rückmeldungen beim Menschen auslöst. Es ergibt sich ein komplexes Anreizgefüge (Hackfort 1991, 11 f). Gelungene Bewegungsabläufe im Rahmen des Bewegungsdialogs werden beim Reiten als flüssiges, fließendes Ganzes erlebt. Wiegende, rhythmische Vorwärtsbewegungen des Pferdes begünstigen dies. Einzelne Bewegungssignale zwischen Reiter und Pferd sowie die Richtungs- und Gangbewegungen des Pferdes, die wiederum rückwirken auf den Reiter, gehen ineinander über. Durch diese besonderen Bewegungsreize wird Freude erlebt (Deppisch 1992, 8; Heipertz-Hengst 1977, 197). Die Kognition wird „ausgeschaltet“, ein Gefühl für ein Bewegungsmiteinander entwickelt sich (Deppisch 1992, 7), Flow wird möglich. Dieser wird durch die ungewohnten Körperlagen (Allmer 1998a, 84) und ungewöhnlichen Bewegungszustände (Frankenberg 2010, 31) des Reitens unterstützt. Zusätzlich bietet die Eigendynamik des Pferdes als lebendiger Sportpartner Erlebnisweisen wie in keiner anderen Sportart (Immes 1993, 64). Das Reiten bietet die Verschmelzung von Körper und Geist auf Grund der rhythmisch-dynamischen Bewegungen, des gleitenden, flüssigen Handlungsablaufs sowie im Rahmen des o. g. Bewegungsgefühls. Durch das Sich-im-Einklang-Befinden mit den Pferdebewegungen kann der Reiter sich im Gleichmaß gemeinsamen Schwingens erleben (Deppisch 1992, 5). Für eine HK-Balance ist Reiten prädestiniert, da sich immer neue Herausforderungen bieten (Csikszentmihalyi 1987, 78) und klare Ziele definiert werden können. Es ist trotz unberechenbarer Verhaltensweisen des Tieres möglich, ein subjektiv 18 | mup 1|2015 Kobszick - Flow-Erleben und Tölt empfundenes Kontrollgefühl zu entwickeln. Durch verschiedene Einwirkungsmöglichkeiten kann der Reiter das Pferd führen (Deppisch 1989, 39). Mit zunehmendem Können, Routine und gegenseitigem Vertrauen wird das Sicherheits- und Kontrollgefühl stetig ausgeprägter. Das Pferd gibt klare Rückmeldung bzgl. der Zielerreichung, z. B. durch einen harmonischen Bewegungsfluss, die Freude am Laufen sowie an der Mitarbeit. Da das Pferd im Hier und Jetzt reagiert und weder nachtragend noch vorausschauend agiert, ist die Rückmeldung des Tieres immer eindeutig (Birkholz u. a. 1999, 74 f). Eine Zentrierung der Aufmerksamkeit ohne bewusste Reflexion und das Erlebnis der Ausdehnung des Selbst über die Körpergrenzen hinweg kann über den zentralen Punkt der Bewegung stattfinden: „Im Sport gibt es Momente vollendeter, harmonischer Bewegungen, ohne Bewusstsein eines befehlenden Ichs und gehorchenden Körpers, in dem diese mit der Person verschmelzen“ (Haubl 1998, 24). „Unsere Leibgrenzen [sind] in und durch Bewegung erweiterbar auf die Gegenstände der Welt. (…), d. h., der Leibraum kann sich im Unterschied zum Körperraum erweitern und wir behandeln die eingeleibten Dinge, aber auch Menschen oder Ideen wie einen Teil unseres Leibes“ (Seewald 2003, 4). Dieser ganzheitliche Zustand zeigt sich beim Reiten durch ein absolutes Harmoniegefühl im optimal gelingenden Bewegungsdialog. Reiten ist also über die besonderen Momente der Bewegung und Wahrnehmung, verknüpft im Bewegungsgefühl des Reiters sowie im Rhythmus der Gangarten des Pferdes prädestiniert, um Flow zu erleben. Jeder nimmt dieses Erlebnis unterschiedlich wahr, trotzdem gibt es bei Befragungen Ähnlichkeiten: „Ich bin eins mit meinem Pferd.“, „Ich fliege.“, „Wir schweben dahin, wie schwerelos.“ „Seine Bewegungen sind meine Bewegungen (…) Ich habe alles unter Kontrolle, ohne dass ich über meine Hilfen nachdenken muss. Ich reite einfach nur und weiß, dass alles richtig ist. Wir fliegen dahin, und ich möchte am liebsten, dass es niemals aufhört.“ (Mamerow 2011, 121 f). Eine intensive, bewusste Körperwahrnehmung bildet die Basis für ein optimales Bewegungsgefühl (Meyners 2005, 11; Mamerow 2011). Dieses (Körper-)Erleben und Spüren bewirkt ein intensiviertes, eigenes Körpergefühl. Darauf baut das eher unbewusste, umfassende Bewegungsgefühl auf. An der Spitze dieser Komponenten steht Flow als absolut optimales Bewegungsgefühl bzw. -erlebnis (Meyners 1996, 2005; Mamerow 2011, 126 f). Flow-Erleben beim Reiten kann begünstigt werden, indem man die genannten Bausteine durch psychomotorische Körperbewusstseins- und Wahrnehmungsübungen und mentale (Entspannungs-) Verfahren trainiert. Flow selbst entsteht dann unbewusst (Mamerow 2011, 128-147). Fördert Tölt den Flow? Tölt scheint prädestiniert für Flow-Erleben zu sein, wie ein Zitat aus dem Internet andeutet: „Tölten ist Lebensfreude pur! Wir laden Sie herzlich ein zu einem Töltrausch. Die Leichtigkeit, Freude und auch das Rauschgefühl eines tollen Tölts werden Sie nicht mehr loslassen. Genießen Sie das Gefühl, wenn Herz des Reiters und Hufschlag des Pferdes sich treffen. Es wird Sie begeistern und nie mehr loslassen! “ (www. toeltrausch.de). Das besondere Bewegungsgefühl setzt sich aus Takt und Wesen dieser Gangart zusammen (Jänisch / Stührenberg 2007, 10). Bewegung und Wahrnehmung, Körper und Emotionen werden eins. „Tölt unterscheidet sich in drei wesentlichen Kriterien, (…), von den anderen Grundgangarten: Unabhängig davon, in welchem Tempo oder Rahmen der Tölt ausgeführt wird, beinhaltet er eine vermehrte Spannung, eine erhöhte Frequenz und deutliche Aufrichtung. Dazu kommt eine mit diesen Begriffen assoziierte Emotion: aufgeweckt, sprudeln, wach, energisch“ (Stührenberg 2011, 59). Tölt bietet ein besonderes Bewegungsgefühl bzw. -erlebnis: „Tölten macht süchtig. Das Hochgefühl, das den Reiter im Tölt überwältigt, ist mit wenig zu vergleichen“ (Stührenberg 2011, 4 f). Gründe, warum Tölt in besonderer Weise zu Flow-Erleben führen kann, sind der bequeme Sitz des Reiters, dessen Becken eine Art umgekehrte Achterrotation ausführt, welche er locker fließen Kobszick - Flow-Erleben und Tölt mup 1|2015 | 19 lassen kann (Jänisch / Stührenberg 2007, 11), ein gelaufener, fließender, gleichmäßiger Takt, eine schnelle, wellenförmig-fließende Bewegung, die durch den Pferdekörper geht (Skúlason 2008, 107) sowie eine Art „Energie-Anhäufung“, die bei Pferd und Reiter nötig sind, um in den Tölt zu finden (Stührenberg 2011, 58). Diese Komponenten bieten eine herausragende Möglichkeit des Verschmelzens von Körper und Geist. Die Konzentration auf die Aufgabe ist gegeben, da der Reiter darauf achtet, den Takt klar zu halten. Er muss sich gut in die Bewegung des Pferdes einfühlen, um sich des Taktes sicher zu sein. Eine gewisse Grundspannung muss erhalten bleiben. Das Pferd bringt eine aufgeweckte, stimmungsvolle und spannungsreiche Haltung mit sich. Pferd und Reiter sind im energetischen Bewegungsdialog. (Schultheis 1998, 108) Die Zielsetzung ist klar (Taktklarheit) und mit gut ausgebildeten Pferden unkompliziert zu erreichen. Das Pferd gibt eindeutige Rückmeldung in Form von Taktunreinheiten. Tölt ist in der Regel gut zu kontrollieren. Durch den regelmäßigen Rhythmus und das bequeme, schnelle Vorankommen ist es gut vorstellbar, dass man die Zeit vergisst und sich nur noch auf das „rauschartige“ Gefühl des Tölts einlässt, der über lange Strecken geritten werden kann. Mehr und mehr kann man die Bewegung „laufen“ lassen. Eine zunächst geführte Bewegung geht über in ein unbewusstes „geschehen lassen“. Tölt bietet also eine optimale Grundlage für Flow (Frankenberg 2010, 31). Was bringt der Flow beim Reiten? Flow löst Freude aus und kann das subjektive Wohlbefinden sowie die Lebensqualität steigern. Psychomotorische Angebote für Körperwahrnehmung und Bewegung, z. B. im Rahmen des Therapeutischen Reitens, verbessern das Körper- und Bewegungsgefühl, gleichzeitig wird der Weg zum unbewussten Flow- Erleben beim Reiten geebnet. Freudvolle Bewegungsangebote wie das Reiten, bei denen Flow induziert wird, können in der Therapie z. B. bei Depression wirksam sein. In einer Studie wurden Flow-Erfahrungen ausgelöst und die Befindlichkeit von Patienten gemessen. Bewegungstherapeutische Interventionen bei klinisch depressiven Patienten können demnach wirksam sein, besonders dann, wenn sich die Patienten im Anschluss an die Therapie entsprechend weiter körperlich betätigen. Das Flow-Konzept ist hilfreich, Patienten „bei der Stange zu halten“, sich zu bewegen, da diese meist aufhören, wenn sie keine subjektiv empfundenen Das Pferd wirkt auf Körper und Seele des Menschen. Beschwerden mehr haben. „So gesehen muss es also das Ziel der bewegungstherapeutischen Arbeit mit Depressiven sein, Flow-Erleben zu implementieren“ (Reinhardt u. a. 2008, 147f). Patienten in Therapien bewerten körperliche Betätigung oft als negativ. „Dieser negativen Einstellung zur eigenen körperlich-sportlichen Betätigung kann entgegengewirkt werden, sobald diese als angenehm und wohltuend empfunden wird. Diesen Effekt unterstützen Flow- Erfahrungen“ (Reinhardt u. a. 2008, 150). Das Pferd erweckt zudem eine hohe Motivation, sich mit ihm zu beschäftigen (Beziehungsaspekt), bietet ein „Getragenwerden“ an und löst durch besondere Bewegungsimpulse und außergewöhnliche Bewegungserlebnisse (v. a. im Tölt) Wohlbefinden aus. Es wirkt auf Körper und Seele des Menschen. Negative Selbstverbalisation ist ein zentraler Punkt in der Aufrechterhaltung vieler psychischer Störungen. Wird die Aufmerksamkeit auf die negativen Aspekte des Lebens fokussiert, wird das Erkennen tatsächlicher Handlungsmöglichkeiten verhindert. Flow-Erleben ermöglicht, diese „Negativ-Brille“ abzunehmen und sich als positiv zu erleben, was wiederum einen günstigen Einfluss auf das Selbstwertgefühl hat (Schmid 2007, 131). Reiten im therapeutischen Setting unterstützt dies. Es bietet sich für die Arbeit mit depressiven Klienten an und wird erfolgreich genutzt (Weiger 2005, 94-108). Flow-Erleben beim Reiten kann als weiterer Wirksamkeitsfaktor in den Fokus rücken. Tölt könnte im therapeutischen Setting als besonderes, positives 20 | mup 1|2015 Kobszick - Flow-Erleben und Tölt Bewegungserlebnis und Flow-fördernder Faktor eingesetzt und zudem als diagnostisches Indiz genutzt werden: „So sitzt ein losgelassener Reiter auch im Trab ruhig. Verspannt er sich in der Rückenmuskulatur und hält sich in der Becken- und Lendengegend fest, verschiebt ein gut gerittenes Pferd die Fußfolge von der Diagonalen zur Lateralen, verschiebt in den Tölt oder Pass. Kann sich der Reiter wieder lockern und lösen, ohne sich am Zügel festzuhalten, wird sich das Pferd strecken und ebenfalls in eine entspanntere Haltung finden und wieder traben. Ein gut ausgebildetes Vier- oder Fünfgangpferd gibt dem Therapeuten, der Therapeutin spezielle diagnostische Hinweise hinsichtlich der Körperspannung, die wiederum Ausdruck einer inneren Haltung ist. (…) Pferd und Reiter befinden sich in einem komplexen nonverbalen Körper- und Beziehungskatalog, der sich besonders bei sensiblen und sorgsam ausgebildeten Gangpferden gut beobachten lässt“ (Weiger 2005, 95). Tölt bietet also einen besonderen Mehrwert. Es ist denkbar, Flow-Erleben beim Reiten in einer Studie evaluativ mit einem Kurzfragebogen (FKS = „Flow-Kurz-Skala“) reliabel zu erfassen (Engeser/ Vollmeyer 2005, 63f). Der Flow-Zustand lässt sich jedoch schwer greifen, da das Aufgehen in der Handlung zentrales Merkmal des Erlebens darstellt. Es ist schwierig, in der Retrospektive etwas über diese Selbstvergessenheit auszusagen (Frankenberg 2010, 178). Das Flow- Modell weist also Schwächen auf, da der Flow-Zustand von der subjektiven Wahrnehmung der Herausforderung sowie des individuellen Fähigkeitsniveaus abhängt. Somit ist es nicht möglich, mit Sicherheit vorherzusagen, was jemand in einer konkreten Situation erleben wird (Csikszentmihalyi 1987, 76). Beim Reiten, besonders im Tölt, Flow zu erleben, ist trotzdem ein außergewöhnliches Glücksgefühl, das den Menschen positiv bereichern kann. In diesem Sinne können die gewonnenen Erkenntnisse für den Einsatz des Pferdes in unterschiedlichen therapeutischen Bereichen fruchtbar sein und möglicherweise neue Konzepte entstehen. Literatur ■ Allmer, H. (1998a): Brennpunkte der Sportwissenschaft. Erlebnissport - Erlebnis Sport. Academia, Sankt Augustin ■ Allmer, H. (1998b): „No risk - no fun“ - Zur psychologischen Erklärung von Extrem- und Risikosport. In: Allmer, H. 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