eJournals mensch & pferd international 7/2

mensch & pferd international
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Die Angst nicht überwinden, sondern einladen ... - Systemische Interventionen in der Arbeit mit Pferden

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Kirsten Antritter-Boß
Systemisches Denken und Handeln ergänzen den Einsatz von Pferden in der pädagogischen und therapeutischen Arbeit besonders wirkungsvoll. Durch die Betrachtung des Gesamtsystems erweitern sich Möglichkeiten für Veränderungen und die individuelle Entwicklung. Mit systemischen Tools gelingt es, im Prozess Impulse zu geben, die weitere Schritte möglich machen. Der Beitrag zeigt einige Beispiele auf, die von Fachkräften in allen Bereichen der tiergestützten Arbeit mit unterschiedlicher Klientel eingesetzt werden können. Die Autorin möchte die Leser damit einladen, neue Perspektiven einzubeziehen und die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu erweitern.
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58 | mup 2|2015|58-67|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2015.art10d Kirsten Antritter-Boß Schlüsselbegriffe: Pferdegestützte Pädagogik und Therapie, systemische Interventionen, Reframing, zirkuläres Fragen, Externalisierung, Ressourcenorientierung, Lösungsorientierung, Beziehungsdreieck Die Angst nicht überwinden, sondern einladen… ‒ Systemische Interventionen in der Arbeit mit Pferden Systemisches Denken und Handeln ergänzen den Einsatz von Pferden in der pädagogischen und therapeutischen Arbeit besonders wirkungsvoll. Durch die Betrachtung des Gesamtsystems erweitern sich Möglichkeiten für Veränderungen und die individuelle Entwicklung. Mit systemischen Tools gelingt es, im Prozess Impulse zu geben, die weitere Schritte möglich machen. Der Beitrag zeigt einige Beispiele auf, die von Fachkräften in allen Bereichen der tiergestützten Arbeit mit unterschiedlicher Klientel eingesetzt werden können. Die Autorin möchte die Leser damit einladen, neue Perspektiven einzubeziehen und die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Kirsten Antritter-Boß Antritter-Boß - Die Angst nicht überwinden, sondern einladen ‒ Systemische Interventionen mup 2|2015 | 59 Systemisches Denken und Handeln beim Einsatz von Pferden „Jeder systemische Ansatz zeichnet sich dadurch aus, dass man sich nicht auf den Problemträger konzentriert, sondern ein ganzes System in den Blick nimmt. Der Einzelne wird nur in soweit als Individuum betrachtet, wie er als Element auf das System wirkt und wie er dessen Wirkungsfeld ausgesetzt ist“ (www.teamdynamik. de 2012). Durch jede individuelle Entwicklung und Veränderung ergeben sich Konsequenzen für das Gesamtsystem, in dem das Individuum lebt - und umgekehrt. Pferde können Menschen auf vielfältige Weise in ihrer Entwicklung positiv begleiten. Dies ist mittlerweile ausführlich beschrieben und belegt. Oft erreichen Pferde und die dazugehörigen Fachkräfte Ziele, von denen kaum einer geglaubt hat, dass sie zu erreichen sind - oder zumindest nicht so schnell. Und dennoch erfährt die erfolgreiche Zusammenarbeit von Mensch und Pferd immer wieder Grenzen: Manchmal liegt weiteres Entwicklungspotenzial klar auf der Hand und kann dennoch vom Klienten nicht ergriffen werden. Wie soll sich z. B. das im Umgang mit den Pferden entwickelte Selbstwertgefühl eines Mädchens stabilisieren, wenn es in der Schule und im Elternhaus weiterhin nur Misserfolge und Demütigungen erlebt? Nicht selten scheitert auch der gewünschte Transfer der mit dem Pferd erarbeiteten Fähigkeiten in den Alltag. Möglicherweise gibt es im Umfeld des Jungen, der Grenzen erfahren und anerkennen soll, außer dem Pferd und der dazugehörigen Fachkraft niemanden, der diese Grenzen klar definiert und konsequent einfordert. Impulse, die von Pferden und ihren Fachkräften ausgehen, müssen also ebenfalls vom System des Klienten wahrgenommen und weiterbewegt werden, damit sie nachhaltig wirken können. Systemisches Denken und Handeln in der Arbeit mit Pferden nutzt die Chance, das Gesamtsystem des Klienten in den Prozess miteinzubeziehen. Nur so lässt sich problemstabilisierendes Verhalten im Umfeld identifizieren und auflösen. Die zentrale Annahme hierbei lautet: Jedes System verfügt über alle notwendigen Ressourcen, die es zur Lösung seiner Probleme braucht - es nutzt sie nur derzeit nicht dafür (Wimmer 2001, 18). Ressourcenorientierung in Förderung und Therapie macht diese Fähigkeiten sichtbar und unterstützt dabei, diese zielgerichtet einzusetzen. Probleme und Lösungen werden im Kontext gesehen. Das Problem kann als bisheriger Lösungsversuch wertgeschätzt werden, der mit den jeweiligen Erfahrungen und im aktuellen Kontext Sinn macht. Die Fachkraft macht problemstabilisierende Muster bewusst und eröffnet neue Handlungsmöglichkeiten. Die sich daraus ergebenden Lösungen müssen mit ihren gesamten Auswirkungen auf das Umfeld betrachtet werden und auch hier wieder sinnvoll sein. So gesehen lohnt es sich z. B. bei der Förderung eines Kindes, das mit dem Pferd mehr Selbständigkeit gewinnen soll, auch zu überlegen, welche Auswirkungen eine gewünschte Veränderung auf das Familiensystem haben wird. Gibt es für die Mutter attraktive Alternativen für ihre veränderte Zeit- / Lebensgestaltung, die sich aus größerer Selbstständigkeit der Tochter ergeben? Wie wird der Vater reagieren, wenn die Mutter sich möglicherweise neue Herausforderungen sucht? Werden diese Alternativen wirklich von allen, z. B. auch der Schwiegermutter, als gleichwertig zur bisherigen Einstellung zu dem Kind angesehen? Wenn Eltern selbst keine Idee davon haben, welchen Weg sie selbst einschlagen und welche neuen Ziele sie sich stecken möchten, kann das dazu führen, dass sie unbewusst Strategien einsetzen, die dafür sorgen, dass das Kind weiter unselbständig bleibt oder dass es im Prozessverlauf zu neuen Konflikten kommt, weil es selbständig denkt und handelt. Wenn sie für sich selbst keine Lösungen finden, kann es der Entwicklung des Kindes entscheidend helfen, hier auch mit den Eltern daran zu arbeiten, dies zu erkennen und eigene gleichwertige Perspektiven zu entwickeln, damit auch sie Alternativen zu ihren bisherigen, mögli- 60 | mup 2|2015 Antritter-Boß - Die Angst nicht überwinden, sondern einladen ‒ Systemische Interventionen cherweise problemstabilisierenden Verhaltensweisen entwickeln. Auch ängstliches Verhalten von Kindern macht in den meisten Kontexten Sinn, wenn es z. B. dafür sorgt, dass die Ängste und Sorgen der Eltern nicht erfüllt werden. Gerade dann sollten die Ängste der Eltern thematisiert und Teil des Veränderungsprozesses werden, damit die Kinder in ihrer Entwicklung nicht gehindert werden und ein Transfer der Fortschritte, die mit dem Pferd erarbeitet werden, in den Alltag möglich wird. Lösungsorientierung im Prozess führt dazu, dass nicht Defizite, Ursachen und Schuldzuweisungen im Vordergrund stehen, sondern Ziele und Perspektiven formuliert werden. Kein Reiter weiß, in welche Richtung er sein Pferd lenken soll, wenn das Ziel nur „Ich will nicht mehr hier stehen bleiben! “ heißt. Wenn er stattdessen ein Ziel formuliert, wie z. B. „Die große Eiche vor dem Waldrand möchte ich erreichen und in ihrem Schatten eine kleine Pause machen.“, richtet er den Blick auf sein Ziel und kann seine Hilfen zielgerichtet einsetzen. Reiter und Pferd werden in die gemeinsame Richtung starten können. Im Dialog beider wird deutlich werden, welche Ressourcen alle Beteiligten haben, um dieses Ziel zu erreichen und welche sie dafür einsetzen müssen. Da es viele unterschiedliche Ressourcen gibt und die Eiche möglicherweise nicht für alle Reiter und Pferde ein attraktives Ziel ist, ergeben sich im Prozess für jeden eigene Lösungen, die zu seinen individuellen Zielen und Ressourcen passen. Aufgabe der Fachkraft ist es, die Zahl der Lösungsmöglichkeiten zu erweitern, damit das Klientensystem ein passendes Ziel und den eigenen Weg dorthin finden kann. Die Fachkraft betrachtet die Klienten als Experten für ihre eigenen Lösungen und sich selbst als Begleiter auf der Suche nach den Ressourcen und Zielen. Wertschätzung für die eigenen Lösungen wird möglich, da sich im Prozess für diesen Zeitpunkt und diese Menschen die beste Lösung ergibt, die zu ihren Fähigkeiten und ihrem Umfeld passt. Folgende Fragen an Eltern, die ihr ängstliches Kind zum Therapeutischen Reiten bringen, können der Arbeitsweise der Fachkraft mit diesem Kind eine zielführende Richtung geben: „Angenommen wir arbeiten erfolgreich mit dem Pferd und Ihr Kind ist nicht mehr ängstlich, wie ist es dann? “ Denkbar sind Antworten wie „mutig“ oder „vorsichtig“. Auf weitere Fragen, wie das Kind sich dann anstelle von „ängstlich“ verhält, können die Zielvorstellungen konkretisiert werden: So soll das Kind möglicherweise „Gefahren wahrnehmen und sich überlegen, ob es diese meistern kann.“ Die Eltern, als Experten für ihr Kind (schließlich kennen sie es am besten) haben einen möglichen, zu Kind und Eltern passenden Weg zu weniger ängstlichem Verhalten beschrieben, welchen die Fachperson in die Arbeit miteinbeziehen kann. Vielleicht sind den Eltern beim Nachdenken ebenfalls Möglichkeiten bewusst geworden, wie sie ihr Kind Antritter-Boß - Die Angst nicht überwinden, sondern einladen ‒ Systemische Interventionen mup 2|2015 | 61 selbst dabei unterstützen können, in Situationen zu Hause nicht mehr ängstlich reagieren zu müssen, sondern wie es mit ihnen zusammen Gefahren erkennt, richtig einordnet und wie es entscheiden kann, ob es diese meistert bzw. welche Unterstützung es dazu braucht. Darüber hinaus verfügt jeder Mensch über seine eigenen Wirklichkeitskonstrukte , die auf dem Hintergrund der persönlichen Erfahrungen und individuellen Selektion der Wahrnehmungen ihre Richtigkeit und Berechtigung haben. Je nach Wahrnehmung kommt es zu unterschiedlichen Abbildungen der Wirklichkeit. Somit gibt es von ein und derselben Situation bzw. bei einem Problem viele verschiedene Wirklichkeiten, die in ihrer Richtigkeit Wertschätzung erfahren dürfen. Berücksichtigt die Fachkraft die möglichen Wahrnehmungsvarianten, fällt es leicht, eine Allparteilichkeit aufzubauen, die das Vertrauen aller Beteiligten sichert. Perspektivwechsel für vielseitige Wahrnehmungen und neue Erfahrungen ermöglichen neue Wirklichkeitskonstrukte, die hilfreich für Lösungen sind. Die Erfahrung, ein Kind verloren zu haben, kann bei einer Mutter dazu führen, dass sie sich um ein weiteres Kind vermehrt Sorgen macht. Aus dieser Sorge heraus wird sie vermeintliche Gefahrensituationen anders bewerten als jemand, der erlebt hat, dass Kinder auch schwierige Situationen meistern können. Ängste nehmen im Leben dieser Familie einen anderen Raum ein und dürfen Wertschätzung erfahren als Versuch, einen erneuten Verlust zu vermeiden. Das kann dazu führen, dass die Wirklichkeit einer Erzieherin, die überzeugt ist, dass die Mutter ihr Kind einengt und es sich dadurch nicht entfalten kann, richtig ist - ebenso wie die Ansicht der Mutter, die fühlt, dass sie ihrem Kind nur in ihrer Nähe ausreichend Schutz bieten kann. Beiden liegt die ungefährdete Entwicklung des Kindes am Herzen. Systemisch betrachtet darf die Fachkraft beides positiv bewerten und sich von beiden unterstützen lassen, um gute Entwicklungsmöglichkeiten für das Kind zu schaffen. Das erweiterte Beziehungsdreieck im Systemischen Kontext Die tiergestützte Arbeit ist geprägt durch die Beziehungen, die Pferd, Fachkraft und Klient untereinander aufbauen. Dieses Beziehungsdreieck (siehe Abb. 1) gibt einen Rahmen, bildet die Basis für das Arbeiten und die daraus resultierenden Veränderungen. Systemisch betrachtet, bilden nicht nur die einzelnen Beteiligten ein Dreieck, sondern mit ihnen deren Systeme, die individuell auf den Prozess, der sich in dem Dreieck entwickelt, einwirken. Die unterschiedlichen Schnittmengen und Färbungen sind ebenso unterschiedlich wie die Lebewesen, die ihnen Form und Farbe geben. Dabei muss sich jede Fachkraft bewusst sein, dass auch das System, in dem sie selbst sich bewegt, in diesem Beziehungsdreieck eine Rolle spielt: Welche Erfahrungen und Einstellungen bringt sie mit ein, welche die Bewertung beeinflussen? Aber auch das System, das ihre Arbeitsbedingungen bestimmt, wirkt sich in jeder Einheit auf das Beziehungsdreieck und den Prozess aus. Abb. 1: Das erweiterte Beziehungsdreieck Pferde haben ebenfalls ihre eigenen Wirklichkeitskonstrukte, die auf den individuellen Erfahrungen und Wahrnehmungen aufbauen. Die Selektion der Wahrnehmungen basiert auf den natürlichen Instinkten und ist je nach den Charaktermerkmalen durchaus sehr unterschiedlich. Diese neuen Wirklichkeitskonstrukte machen die Einzigartigkeit 62 | mup 2|2015 Antritter-Boß - Die Angst nicht überwinden, sondern einladen ‒ Systemische Interventionen des Prozesses in der Arbeit mit Pferden aus - ein vollkommen andersartiger Perspektivwechsel wird vollzogen. Pferde werden in jedem Fall als absolut neutral erlebt, stehen sie doch eigentlich weit außerhalb der menschlichen Systeme. Sie entscheiden im Hier und Jetzt. Ihnen ist egal, was davor passiert ist und was daraus folgen wird. Pferde sind ausschließlich an Lösungen interessiert: Wo ist die nächste Nahrungsquelle? Wie halte ich den Anschluss an die sichere Herde? Wie erreiche ich es, jederzeit fluchtbereit zu sein? Den Auslöser einer Flucht lassen sie hinter sich, der Blick ist stets nach vorn gerichtet und wendet sich einem Lösungsraum zu, der Sicherheit, soziale Gemeinschaft und Nahrung gewährleistet. Um ihr Überleben zu sichern, ist es für Pferde immer notwendig gewesen, die Ressourcen für die Herde einzusetzen und die Funktion der Herde für die Sicherheit ihrer Mitglieder aufrechtzuerhalten. Schwächen werden nur bei Gegnern gesucht und ausgenutzt. Strebt der Mensch eine Partnerschaft und eine Zusammenarbeit mit dem Pferd an, ist das Pferd bereit, auch ihm gegenüber die Ressourcen in den Vordergrund zu stellen. Pferde bringen aufgrund ihrer artspezifischen Eigenschaften gute Voraussetzungen mit, systemische Arbeit mitzutragen und zu erweitern. Wie die Umsetzung in der Praxis aussehen kann, soll anhand einiger exemplarischer Beispiele im Folgenden dargestellt werden. Systemische Tools mit Pferden umsetzen Reframing „Die Umdeutung ist eine der zentralen systemischen Ideen überhaupt. Beim Reframing wird dem Geschehenen oder Erlebten ein anderer Sinn gegeben, indem es in einen anderen Kontext gestellt wird. Durch die Umdeutung wird ein Verhalten oder Symptom in seiner positiven Bedeutung für die Klienten beschrieben und so eine neue Sichtweise eingeführt“ (www. systemische-beratung.de 2014). Das Problem selbst wird so beibehalten, wie es ist, aber es wird in einen neuen Rahmen gestellt, der ihm eine andere Bedeutung gibt. Um ein Reframing zu erzielen, muss sich ein Berater bei dem Problem seines Klienten fragen: „Welcher Kontext wäre denkbar, unter dem das Problem sinnvoll wäre, ja, vielleicht sogar die beste Lösung darstellen würde? “ (von Schlippe u. a. 1996, 179). Der Klient hat möglicherweise bis zu diesem Punkt sein Problem nur im negativen Rahmen gesehen. Reframing ist hier ein Mittel, die Problemsicht um eine andere Perspektive zu erweitern und neue Handlungsspielräume aufzuzeigen. Dem Reframing liegen einige systemische Prämissen zugrunde: ■ Jedes Verhalten macht Sinn, wenn man den Kontext kennt. ■ Es gibt keine vom Kontext losgelösten Eigenschaften einer Person. ■ Jedes Verhalten hat eine sinnvolle Bedeutung für die Kohärenz des Gesamtsystems. ■ Es gibt nur Fähigkeiten. Probleme ergeben sich manchmal daraus, dass Kontext und Fähigkeiten nicht optimal zueinander passen. ■ Jeder scheinbare Nachteil in einem Teil des Systems zeigt sich an anderer Stelle als möglicher Vorteil (von Schlippe u. a. 1996, 179). Pferde laden zum Reframing ein. Im Kontext Pferde gewinnt so manches Verhalten einen bisher nicht so beachteten Sinn. Ein schönes Beispiel Antritter-Boß - Die Angst nicht überwinden, sondern einladen ‒ Systemische Interventionen mup 2|2015 | 63 gerade im Umgang mit dem Pferd ist das Thema Angst. Angst und Respekt gegenüber einem so zugegeben großen Tier ist naheliegend und sinnvoll. Bewirkt die Angst in diesem Fall doch erhöhte Wachsamkeit und ermöglicht es, in gefährlichen Situationen schnell zu reagieren. Die Angst in einem neuen Rahmen zu sehen, eröffnet neue Perspektiven und Lösungsmöglichkeiten. Pferde sind hier gutes Vorbild. Sie zeigen uns, dass ihr ängstliches Fluchtverhalten dafür sorgt, dass sie so jederzeit in der Lage sind, alle Sinne geschärft und jede Faser des Körpers für die Flucht vorbereitet zu haben - ein Verhalten, welches ihren Vorfahren das Überleben gesichert hat. So gesehen gibt es auch Situationen im menschlichen Leben, in denen es sinnvoll ist, wachsam und vorsichtig zu sein. Externalisierung „Der zentrale Vorteil bei der Externalisierung liegt darin, dass der Klient zu einer bestimmten Situation Distanz gewinnen kann“ (Steiner 2010, 37). Ein Problem wird nicht mehr mit der Person verbunden, sondern problematisches Verhalten als ein veränderbares Element von außen betrachtet. Dadurch ergeben sich Handlungsspielräume und der Klient erlebt sich als handlungsfähig in Bezug auf sein Problem. Das Problem wird nach außen verlagert und dort erfolgt 1. die Profilierung, d. h., es wird ihm eine Form gegeben 2. die Auseinandersetzung mit dem Problem: Aus der neuen Perspektive der Distanz werden neue Facetten entdeckt. Die Situation wird aus einer ganzheitlichen Perspektive erfasst. 3. die Utilisierung und Akzeptanz, wenn sich das Problem als sinnvoll erweist 4. die Integration bzw. Versöhnung, falls sich die neuen Erkenntnisse für eine Lösung nutzen lassen (Mrochen 2006, 210). Wie bereits erwähnt, ist Angst ein Gefühl, das im Umgang mit Pferden in vielen Klienten sehr präsent ist. Diese nach außen zu verlagern, ihr eine Form zu geben und zu entdecken, dass sie gerade hier zur Sicherheit beiträgt, wenn sie einen guten Platz gefunden hat, um ein wertvoller Ratgeber sein zu können, kann eine gewinnbringende Erfahrung sein. Und sie kann möglicherweise den Transfer in den Alltag finden, wenn auch dort ein wertvoller Ratgeber gebraucht wird, um im richtigen Moment vorsichtig sein zu können. Ein Beispiel zur Anwendung von Reframing und Externalisierung aus der Arbeit mit einer Frau und einem Mann aus einer Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung (im Folgenden Paul und Jana genannt): Die Angst in einem neuen Rahmen zu sehen, eröffnet neue Perspektiven und Lösungsmöglichkeiten. Zu Beginn der gemeinsamen Arbeit der beiden mit dem Pferd klagte Paul regelmäßig über Bauchschmerzen und sagte, er wolle nur putzen und nicht reiten. Über den Kontakt vom Boden aus mit dem Pferd ließ er sich dann immer nach längerem guten Zureden überzeugen, doch auch aufs Pferd zu steigen. Er feierte den Erfolg des Aufsteigens übermäßig und betonte seinen Mut. Nach dem Absteigen waren die Bauchschmerzen immer weg. Jana erschrak bei vielen Aktionen des Pferdes und reagierte dabei mit unangemessenen Befürchtungen und formulierte, Angst zu haben. Diese Angst griff die Fachkraft auf und gab ihr eine Form (der Einfachheit halber hier in Gestalt einer Person) mit der Frage: Wenn die Angst eine Person wäre, wäre sie dann ein Mann oder eine Frau? Jana entschied sich für eine Frau und sie wurde Frau Angst genannt. Paul gab daraufhin zu, auch eine Frau Angst zu haben. Frau Angst wurde in den folgenden Einheiten eine feste Begleiterin, die ihre Rolle stark veränderte. Am Anfang war es wichtig zu wissen, wo sie steht, um die Gefahr, die von ihr ausgeht einschätzen zu können. Je mehr 64 | mup 2|2015 Antritter-Boß - Die Angst nicht überwinden, sondern einladen ‒ Systemische Interventionen Routine im Umgang mit dem Pferd entstand, desto weiter weg konnte Frau Angst stehen. Auf dem Pferd saß Frau Angst in Paul drin und füllte ihn ganz aus, hielt ihn fast aufrecht. Janas Frau Angst saß hinter ihr und gab ihr Halt. Frau Angst bekam Schritt für Schritt eine neue, hilfreiche Bedeutung. Der große Vorteil, wenn wir die Angst einladen, ist es, dass wir sie genau betrachten und kennenlernen können. Bei der Überlegung, wann Jana Frau Angst gerne zum Pferd einlädt, gab sie an, dass es gut ist, dass Frau Angst da ist, damit Jana wachsam ist und Gefahren erkennt (schließlich ist Reiten doch gefährlich) und außerdem fiel ihr auf, dass sie dann viel Aufmerksamkeit bekommt, wenn sie Frau Angst einlädt. Damit gewann Jana mehr Handlungsfähigkeit. Sie konnte überlegen, dass es manchmal eben gut ist, Frau Angst als weisen Ratgeber ganz nah bei sich zu haben und sie lernte zu differenzieren, ob sie Frau Angst eingeladen hat, weil sie eigentlich mehr Aufmerksamkeit möchte. Sie konnte das dann auch so formulieren, auf jeden Fall beim Reiten. Beim Transfer wird sich zeigen, ob sie das alleine leisten kann, oder ob auch hier im nächsten Schritt das gesamte System miteinbezogen werden muss, damit das Nutzen von ängstlichem Verhalten zum Aufmerksamkeitsgewinn auch im häuslichen Umfeld abgebaut werden kann. Paul konnte sich vorstellen, dass Frau Angst gerade beim Aufsteigen, vor dem er eigentlich am meisten Bedenken hatte, neben ihm steht, damit er gut aufpasst und sich besonders anstrengt. Danach konnte sie eigentlich dort stehen bleiben. Stattdessen nahm er dann lieber Herrn Mut und Frau Freude mit, die ihn immer wieder unterstützten, neue Herausforderungen anzunehmen und zu meistern. Anstatt körperliche Symptome zu beschreiben, kann er nun die Bedenken vor manchen Aufgaben benennen und überlegen, wie er es mit seinen drei Helfern (Frau Angst, Herr Mut und Frau Freude) schaffen kann. Seine Handlungsplanung und -fähigkeit haben zugenommen. Der große Vorteil, wenn wir die Angst einladen, ist es, dass sie näher kommt und wir sie genau betrachten und kennenlernen können. Vielleicht wird sie sogar zu einer guten Freundin und wir können bestimmen, wann sie zu Besuch kommen soll, nämlich wenn sie nützlich ist. Gehen wir den anderen Weg und versuchen, die Angst zu überwinden und hinter uns zu lassen, können wir nie sicher sein, ob sie es nicht doch wieder irgendwann schafft, uns einzuholen. Wir kennen sie nicht und können sie nicht beeinflussen. Zirkuläres Fragen Zirkuläres Fragen ist eine Fragetechnik, um Probleme aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, festgefahrene Denk- und Handlungsmuster zu durchbrechen und Veränderungsprozesse einzuleiten. Die Fragen, die dem Betroffenen gestellt werden, sollen nicht aus seiner eigenen Perspektive beantwortet werden, sondern von außen. Dazu wird eine anwesende oder hypothetische dritte Person oder eben ein Tier befragt. Entscheidend sind dabei nicht dessen tatsächliche Antworten, sondern die geäußerten Vermutungen über seine Meinungen, Beziehungen, Beobachtungen, Wünsche und Bedürfnisse z. B. zu einem Problem. Der Betroffene muss dafür einen Perspektivenwechsel zulassen und sich in die andere Person oder das Tier und in andere Situationen hineinversetzen. Dies gibt ihm die Möglichkeit, seine eigene Wahrnehmung zu relativieren und mit anderen in Beziehung setzen zu können. Die Veränderung der eigenen Handlungsweisen und Denkmuster kann somit ermöglicht werden (www. unternehmenswerkstatt-bb.de 2012). Zirkuläre Fragen sind dann besonders hilfreich, wenn der Klient davon überzeugt ist, dass es nur eine Sicht der Dinge gibt oder nur eine Lösungsmöglichkeit. Es werden neue Denkprozesse angestoßen, die Neues ermöglichen. Es wird umfangreich über Wünsche, Bedürfnisse, Meinungen, Antritter-Boß - Die Angst nicht überwinden, sondern einladen ‒ Systemische Interventionen mup 2|2015 | 65 Beziehungen usw. spekuliert. Dieses Spekulieren eröffnet Weite im Denken (www.coachinginformationen.de 2014). Zirkuläre Fragen ermöglichen es, eigene Wirklichkeitskonstrukte aufzuweichen und neue Perspektiven einzuführen. Nehmen wir einmal an, dass die häusliche Situation mit den beiden Eltern aus der Perspektive einer Jugendlichen so aussieht: Im Fokus des sich im System befindlichen Teenagers sind natürlich die beiden Eltern. Möchte man Lösungsmöglichkeiten für eine problematische Situation betrachten, geraten immer zunächst die jeweiligen Gegenüber als Verantwortliche ins Visier (siehe Abbildung 2). Eine Möglichkeit wäre nun, zirkulär nach der Perspektive eines der Elternteile zu fragen. „Wenn deine Mutter hier wäre und ich sie fragen würde, wie der Streit in eurer Familie entsteht, was würde sie möglicherweise antworten? “ Damit könnte man der Jugendlichen ermöglichen, eigene Anteile zu erkennen. Noch geschickter kann es aber sein, das Pferd mit seiner ganz eigenen Perspektive von außen zu befragen. Diese wird als neutraler empfunden. Und mit seiner Distanz zu dem System ermöglicht es auch dem Klienten einen Blick auf das Gesamtsystem mit all seinen Beteiligten, die in unterschiedlichen Maßen verantwortlich für notwendige Veränderungen sein können. Es entsteht eine Metaebene, von der die Beziehungen in dem System neu bewertet werden können (siehe Abbildung 3). Es geht bei dieser Form der hypothetischen Befragung nicht darum, Dinge in das Tier hineinzuinterpretieren. Vielmehr kann es eine Möglichkeit sein, die eigenen Gedanken des Klienten um eine völlig neue und neutrale Perspektive zu erweitern. Es funktioniert dann besonders gut, wenn im Vorfeld Kommunikation und Verhalten von Pferden in ihren Herden Inhalt der pferdegestützten Arbeit war. So wie in diesem Fall: „Angenommen, das Pferd würde eure Familie beobachten und ich könnte es fragen, wie die Streitsituationen in eurer Familie immer wieder entstehen, was, glaubst Abb. 2: Perspektive 1 Abb. 3: Perspektive 2 du, würde das Pferd antworten? “ Vielleicht dachte die 14-Jährige auf der Suche nach der Antwort auf diese Frage darüber nach, dass Pferde in ihrer Herde überwiegend nonverbal kommunizieren, sie sich dafür aber sehen müssen. Geantwortet hat sie: „Wir müssen uns ja anbrüllen, weil wir uns gar nicht sehen, wenn jeder immer in seinem Zimmer hockt. Ich bin dann schon genervt, wenn mein Vater durchs Haus schreit und dann kommt eins zum anderen.“ „Und welche Lösungsidee könnte das Pferd möglicherweise vorschlagen, die zu euch passt? “ „Ihr müsst mehr zusammen grasen! Nein, Quatsch, ich muss dann schon öfter aus meinem Zimmer raus und meine Eltern sollten aber auch 66 | mup 2|2015 Antritter-Boß - Die Angst nicht überwinden, sondern einladen ‒ Systemische Interventionen zu mir ins Zimmer kommen, wenn sie was von mir wollen. Dann können wir uns sehen und ruhig miteinander reden und uns besser zuhören.“ Das war ein Impuls im Rahmen der aufsuchenden Familientherapie, der alle Beteiligten zur Verhaltensänderung aufforderte und damit das bisherige Muster unterbrach. Welche Gedanken wird sich dann eventuell eine Mutter machen, wenn sie über folgende Frage nachdenkt: „Angenommen, die Leitstute dieser Herde würde die Situation in ihrer Familie beobachten, zu welchen Schritten würde sie Ihnen als nächstes raten? “ Der gewünschte Transfer wird leichter, wenn mehrere am gleichen Strang ziehen. Identifizieren von Ausnahmen Im Umgang mit Pferden bieten sich oft Möglichkeiten zur Ausnahme von problematisch empfundenem Verhalten, z. B. ist es kaum möglich, depressives Verhalten im Umgang mit Pferden aufrechtzuerhalten. Es macht in diesem Kontext nur selten Sinn. Hier werden oft Motivation, Freude, Bewegung und Glücksgefühle sowie Erfolgserlebnisse erlebt und stellen schon für sich eine Ausnahme dar. Allein das Umfeld der Pferde vermittelt das Gefühl von Freiheit und lädt zum Durchatmen ein - als Ausnahme vom eingeengten Alltag. Dieses Gefühl wieder erlebt zu haben, hilft auch, weitere Ausnahmen im Alltag zu identifizieren und mehr davon wieder bewusst wahrzunehmen und anzuregen. Die Faszination Pferd lädt dazu ein. Die Faszination Pferd bringt die Klienten aber auch immer wieder dazu, über ihre Grenzen hinauszugehen und ihre Ängste in diesen Momenten nicht im selben Maß wahrzunehmen wie sonst. Werden sie im Nachhinein darauf aufmerksam gemacht, wird ihnen bewusst, dass sie hier ausnahmsweise mal anders mit der Angst umgegangen sind. Die Gründe, die sie dafür finden, sind so unterschiedlich wie die Klienten selbst. Wichtig ist, dass sie wissen, dass Ausnahmen vom bisherigen Umgang mit Ängsten möglich sind. Dann kann man im nächsten Schritt daran arbeiten, diese Ausnahmen auch im Alltag möglich zu machen und dann davon zu profitieren, dass der neue Umgang zur Regel wird. Die Anwendung systemischer Tools wie Reframing, Externalisierung und zirkuläre Fragen ist abhängig von den individuellen Möglichkeiten der Klienten. Sie sollten den jeweiligen kognitiven, sprachlichen, aber auch kreativen Fähigkeiten der Kinder, Jugendlichen und Erwachsen angepasst sein. So können sie wie beschrieben auch in der Arbeit mit Menschen mit einer geistigen Behinderung eingesetzt werden, wenn diese über die entsprechenden Reflexionsmöglichkeiten und Kommunikationsfähigkeiten verfügen. Das Betrachten und Miteinbeziehen des Gesamtsystems als Rahmen für die pferdegestützte Arbeit hat sich seit nunmehr zwölf Jahren mit allen Klienten aus den Bereichen Kinder- und Jugendhilfe, Familientherapie, Menschen mit geistiger Behinderung (viele mit psychischen Belastungen und anderen Einschränkungen), Schulklassen und im Coaching mit Jugendlichen und Erwachsenen als sinnvoll erwiesen. Zum einen hilft es der Fachkraft, Möglichkeiten und Grenzen der pferdegestützten Arbeit in jedem individuellen Fall zu ermitteln. Zum anderen unterstützt es die Klienten dabei, Erfolge, die sie in der Arbeit mit dem Pferd erreicht haben, im Alltag fortzuführen. Der gewünschte Transfer wird leichter, wenn mehrere am gleichen Strang ziehen. Antritter-Boß - Die Angst nicht überwinden, sondern einladen ‒ Systemische Interventionen mup 2|2015 | 67 Literatur ■ Mrochen, S. (2006): Teilearbeit mit Handpuppen - Ein systemisches Behandlungskonzept für Kinder und Jugendliche. In: Vogt-Hillman, M., Burr, W. (Hrsg.): Kinderleichte Lösungen: Lösungsorientierte Kreative Kindertherapie. 5. Aufl. modernes lernen, Dortmund, 210 ■ Von Schlippe, A., Schweitzer, J. (1996): Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung: Das Grundlagenwissen. 1. Aufl. Vandenhoeck & Rupprecht, Göttingen ■ Steiner, T.(2010): Externalisieren in der Therapie mit Kindern. In: Vogt, M. (Hrsg.): Wenn Lösungen Gestalt annehmen. Externalisieren in der kreativen Kindertherapie. 2. Aufl. modernes lernen, Dortmund, 37-47 ■ Wimmer, K. (2001): Systemische Interventionen von A bis Z. Ein Überblick über das systemische Methoden- und Interventionsrepertoire in Beratung, Supervision, Coaching und Therapie von A wie Allparteilichkeit bis Z wie Zirkuläres Fragen. In: www.wimmer-partner.at/ pdf.dateien/ system-intervention.pdf, 25.06.2014 ■ www.coaching-informationen.de/ fachwissen/ 44methoden-und-werkzeuge/ 157-zirkulaeres-fragen. html, 25.06.2014 ■ www.unternehmenswerkstatt-bb.de/ Z/ zirkulaeres/ Fragen.html, 03.09.12 ■ www.systemische-beratung.de/ systemischefamilientherapie/ #3.5%20Das%20Reframing, 25.06.2014 ■ www.teamdynamik.net/ index.php? id=5860, 03.03.12 Kirsten Antritter-Boß Dipl.-Sozialpädagogin, Trainerin B Voltigieren, Heilpädagogisches Voltigieren (DKThR), Systemische Therapie und Beratung (SG), Tiergestützte Pädagogik und Therapie, Coaching. Seit 1995 tätig im RuF Dachreiter-Herbstein mit den Schwerpunkten: Therapeutisches Reiten, Vereinssport, Touristisches Reiten und Coaching-Angebote des Kolping- Feriendorfs Herbstein. Seit 2002 mit „PferdeStärken“ selbstständig tätig im Bereich Heilpädagogisches Voltigieren, Beratung und Coaching mit Pferden. Seit 2006 tätig für die Liehrnhof Praxis(Homberg / Ohm) in der SystemIntegrativen Beratung und Therapie sowie an der Liehrnhof-Akademie als Dozentin in den Weiterbildungen SystemIntegrative Beratung und Therapie sowie Tiergestützte Pädagogik und Therapie. Anschrift: Kirsten Antritter-Boß Stockhäuser Str. 14 · D-36358 Herbstein boss-antritter@gmx.net Die Autorin