eJournals mensch & pferd international 7/2

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mup2015.art09d
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Ganz praktisch: Die Ausbildungsskala für Therapiepferde im Alltag

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Katharina Westermann
Das Pferd ist das zentrale Medium Pferdegestützter Interventionen und für deren erfolgreiche Anwendung mit verantwortlich. Die Qualität des eingesetzten Pferdes wird bestimmt von der Auswahl, Ausbildung und Haltung des Pferdes sowie von den jeweiligen Einsatzbedingungen. Die Besonderheiten des Pferdeeinsatzes in der Gesundheitsförderung des Menschen eröffnen neue Wege in der Pferdeausbildung. Das Therapiepferd muss sowohl in seiner Persönlichkeit als auch in seinem Bewegungsablauf ausgebildet werden. Entscheidend für den Ausbildungserfolg des Pferdes sind die Fachkompetenz des Ausbilders und ein klar strukturierter, vor Ort umsetzbarer Ausbildungsablauf.
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Katharina Westermann 48 | mup 2|2015|48-57|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2015.art09d Schlüsselbegriffe: Therapiepferd, Erweiterung der Ausbildungsskala, Therapiepferdeausbildung in der Praxis, Pferdegestützte Interventionen, Partnerschaft Mensch-Pferd Das Pferd ist das zentrale Medium Pferdegestützter Interventionen und für deren erfolgreiche Anwendung mit verantwortlich. Die Qualität des eingesetzten Pferdes wird bestimmt von der Auswahl, Ausbildung und Haltung des Pferdes sowie von den jeweiligen Einsatzbedingungen. Die Besonderheiten des Pferdeeinsatzes in der Gesundheitsförderung des Menschen eröffnen neue Wege in der Pferdeausbildung. Das Therapiepferd muss sowohl in seiner Persönlichkeit als auch in seinem Bewegungsablauf ausgebildet werden. Entscheidend für den Ausbildungserfolg des Pferdes sind die Fachkompetenz des Ausbilders und ein klar strukturierter, vor Ort umsetzbarer Ausbildungsablauf. Ganz praktisch: Die Ausbildungsskala für Therapiepferde im Alltag Westermann - Die Ausbildungsskala für Therapiepferde im Alltag mup 2|2015 | 49 Wichtige Voraussetzung für eine nachhaltige Therapiepferdeausbildung und für einen erfolgreichen Pferdeeinsatz in der Therapie ist, das Pferd in seiner Persönlichkeit und in seinem Bewegungsablauf zu schulen. Dazu sollten verhaltensbiologische, lerntheoretische, sportwissenschaftliche, pädagogische und psychologische Aspekte in die Ausbildungsmethoden und -inhalte miteinbezogen werden. So lernt das Pferd zum einen, in einem vorgegebenen Rahmen, unterstützt durch den Therapeuten, mit seinen natürlichen Möglichkeiten selbstständig und eigenverantwortlich die geforderten Impulse auf den Klienten zu übermitteln und auf diesen zu reagieren. Zum anderen lernt es, die Eigenverantwortung außerhalb dieses Rahmens wieder an den Therapeuten abzugeben (Westermann 2015, 4 f). Praxistipps für eine erfolgreiche Umsetzung der Therapiepferdeausbildung Planung der Ausbildung Bevor die eigentliche Ausbildung zum Therapiepferd beginnt, muss der Ausbilder wissen, wo und wie das Pferd später eingesetzt werden soll. Dazu bedarf es möglichst detaillierter Kenntnisse über das Anforderungsprofil und die einsatzbedingten Belastungsmomente. Hierauf basieren sowohl die Auswahl der / des geeigneten Pferde / -s als auch die Vorgehensweise bei der Ausbildung hinsichtlich Methode, Inhalt und Strukturierung. Begutachtung / Beobachtung der Pferde Ist die Planungsphase abgeschlossen, folgt die Pferdeauswahl. Hier kommt es auf das geeignete Exterieur, das Interieur, den natürlichen Bewegungsablauf, das Verhalten des potentiellen Therapiepferdes sowohl gegenüber dem Menschen als auch gegenüber Artgenossen und selbstverständlich auch auf den physischen und psychischen Gesundheitszustand an. Durch Befragung des Verkäufers, eine tierärztliche Ankaufsuntersuchung und der Beobachtung des potenziellen Therapiepferdes ergibt sich ein erster Eindruck von der Eignung des Pferdes für das angedachte Einsatzgebiet. Beobachtet werden sollte das Pferd in freier Bewegung mit/ ohne Artgenossen auf der Weide / dem Paddock, gegenüber vertrauten und fremden Menschen sowie hinsichtlich seiner Reaktionen auf Umweltreize. Abschließend sollte auch der Ausbildungsstand des Pferdes an der Hand und / oder unter dem Sattel begutachtet werden. Das Pferd im Einsatz der Gesundheitsförderung des Menschen muss in seiner Persönlichkeit und in seinem Bewegungsablauf geschult werden. Ausbildung der Pferde Ist ein potenziell geeignetes Pferd gefunden, beginnt die eigentliche Therapiepferdeausbildung. Diese lässt sich in die Grundausbildung und in die therapiespezifische Ausbildung unterteilen. Die Grundausbildung besteht aus fünf aufeinander aufbauenden Abschnitten: Grundausbildung Erziehung (insbes. Aufhalftern, Anbinden, Umgang, Pflegen, Führen, Verladen) Hier lernt das Pferd die Regeln eines Lebens in der Zivilisation und wie es sich gegenüber dem Menschen zu verhalten hat. Das schafft Vertrauen zu Mensch und Umwelt und gibt die nötige Sicherheit für seine spätere Nutzung. Wichtigste Grundvoraussetzung hierfür ist, dass der Mensch weiß, wie er sich dem Pferd gegenüber verhalten muss. Dazu bedarf es umfassender Kenntnissen über Anatomie, Verhaltensphysiologie und -psychologie des Pferdes (Brückner 2011). Körperarbeit Die Körperarbeit ist die gezielte Aufnahme von Körperkontakt. Das Pferd soll äußerlich und innerlich berührt werden. Es lernt den menschlichen Kontakt als Kommunikationsmittel, Trainingseinheit und Genussfaktor 50 | mup 2|2015 Westermann - Die Ausbildungsskala für Therapiepferde im Alltag kennen. Durch taktile Reize soll das Pferd in der eigenen Körperwahrnehmung einerseits für eine feine Hilfengebung sensibilisiert und andererseits gegenüber möglichen Unannehmlichkeiten durch die Klienten desensibilisiert werden. Darüber hinaus wird das Pferd mit Hilfe der Körperarbeit an ein Unterschreiten der Individualdistanz durch fremde Menschen herangeführt. Ausbildung an der Hand Mit der Ausbildung an der Hand beginnt die Verfeinerung der Hilfengebung. Aus direkten Berührungsreizen entwickelt sich zunehmend eine indirekte Hilfengebung durch den Einsatz von Körpersprache, Führseil und Stimmhilfen. Des Weiteren lernt das Pferd die Führung durch den Menschen auf beiden Seiten gleichermaßen zu respektieren. Mit Hilfe von Übungen aus der sog. Bodenarbeit wird das Pferd in seiner Aufmerksamkeit, Balance, Belastbarkeit und Scheufestigkeit geschult. Ein Therapiepferd muss viel intensiver als ein Reitpferd lernen, Reize nach Relevanz zu hierarchieren. Ausbildung an der Longe und am Langzügel Die Distanz zwischen Ausbilder und Pferd wird ausgeweitet. Dies ermöglicht dem Pferd mehr Bewegungsfreiraum. Es kann in allen Grundgangarten, auf beiden Händen und unter Ausnutzung der Hufschlagfiguren ohne Reitergewicht kontrolliert trainiert und auf das Voltigieren vorbereitet werden. Das schult den Gehorsam ebenso wie die Entwicklung von Takt, Losgelassenheit, Anlehnung und Geraderichtung im klassischen Sinn. Ausbildung unter dem Sattel Jetzt lernt das Pferd den Menschen aus einer neuen Perspektive kennen - unsichtbar, belastend und weiterhin führend. Diese Form des Führens empfindet ein Pferd als völlig unnatürlich, wenn nicht sogar als lebensbedrohlich. Denn die Leitstute führt die Gruppe an, der Leithengst treibt sie von hinten oder sichert von der Seite - aber der Säbelzahntiger springt das Pferd an oder auf das Pferd drauf, um es zu erlegen. Daher ist die Akzeptanz des Reiters auf dem Rücken ein wahrer Vertrauensbeweis des Pferdes gegenüber dem Menschen. Ist das Vertrauen aufgebaut, kann an Schwung, Geraderichtung, Versammlung (im klassischen Sinn) sowie Tritt-, Gelände- und Straßensicherheit gearbeitet werden. Auch das Reiten zu zweit auf einem Pferd und das Reiten mit/ als Handpferd können Trainingsinhalt sein. Therapiespezifische Ausbildung Gewöhnung an spezielle Umgebungsreize Die Therapie- / Fördereinheit findet in einem sog. geschützten Rahmen statt. Das bedeutet, dass während der Therapieeinheit weder Zuschauer noch eine weitere Hallennutzung oder störende Aktivitäten in der Hallenumgebung gestattet sind. Trotzdem ist dieser Bereich nicht isoliert von der Außenwelt. Daher muss das Pferd lernen, sich von der alltäglichen Unruhe des Therapiealltags weder beirren noch ablenken zu lassen. Die Reize können dabei von der normalen Stallarbeit, von Artgenossen oder dem Klientenverkehr etc. ausgehen. Zu den speziellen Umgebungsreizen eines Therapiepferdes gehört es, Regungen des Klienten zu tolerieren und in einem gewissen Rahmen zu beachten. Darüber hinaus muss das Pferd diese Klienteneinflüsse konsequent von unverzüglich zu befolgenden Hilfen des Therapeuten unterscheiden. Deshalb muss ein Therapiepferd viel intensiver als das Reitpferd lernen, Reize nach Relevanz zu hierarchisieren (unbedingt befolgen - beachten und reagieren - beachten, aber tolerieren - ignorieren, selbst wenn es sich um einen potenziellen Fluchtreiz handelt). Gewöhnung an einsatzspezifische(s) Equipment, Hilfsmittel und Materialien Jede Nutzung des Pferdes hat ihr spezielles Handwerkszeug, an welches das Pferd gewöhnt werden muss. In der Therapie- und Fördermaßnahme sind das Westermann - Die Ausbildungsskala für Therapiepferde im Alltag mup 2|2015 | 51 z. B. Ausbindezügel, Langzügel und spezielle Sitzhilfen für den Klienten. Als Hilfsmittel sind u. a. Rampen / Lifter zum Patiententransfer auf dem Pferderücken zu nennen. Während der Maßnahme kommen vielfach Bälle, Planen, Ringe, Pylonen zum Einsatz - auch in Bewegung (Bälle zuwerfen; mit Ringen Pylonen treffen, unter / über Planen her führen). Gewöhnung an Reize durch Besonderheiten der Klienten (Gerüche, Verhalten, Sitz) Der Klient ist kein (angehender) Reiter. Vielfach handelt es sich um Menschen mit physischem, psychischem und / oder seelischem Förderbedarf. Dadurch unterscheiden sich diese Menschen für das Pferd erheblich von denen, die es bisher im Umgang kennengelernt hat. Ihr Verhalten ist u. U. aus Pferdesicht unverständlich und unberechenbar (unkontrollierte und / oder sehr laute Lautäußerungen, die Berührungen sind u. U. grob und / oder an sensiblen Körperstellen, ihr Sitz auf dem Rücken ist für das Pferd unangenehm, weil nicht ausbalanciert, verkrampft, unruhig, nicht mitschwingend). Auch der Geruch des Klienten kann für das Pferd sonderbar sein. Der menschliche Körpergeruch des Klienten kann durch eine Stoffwechselstörung, notwendige Medikamente oder besondere Vorlieben für einen bestimmten Körperduft für das Pferd unangenehm verändert sein. Üben des Patiententransfers (Lifter, Rampe) Oberste Prämisse: absolutes Stillstehen, egal was passiert! Ein Rollstuhl, ein Mensch im Rollstuhl darf dem Pferd keine Angst mehr einflößen. Die Geräusche, die vom Transfersystem ausgehen (beim Heraufrollen des Rollstuhls auf die Rampe, das Geräusch des Motors bei Liftern), muss es als nicht bedrohlich kennenlernen. Die Situation des eigentlichen Transfers, von der Seite mit Helfern oder von oben über Hebevorrichtungen, darf das Pferd nicht mehr stressen. Umstellung auf die veränderte Hilfengebung bei Reitern mit Handikap Dieser Punkt betrifft insbesondere den Reitsport für Menschen mit Behinderung. Das Pferd muss zweisprachig geschult werden - entsprechend der herkömmlichen, klassischen Hilfengebung (zur Ausbildung und späteren Ausgleichs- und Korrekturarbeit durch Reiter ohne Handikap) und entsprechend den Möglichkeiten der Hilfengebung des Reiters mit Handikap. Die Herausforderung ist, dem Pferd beizubringen, dass ein und dieselbe Reaktion auf zwei unterschiedliche Signale hin erfolgen muss. Wichtige Voraussetzung einer erfolgreichen Therapiepferdeausbildung ist, dass der Mensch weiß, wie er sich dem Pferd gegenüber zu verhalten hat. Erhalt der Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Pferde Zum langfristigen Erhalt der Einsatzfähigkeit des Therapiepferdes bedarf es neben artgerechter Haltung, Gesundheitspflege und -vorsorge auch ausgleichender und korrigierender Ausbildungsmaßnahmen als Gegenpol zum Therapieeinsatz. Ausgleichsarbeit Je nach Bedarf kommen Entspannungstechniken (z. B. Schaffung besonderer Rituale zum Ausleben des Komfortverhaltens und des Spannungsabbaus nach der Arbeit, Massagen) oder gezielte Bewegungsangebote (z. B. Bodenarbeit, Freispringen, Geländeritte, Ponyspiele) zum Einsatz. Hier gilt es, den Ausgleichsbedarf zu erkennen und zu ermöglichen. Die Notwendigkeit, während des Einsatzes den Bewegungsdrang stark reduzieren zu müssen, erfordert dessen Ausleben als Ausgleich (z. B. in Form eines erfrischenden Geländerittes oder flotter Ponyspiele). Die Arbeit mit psychisch anstrengenden Klienten benötigt einen Ausgleich, bei dem das Pferd sich entspannen kann (z. B. ein entspannter Spaziergang / Ausritt, Massagen). 52 | mup 2|2015 Westermann - Die Ausbildungsskala für Therapiepferde im Alltag Die Bodenarbeit ist allgemein gut geeignet, das Vertrauen des Pferdes zum Therapeuten zu stärken und mit neuen Aufgaben seine Reaktionsfreudigkeit und Motivation zu verbessern. Korrekturarbeit Inhalte und Intervalle variieren je nach Bedarf. Die Durchführung sollte konsequent erfolgen und mit einer Überprüfung des Korrekturzieles abschließen. Bei jeder routinierten Arbeit, egal ob bei Mensch oder Pferd, schleichen sich mit der Zeit „Fehlerteufel“ ein. Beim Pferd kann sich dies z. B. in Unlust, Unwilligkeit oder Widersetzlichkeit zeigen. Ursache können z. B. fehlende Motivation, Überlastung oder Muskelverspannungen sein. Um den Grund zu erkennen und zu beheben, ist kompetenter „externer Input“ wichtig. Dann kann dem durch geeignete Maßnahmen (im Umgang, am Boden, unter dem Sattel etc.) begegnet werden. Weiterführende Ausbildung Die weiterführende Ausbildung dient der Festigung des bereits Erlernten, der weiterführenden Gymnastizierung und Persönlichkeitsschulung sowie der Optimierung der Einsatzfähigkeit des Therapiepferdes. Sie sollte das Pferd lebenslang begleiten und sämtliche hier kurz vorgestellten Ausbildungsmöglichkeiten berücksichtigen (Westermann 2013, 93 f). Die nachfolgende Abbildung 1 zeigt beispielhaft, auf welche Bereiche sich die Ergänzungen der Ausbildungsskala auswirken. Es wird deutlich, dass von der Planung der Therapiepferdeausbildung über den Pferdeeinsatz bis zu dessen Ausgleichs- und Korrekturarbeit diese Ergänzungen Mensch und Pferd beeinflussen. Daher ist es sinnvoll, die Gültigkeit der Ausbildungsskala für Therapiepferde auch auf den Ausbilder des Pferdes / den Therapeuten auszudehnen. Abb. 1: Die erweiterten Stufen der Ausbildungsskala in der täglichen Arbeit TAKT Pferd: Feingefühl (gegenüber anderen Spezies) - Anpassung der Berührungsintensität dem Menschen gegenüber - bei der Wahrnehmung menschlichen Handelns (z. B. in der Psychotherapie) - Voraussetzung: • Sensibilität und (soziale) Intelligenz • Befähigung zur Eigen- und Fremdwahrnehmung • Fähigkeit, sich aufeinander einzuschwingen / einzutakten • Fähigkeit, andere mitzunehmen; den Funken / Impuls überspringen zu lassen Rücksichtnahme - Toleranz gegenüber Inkompetenzen des Klienten beim Umgang und beim Sitz - stehen bleiben, wenn der Reiter zu fallen droht Zurückhaltung - Anpassungsfähigkeit (vgl. Taktlosigkeit als Synonym für rücksichtsloses, rüpelhaftes Verhalten) Mensch: Feingefühl - das Potenzial des Pferdes erkennen - bei der Dosierung von Hilfen, Lob und Sanktionen (Verhältnismäßigkeit von Aktion / Reaktion) - bei der Zusammenstellung der geeigneten Klient-Pferd-Kombination Überblick bewahren über den Ausbildungsablauf Taktgeber sein - das Pferd führen - Vorbild sein Rücksichtnahme - auf die Bedürfnisse des Pferdes - auf die natürlichen Voraussetzungen des Pferdes (d. h. nichts zu verlangen, was das Pferd nicht leisten kann) Das Pferd nicht verwirren - klare Rangordnung herstellen - klare, eindeutige Kommandos geben - berechenbar sein Westermann - Die Ausbildungsskala für Therapiepferde im Alltag mup 2|2015 | 53 LOSGELASSENHEIT Pferd: Innere Ruhe / inneres Gleichgewicht - um Situationen gelassen hinnehmen zu können (das bedarf der Entspannung und setzt Vertrauen voraus) Die Fähigkeit, „etwas gehen zu lassen“ - im Sinn einer Vorwärtsbewegung, eines Bewegungsflusses - im Sinn von etwas loslassen, geschehen lassen können • z. B. den Patienten „nur“ zu spiegeln, ohne dessen Gemütszustand selber zu verinnerlichen • die Verantwortung außerhalb des therapeutischen Rahmens abgeben zu können • sich außerhalb der Therapie „fallen lassen“ zu können (Vorwärts-Abwärts-Dehnung mit schwingendem Rücken und natürlichen, taktreinen Bewegungen; den Kopf fallen lassen) Mensch: Gelassenheit - in jeder Situation bedacht zu handeln Selbstbeherrschung und Geduld - bei der Übung von Ausbildungsinhalten - Reflexion des eigenen Verhaltens und der entsprechenden Reaktion des Pferdes Abgeklärtheit (im Sinn von Erfahrung) ACHTUNG: Kein Verfall in Dickfelligkeit oder Kaltblütigkeit; denn „Gelassenheit bewegt sich semantisch im Spannungsfeld wünschenswerter Gemütsruhe und bedenklicher Gleichgültigkeit“. ANLEHNUNG Pferd: Sich anlehnen - im Sinn von Vertrauen zu haben, Unterstützung zu erhalten - in verwirrenden Situationen psychischen Halt zu suchen Eigenverantwortung abzugeben - den Therapeuten als Leittier anerkennen Mensch: Orientierung haben - hinsichtlich der Ausbildungsziele - hinsichtlich möglicher Ausbildungsmethoden und Konzepte Einen Rahmen (der Eigenverantwortung) vorgeben Dem Pferd den nötigen Halt geben, als psychische Stütze dienen SCHWUNG Pferd: Beweglich sein - psychisch wie physisch den Klienten mitnehmen und dem Therapeuten folgen Aktiv sein - psychisch wie physisch den Klienten bewegen Motiviert bei der Arbeit sein; Spaß an der Arbeit haben Mensch: Ansporn haben, etwas zu bewegen Entschlusskraft - etwas in Angriff zu nehmen (Ausbildung eines Therapiepferdes, Förderung eines Menschen etc.) - die Fähigkeit, das Pferd durch klare Kommandos in jeder Situation zu führen Beweglichkeit - die Fähigkeit, gedanklich und körperlich sich der Situation anzupassen/ stellen zu können Abb. 1 (fortfolgend) 54 | mup 2|2015 Westermann - Die Ausbildungsskala für Therapiepferde im Alltag Arbeitslust und Leidenschaft - Spaß zu haben an der Arbeit mit Mensch und Tier Motivation mitzubringen, Mensch und Pferd zu fördern Aktivität - als Vorbild selber „voll bei der Sache zu sein“ und mitzumachen GERADERICHTUNG Pferd: Geradeaus gehen - im Sinn von selber mitdenken, auf den Klienten reagieren Direkt sein - im Sinn von sofortiger, direkter Reaktion auf den Klienten Etwas gerade richten - im Sinn von richtiger, korrekter Impulsgebung Mensch: Geradeaus gehen - im Sinn von sich selber Gedanken zu machen statt kritiklosem Übernehmen von Sachverhalten, Inhalten und Meinungen Gedankliche Fehlerkorrektur - nach dem Motto „Erst denken, dann handeln” Direkt sein - im Sinn von klarer, unmittelbarer Hilfengebung sowie Lob und Sanktionen auf den Punkt genau VORAUSSETZUNG dafür, etwas „geraderichten“ zu können, ist, eine eigene Vorstellung der Richtung zu haben VERSAMMLUNG Pferd: Konzentration - zu 100 % bei der Arbeit sein; sich nicht ablenken lassen Achtsamkeit und Aufmerksamkeit - den Therapeuten zu beachten und auf den Klienten zu achten Zusammenfinden, sich verbinden - das therapeutische Dreieck mit aufzubauen, sich auf die Menschen einzustellen Sich vereinigen - den Klienten bewegen, mitnehmen Mensch: Konzentration - zu 100 % bei der Arbeit sein; sich nicht ablenken lassen Sich treffen - im therapeutischen Dreieck mit dem Pferd und dem Klient - zum Fachgespräch mit den überweisenden Personen und Angehörigen der Klienten - zum kollegialen Austausch - zum Austausch mit Pferdefachleuten Aufmerksamkeit - auch während der Maßnahme das Therapiepferd beachten Achtsamkeit - Beachtung der Bedürfnisse von Pferd und Klient Besinnung - auf das Wesentliche • Ziele der Ausbildung, Ausgleichs- und Korrekturarbeit • Förderziele des Klienten Zusammenfinden - Zusammenstellung der geeigneten Klient- Pferd-Kombination Abb. 1 (fortfolgend) Westermann - Die Ausbildungsskala für Therapiepferde im Alltag mup 2|2015 | 55 DURCHLÄSSIGKEIT Pferd: Den Klienten zu sich vordringen zulassen - physisch als Toleranz / Akzeptanz der Unterschreitung des Individualabstandes - psychisch als Fähigkeit den Klienten zu spiegeln Offen sein - im Sinn von Kontaktfreudigkeit - im Sinn der Fähigkeit, auf den Klienten zu reagieren Geben und nehmen können - im Sinn von den Klienten zu tragen, mitzunehmen - Impulse an ihn weiterzugeben trotz möglicherweise vom Klienten ausgehenden Unannehmlichkeiten (im Verhalten, beim Sitz) Durchlässigkeit - im Sinn von Unannehmlichkeiten einfach durch sich durchfließen zu lassen Mensch: Sich durch Lässigkeit auszeichnen - im Sinn von unverkrampft sein Offen sein für unerwartete Entwicklungen im Verlauf der Therapiepferdeausbildung und der Therapieeinheit Unvoreingenommen auf unerwartete Verläufe reagieren - nicht sofort alles an vorgezeichnete Strukturen anpassen wollen • Voraussetzung: (Äußere) Einflüsse, Emotionen, zu sich vordringen lassen Geben und nehmen können - dem Pferd vertrauen und eine gewisse Eigenverantwortung ermöglichen - Freiraum und Halt geben und gleichzeitig Gehorsam einfordern GLEICHGEWICHT Pferd: Ausgeglichenheit - von Körper, Geist und Seele - von Bedürfnissen und Anforderungen - von Leistungsvermögen und Anforderungen - von geistiger und körperlicher Arbeit - von Arbeit und Erholung Mensch: Ausgeglichenheit - Verhältnismäßigkeit in der Aktion / Reaktion gegenüber dem Pferd und dem Klienten - von Arbeit und Regenerationsmöglichkeiten sicherstellen für Klient, Pferd und sich selber - von Einsatzbedingungen und Voraussetzungen des Pferdes Stabilität schaffen - geeignete Haltungsbedingungen (z. B. Haltungsform, Gruppenzusammenstellung) - geregelte Tages-, Arbeits- und Welfare-Abläufe - Halt geben SCHUBKRAFT Pferd: Kraft, sich zu motivieren Motivation, sich vorwärtszubewegen Bewegende Kraft - im Sinn von Impulsgeber für den Klienten Mensch: Mensch als Aktivator, Motivator TRAGKRAFT Pferd: Anforderungen erfüllen können Last durch die Klienten auch psychisch ertragen können Mensch: Das Pferd entsprechend seiner Aufgabe ausbilden Das Pferd und den Klienten während der Arbeit motivieren, führen und stützen Abb. 1 (fortfolgend) 56 | mup 2|2015 Westermann - Die Ausbildungsskala für Therapiepferde im Alltag Klient Interaktion Pferd Ausbilder Körperliche Handicaps: - Muskelasymmetrien - Muskeldystrophien - Lähmungen - Spastiken - fehlende/ verkürzte Gliedmaßen - neurologische Störungen => Veränderungen der Beweglichkeit => Störungen im Gleichgewicht => Veränderter Körperschwerpunkt => Veränderungen in der Körperspannung Verhaltensauffälligkeiten: - im Sozialverhalten - im Lernverhalten - im Ausdrucksverhalten (Emotionen, Bedürfnisse, etc.) => Veränderungen in der Körperspannung => unberechenbare Verhaltensausbrüche => der Situation unangemessenes Verhalten (Droh-, Aggressionsverhalten) Komplexe Störungen: - Autismus - ADHS - Zerebralparese - geistige Behinderungen - psychomotorische Störungen - psychiatrische Störungen Oberlinie und Muskulatur: - Beweglichkeit und Balance - Überblick und Emotionalität - Tragfähigkeit und Impulsübermittlung - Kontaktregion zwischen Mensch und Pferd Tastsinn: - Kommunikation - Frühwarnsystem Sehsinn: - Übersicht - Kommunikation - Emotionalität - Lernverhalten Psychische Handicaps: - Empfindungsstörungen - Stimmungsschwankungen - Disruptive Störungen => spontane Verhaltensänderungen => spontane Veränderungen im Gleichgewicht => spontane Veränderungen in der Körperspannung Innere Organe: - in Funktionalität von Emotionen beeinflusst - Funktionsveränderungen bereits vor Verhaltensänderungen - Zusammenhang zwischen Emotionalität und Lateralität bei der Objektbetrachtung - Wahrnehmung kleinster Bewegungen - Wahrnehmung des Menschen ist komplex Horizontale und vertikale Rückenbewegung  , wenn Schrittgeschwindigkeit  , da Schrittlänge und Schrittfrequenz  -> fehlende Bewegungsmöglichkeiten -> fehlende Möglichkeiten adäquater Reaktion -> widersprüchliche Einwirkung -> fehlender Gleichgewichtssitz -> permanente Störung des Bewegungsablaufes Über Kopfhaltung Einfluss auf Gleichgewicht, Gesichtsfeld und Emotionalität - Angst - erlernte Hilflosigkeit - Muskeltonus  und folglich Muskel- und Skelettschäden - Normalisierung der Beckenbewegung - Verbesserung des Gleichgewichtes - Verbesserung des Gangbildes - Verbesserung der Adduktorenmuskulatur - kurzzeitige Linderung der Spastiken der unteren Extremitäten - Normalisierung der Empfindung von Ärger - Akzeptanz von emotionaler und physischer Nähe Verbesserung der Reizbarkeit, Teilnahmebereitschaft, Ausdrucksvermögen, Handlungsplanung, Selbstregulation Verbesserung von Körperkontrolle, motorischen Fähigkeiten und Emotionsverhalten Verhalten - Kommunikation - Sozialverhalten - Komfortverhalten - Lernverhalten - aus Schlaf leicht zu wecken - Stress => Verdauungstätigkeit  - Verhalten noch normal, aber biolog. Stressparameter schon  - von visuellen Umweltstimuli beeinflusst - basiert auf positiven Verstärkern - Wechselwirkungen mit Temperament - Habituation an angstauslösende, visuelle Reize ist spezifisch - Vielzahl von Farben und Formen für die Objektverallgemeinerung nötig Training der Muskulatur ist Grundlage eines tragfähigen Rückens, belastbaren Halses und korrekten Übermittlung der Bewegungsimpulse Ausbildung ist Modulierung des Bewegungsablaufes und macht Pferd zum Reitpferd Streicheln => Herzfrequenz bei Mensch und Pferd sinkt Leistungsvermögen der Augen nimmt Einfluss auf Gestaltung der Trainingsumgebung und Trainingsdurchführung - Ranghöhe hat Einfluss auf die Intensität der Hilfengebung - Mensch-Pferd-Beziehung ist durch Dritte beeinflussbar und beinhaltet auch eine partnerschaftliche Komponente Lernen: - Mensch-Pferd-Beziehung und Nutzbarkeit der Trainingsumgebung beeinflussen Lernerfolg - Lernerfolg ist abhängig von Art der verwendeten Signale - Wechselwirkung zwischen Lernleistung und Aufgabenstellung - Desensibilisierung zum Angstabbau - Habituation ursächlich für Abstumpfen gegenüber Hilfengebung - Sensibilisierung notwendig für die Verfeinerung der Hilfengebung - Lernen von Dressuraufgaben bedarf des assoziativen Lernens und höherer kognitiver Fähigkeiten - Art des Lernens ist beeinflussbar durch: • Art der Verstärker (lernen) • Pausen (behalten) • soziale Isolation, Stress • falsche Führungsabläufe Qualifizierte Reiter können angemessener vorbereiten Vermehrte Reiterfahrung => Druck zwischen Gesäß und Pferd  , Verbesserung des gemeinsamen Körperschwerpunktes Grundlage einer guten Mensch-Pferd-Beziehung ist die Übereinstimmung von Persönlichkeit, Können, Alter, Interesse, Temperament Abb. 2: Die gegenseitige Beeinflussung von Klient, Pferd und Ausbilder im Überblick (Westermann 2013, 51) Westermann - Die Ausbildungsskala für Therapiepferde im Alltag mup 2|2015 | 57 Dr. med. vet. Katharina Westermann promovierte Veterinärmedizinerin, schrieb ihre Dissertation an der FU Berlin und Charité Universitätsmedizin Berlin über das Pferd in Pferdegestützten Interventionen, arbeitete 10 Jahre in einer Gemischtpraxis, ist zur Zeit für ein veterinärmedizinisches Labor tätig und Inhaberin der Agentur „Delphine des Nordens“. Anschrift: Dr. med. vet. Katharina Westermann Westladbergen 165 · D-48369 Saerbeck info@delphine-des-nordens.de Die Autorin Abschließend soll ein Überblick über die gegenseitige Beeinflussung von Klient, Pferd und Ausbilder (siehe Abb. 2) einen Eindruck von der Komplexität der Pferdegestützten Interventionen geben. Er soll Sie, liebe Leserinnen und Leser, dafür sensibilisieren, welches Erfolgspotenzial eine gute Therapiepferdeausbildung für die Wirksamkeit des Pferdes in der Gesundheitsförderung des Menschen bereitstellt. Literatur ■ Brückner, A., v. Korn, S., Pfirrmann, A. (2011): Untersuchungen zum Verhalten von Pferden auf dem Abreiteplatz. In: Gauly, M., König v. Borstel, U. (Hrsg.): Göttinger Pferdetage. FN, Warendorf 54-55 ■ Westermann, K. (2015): Die Ausbildungsskala für Therapiepferde. Eine neue Dimension der Partnerschaft von Mensch und Pferd. Mensch und Pferd international 7, 4-13, http: / / dx.doi. org/ 10.2378/ mup2015.art02d ■ Westermann, K. (2013): Pferdegestützte Interventionen (PGI) zur Gesundheitsförderung des Menschen - Einsatzvoraussetzungen, Anforderungen, Belastungsmomente, Ausbildung und Leistungsprüfung des Pferdes. Mensch und Buch, Berlin