mensch & pferd international
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mup2015.art04d
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Motologische Förderung mit dem Pferd - der Verstehende Ansatz
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Lena Heselmeyer
Die Motologie ist die Lehre vom Zusammenhang zwischen Bewegung und Psyche. In der praktischen Anwendung wird die Motologie häufig unter dem Begriff der Psychomotorik geführt und hat zum Ziel, die Entwicklung des Menschen ganzheitlich zu fördern. Die Klientel kann hierbei Menschen aller Altersklassen umfassen. Für die praktische Umsetzung gibt es verschiedene motologische bzw. psychomotorische Ansätze (Universität Marburg 2014). Einer dieser Ansätze ist der „Verstehende Ansatz“, der im Folgenden aufgegriffen und im Kontext der Förderung mit dem Pferd betrachtet wird.
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22 | mup 1|2015|22-26|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2015.art04d Forum Motologische Förderung mit dem Pferd - der Verstehende Ansatz Lena Heselmeyer Die Motologie ist die Lehre vom Zusammenhang zwischen Bewegung und Psyche. In der praktischen Anwendung wird die Motologie häufig unter dem Begriff der Psychomotorik geführt und hat zum Ziel, die Entwicklung des Menschen ganzheitlich zu fördern. Die Klientel kann hierbei Menschen aller Altersklassen umfassen. Für die praktische Umsetzung gibt es verschiedene motologische bzw. psychomotorische Ansätze (Universität Marburg 2014). Einer dieser Ansätze ist der „Verstehende Ansatz“, der im Folgenden aufgegriffen und im Kontext der Förderung mit dem Pferd betrachtet wird. Der Verstehende Ansatz wurde in erster Linie von dem Motologen Jürgen Seewald geprägt. Seewald beschreibt sein Entstehen wie folgt: „Der Verstehende Ansatz ist aus der Beobachtung heraus entstanden, dass Kinder in ihren Bewegungen, Körperhaltungen, Spielthemen und Geschichten uns etwas von sich zeigten und wir nicht wussten, was es bedeuten könnte“ (Seewald 1997, 8). Um diese Beobachtungen besser einordnen zu können, wurde der Verstehende Ansatz entwickelt. Zentrale Punkte dieses Ansatzes sind das Verstehen anhand der unterschiedlichen Verstehenstraditionen, die aus der Hermeneutik, der (Leib-)Phänomenologie, der Tiefenhermeneutik und der Dialektik bestehen. Anhand dieser Theorien können Strukturmuster des Verstehens offengelegt werden (Seewald 2007, 25). Entwicklung wird aus Sicht des Verstehenden Ansatzes als „Selbststrukturierung im und durch den Austausch mit anderen Menschen und „der Welt“ gesehen“ (Seewald 2007, 45). Hierbei gibt es eine universale Abfolge von Entwicklungsthemen, die Entwicklungsperspektive ist „[…] universalistisch und undirektional, d. h. in der Richtung festgelegt und unumkehrbar“ (Seewald 2007, 47). Außerdem wird im Sinne strukturgenetischer Theorien davon ausgegangen, dass „[…] frühe Erlebnisse und Prägungen nicht verloren gehen, sondern in der erweiterten Struktur aufgehoben werden“ (Seewald 1997, 49). Somit sind alle frühen Ängste, Wünsche, Bedürfnisse und Prägungen in uns verankert, wobei diejenigen, die uns tiefer geprägt haben, auch tiefer verankert sind. Seewald (1998) geht davon aus, dass diese frühen Bedürfnisse sich durch Integration im späteren Leben verändern Forum: Heselmeyer - Motologische Förderung mit dem Pferd mup 1|2015 | 23 Lena Heselmeyer lassen. Diese Veränderung kann durch das Nachholen dieser frühen Erfahrungen im symbolischen Echo geschehen. „Im symbolischen Echo werden frühe Erfahrungen nachgeholt, wiederbelebt, umspielt und insgesamt in die aktuellen Strukturen integriert. Es scheint, dass das Zurückgehen auf frühe Themen oft erst den Spielraum eröffnet, sich Neuem und Zukünftigem zuwenden zu können“ (Seewald 1997, 50). Die Überlegungen zur Förderung mit dem Pferd nach dem Verstehenden Ansatz orientieren sich hieran ebenso wie an den Entwicklungsthemen des Menschen. Seewald (1997, 50) beschreibt ein ähnliches Phänomen zur vorgeburtlichen Entwicklung. Ein Aspekt in diesem vorgeburtlichen symbolischen Echo ist „sanftes Geschaukelt- und Gewiegtwerden“. Angelehnt an dieses Thema, spielt das „Getragenwerden“ auch eine Rolle im ersten Lebensjahr, wenn die Entwicklung des Urvertrauens und der orale Modus im Mittelpunkt stehen. „Der Hautkontakt beim Gehalten- und Getragenwerden erinnert an die vorgeburtliche Zeit“ (Seewald 1997, 54). Ein weiterer Aspekt dieser Zeit des ersten Lebensjahres ist, dass der Säugling über komplexe ganzheitliche Kommunikationsformen verfügt, „die in dieser Klarheit und Einfachheit wohl später nie wieder funktionieren“ (Seewald 1997, 54). Es handelt sich um eine Form der zwischenleiblichen Kommunikation, die unter den Begriffen der „coenästhetischen Wahrnehmung“, „tonischer Dialog“ oder unter den Konzepten des Haltens und Spiegelns bekannt sind (Seewald 2007, 54). Beim Sitzen auf einem Pferd, und dem damit verbundenen Bewegungsdialog zwischen Mensch und Pferd, kommen genau diese Aspekte der vorgeburtlichen Zeit, ebenso wie die des ersten Lebensjahres zum Ausdruck. „So knüpft der Bewegungsdialog auf dem Pferd an ein Schlüsselerlebnis früher nonverbaler Kommunikation an und wird damit zum beziehungsstiftenden Element schlechthin“ (Schulz 2005, 23). Durch das Pferd besteht die Möglichkeit des Nachholens der frühen Erfahrungen im Sinne des symbolischen Echos. Im Grundschulalter sind beim Kind verschiedene Themen präsent. Unter anderem das Thema „Werksinn versus Minderwertigkeit“, das insbesondere durch den Psychoanalytiker Erik H. Erikson geprägt wurde (Seewald 2007, 69 ff). Dieses Thema greift auf die Erfahrungen des Machenkönnens zurück. Olbrich (2009), der sich vermehrt mit der Psychologie der Mensch-Tier- Beziehung beschäftigt, beschreibt verschiedene Entwicklungsphasen eines Menschen in Bezug auf seine Beziehung zum Pferd. Olbrich verdeutlicht für das Grundschulalter (2009), ebenso wie Seewald (1997), die Wichtigkeit des Machenkönnens. Durch das Pferd kann das Kind eine Bestätigung für sein fleißiges Sorgen für Nahrung und Pflege erhalten. Es erfährt: „Ich kann die Dinge handhaben, ich kann im konkreten […] Bereich etwas bewirken, das für mich und andere wichtig ist“ (Schulz 2005, 11). Das Pferd gibt dem Kind also ein positives Feedback bzgl. des Werksinns. Im Jugendalter stehen verschiedene Themen im Mittelpunkt der Entwicklung. Ein großes Thema ist das der Identitätsbildung, das in verschiedenen Entwicklungstheorien aufgegriffen wird. So beschreibt Olbrich (2009, 11), dass Pferde in diesem Alter „Begleiter auf dem Weg der Entwicklung von Identität“ sein können, insbesondere bei Mädchen. Hierzu gehören auch Nähe- und Distanzerfahrungen, die im symbolischen Echo des Jugendalters aufgegriffen werden (Seewald 2007, 76). Zum einen wird die Nähe zu den Pferden als Lebewesen gesucht, zum anderen werden die Eltern weggestoßen. Weitere Themen des symbolischen Echos im Jugendalter sind die des Umgangs mit dem eigenen Körper und Grenz- und Gegenwartserfahrungen. Insbesondere der Umgang mit dem eigenen Körper kommt in dem bereits oben beschriebenen Bewegungsdialog zum Tragen, ebenso wie im Umgang mit dem Pferd. So reagiert das Pferd ständig auf den Menschen, sieht auch jeden Moment der Unaufmerksamkeit und nutzt diesen ggf. aus. 24 | mup 1|2015 Forum: Heselmeyer - Motologische Förderung mit dem Pferd Hierbei werden ständig auch Gegenwartserfahrungen gemacht, z. B. wenn sich das Pferdemaul zum nächsten Grasbüschel bewegt. Grenzerfahrungen können bewusst hervorgerufen werden, wie das Springen über Hindernisse oder schnelle Ritte im Gelände. Aber auch Entspannung und Rückzug, ein weiteres Thema des symbolischen Echos im Jugendalter (Seewald 1997, 76), kann im Umgang mit einem Pferd gefunden werden, durch einsame Ritte durch die Natur, aber auch durch gezielte Entspannungsübungen auf dem Pferd. Im Erwachsenenalter, so beschreibt Olbrich (2009, 19), „[…] können Pferde Menschen dazu verhelfen, im Bereich sozial-emotionaler Beziehungen authentischer zu werden“. Hierbei beschreibt Olbrich einen Menschen als authentisch, wenn dieser bewusst aus seinen tieferen Schichten heraus mit seiner Umwelt zu interagieren bereit ist. Zu den tieferen Schichten zählen hier die emotionalen oder impulsiven (Olbrich 2009, 16). Seewald (2007, 81) beschreibt, dass das verstehende Arbeiten im Erwachsenenalter besonderen Wert auf „die Selbstzugewandtheit und die Entwicklung einer ‚reflexiven Leiblichkeit‘ “ legt. Diese Entwicklung der „reflexiven Leiblichkeit“ kann auch mit der Entwicklung der Authentizität von Olbrich (2009) verglichen werden. Bei beiden steht die Findung von sich selbst im Mittelpunkt. Jedoch wird in der Entwicklung der „reflexiven Leiblichkeit“ vermehrt auf den Körper bzw. den Leib Bezug genommen, im Gegensatz zur Authentizität. Ein Thema des symbolischen Echos des frühen Erwachsenenalters nach Seewald (2007) ist das Geben und Nehmen. Hier wird unter anderem thematisiert, ob der Mensch in diesem Alter vorwiegend Gebender oder Nehmender war bzw. ist. Das Thema des Gebens und Nehmens wird auch präsent im Umgang mit dem Pferd. Einem Pferd muss viel gegeben werden (z. B. Futter und Pflege), dafür kann sich auch viel genommen werden, wie z. B. Zuneigung (des Pferdes zum Menschen), Entspannung und Getragenwerden. Zudem regt die Arbeit mit dem Pferd Sozialkontakte an, die im mittleren und vor allem im späten Erwachsenenalter immer wichtiger werden. Das sind die Altersspannen, in denen die Kinder in der Regel von zuhause ausziehen, oder wenn mit der Pensionierung später zudem die arbeitsbezogenen Kontakte wegfallen (Olbrich 2009, 17). Hierdurch entsteht für viele Menschen eine Sinnlücke, die es wieder zu füllen gilt (Seewald 2007, 85). Nun kann das Pferd zum neuen Sozialkontakt werden und das Umfeld des Pferdes (Reitstall usw.) kann neue soziale Kontakte vermitteln (Olbrich 2009, 17 f). Das mittlere Erwachsenenalter ist zudem geprägt durch die Generativität. Dieser Begriff wurde von Erikson geprägt und beschreibt diese Lebensphase zum einen als eine Phase voller Schaffensfreude und zum anderen als eine, in der sich Vorboten der eigenen Endlichkeit zeigen (Seewald 2007, 81). Dabei wird oft viel Energie in das Wohlergehen der nachfolgenden Generation gesteckt. So beschreibt Olbrich (2009, 17), dass die Generativität sehr gut in der Beziehung zu Pferden gelebt werden kann. Entweder im Versorgen des eigenen Pferdes oder in der Mitarbeit im Tierschutz o. Ä. Im Seniorenalter gibt es wesentliche Unterschiede in der Mobilität der Menschen. Die „jungen“ alten Menschen, die den Ausstieg aus Forum: Heselmeyer - Motologische Förderung mit dem Pferd mup 1|2015 | 25 dem Berufsleben nutzen, um eine Weltreise oder einen Reitkurs zu machen, und die „älteren“ alten Menschen, deren Mobilität soweit eingeschränkt ist, dass sie zu einem „Pflegefall“ werden (Olbrich 2009, 18; Seewald 2007, 85). „ Es sind vor allem Kinder und alte Menschen, die die Affinität zu anderen Spezies verspüren oder besser: die das uralte Erleben von Nähe und Verbundenheit mit anderem Leben einfach zulassen“ (Olbrich 2009, 18). Hier ist zu erkennen, welchen Wert das Zusammensein mit Tieren für Menschen, insbesondere für Kinder und ältere Menschen haben kann. Besonders den alten Menschen wird hier ein „In-Beziehung-Sein“ angeboten, das vielleicht in einem Pflegeheim o. Ä. auf eine andere Art nicht mehr möglich sein kann, weil z. B. die verbale Kommunikation eingeschränkt ist. Durch das Pferd und dessen nonverbale Kommunikation kann eine Beziehung aufgenommen werden. In-Beziehung-Sein bzw. -Bleiben ist ein Thema, das Seewald (2007, 86) in seinem symbolischen Echo des Seniorenalters beschreibt. Ein weiteres Thema ist das „Sich-Fordern und neue Herausforderungen annehmen“. Diesem Thema stellen sich die Menschen, die auch im höheren Alter noch das Reiten erlernen, wie oben erwähnt. Diese Erfahrungen können vitalisierende Effekte haben, die Kraft schenken (Seewald 2007, 86). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Verstehende Ansatz ein Ansatz der Motologie ist, der zum besseren Verstehen von Kindern, besser gesagt kindlichem Verhalten entwickelt wurde. Das Verstehen wird methodisch reflektiert, indem auf verschiedene Verstehenstraditionen und Entwicklungstheorien eingegangen wird. In den bisherigen Überlegungen zur motologischen Förderung mit dem Pferd wurde vor allem auf das hermeneutische Verstehen eingegangen, da es die Entwicklungsthemen beinhaltet und so für die Förderung mit dem Pferd am bedeutsamsten ist. Die anderen Verstehensformen sollten natürlich immer auch in die Überlegungen zur Förderung eines Menschen einfließen. Pferde können in den verschiedenen Entwicklungsphasen eines Menschen eine Rolle spielen und im Sinne der von Seewald beschriebenen symbolischen Echos zur Bewältigung dieser Phasen unterstützend wirken. Aber auch andere Entwicklungsbereiche, wie Themen, die in den symbolischen Echos der verschiedenen Lebensphasen aufgegriffen werden, können in einer Förderung mit dem Pferd Beachtung finden, bzw. werden per se gefördert, wenn ein Pferd in die Förderung mit einbezogen wird. Das bedeutet also, der Verstehende Ansatz der Motologie stellt in der Förderung mit dem Pferd in erster Linie einen Erklärungsansatz dar. Allerdings können einige Themen speziell aufgegriffen werden, wie das Springen über Hindernisse im Jugendalter, wenn das symbolische Echo der „Grenz- und Gegenwartserfahrungen“ aktuell ist, oder Entspannungsübungen auf dem Pferd beim Thema „Entspannung und Rückzug“. Insbesondere der Bewegungsdialog zwischen Mensch und Pferd bietet deshalb, wie oben beschrieben, eine große Möglichkeit der Bewältigung von frühen Entwicklungsthemen im Sinne des symbolischen Echos. 26 | mup 1|2015 Forum: Heselmeyer - Motologische Förderung mit dem Pferd Literatur ■ Olbrich, E. (2009): Entwicklung durch Beziehung - auch zu Pferden. In: http: / / reitenmithandicap.de/ informatives-nachrichtenleser/ items/ abschlussvortrag-von-prof-dr-erhard-olbrichauf-dem-weltkongress-horses-for-body-mindand-soul-im-august-2009-in-muenster-entwic. html, 02.12.2013 ■ Schulz, M. (2005): Heilpädagogische Arbeit mit und auf dem Pferd. In: Kröger, A. (Hrsg.): Partnerschaftlich miteinander umgehen. FN, Warendorf, 18-29 ■ Seewald, J. (2007): Der Verstehende Ansatz in Psychomotorik und Motologie. Ernst Reinhardt, München ■ Universität Marburg (2014): Motologie. In: www.uni-marburg.de/ fb21/ motologie, 25.08.2014 Lena Heselmeyer Sozialarbeiterin / Sozialpädagogin B.A., Motologin M.A., 2011-2014 Übungsleiterin Reitverein Marburg- Marbach e. V., seit 2014 bei TRENT Gemeinnützige Gesellschaft für Training und Entwicklung mbH. Anschrift: Lena Heselmeyer Schatteburgerstr. 52 · D-26817 Rhauderfehn LenaHeselmeyer@googlemail.com Die Autorin a w Vom 14. - 22. März 2015 findet die Equitana in Essen statt. Wir freuen uns auf Sie an unserem Stand, Nr. D33, in Halle 10 / 11 auf dem Gelände der Messe Essen. Weitere Informationen erhalten Sie unter: www.reinhardt-verlag.de und www.equitana.com Besuchen Sie den Reinhardt Verlag auf der Weltmesse des Pferdesports: Equitana 2015! SG-TR Das Original www.sg-tr.ch Therapeutisches Reiten Ausbildung zur Reitpädagogin / Reittherapeutin seit über 30 Jahren Schweizer Gruppe STAUFEN-BUCHHANDLUNG • Inh. Dorothea Rudolph 73033 Göppingen • Telefon 0 71 61/ 74175 • Telefax 1 3743 email: staufen-buch@t-online.de Higgins Anatomie, Gymnastizierung, Muskelaufbau ISBN 978-3-440-14072-7 16,99 n 96 S. m. 78 Farbabb. Passend zum Buch: DVD Gymnastizierung und Muskelaufbau für Pferde ca. 70 Min ISBN 978-3-440-14411-4 29,99 n Motivaustecher Voltigierer Größe: 10 x 10 cm Stück: 4,50 n Mengenpreise auf Anfrage. Motivausstecher Dressur und Springen! einzeln 6,95 H Im Set (Dressur und Springen) 12,00 H NEU: Isländer 5,95 H Anzeige_Mensch+Pferd_14_08 21.08.2014 16: 10 Uhr Sei Anzeigen
