eJournals mensch & pferd international 7/3

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mup2015.art16d
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Pferdegestützte Intervention bei Kindern mit ADHS

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Erwin Breitenbach
Annette Gomolla
Dörthe Machul
Alice Rathgeber
Die Online-Befragung von 92 pferdegestützt arbeitenden Therapeuten ging der Frage nach, inwieweit bei der Behandlung von Kindern mit ADHS spezifische Strate­gien eingesetzt werden und wie die Befragten den Behandlungserfolg einschätzen und erklären. Die Therapie wird vorzugsweise als Einzeltherapie (96 %) bei Kindern im Grundschulalter im Umfang von 20 Stunden durchgeführt. Eine spezifische Eingangs-, Verlaufs- und Enddiagnostik ist fast immer vorhanden (70 % Verhaltensbeobachtung). Neben dem geführten Reiten (54 %) werden strukturierende Handlungsabläufe rund um die Pflege und Versorgung des Pferdes (68 %) einbezogen. Das Therapiekonzept lässt sich durch Kategorien wie Pferd als Motivator (94 %), Bewegungsreize aktivieren das Gehirn (87 %), vom äußeren zum inneren Halt (79 %) und pädagogische Ermutigung der Eltern (80 %) kennzeichnen.
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96 | mup 3|2015|96-108|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2015.art16d Erwin Breitenbach, Annette Gomolla, Dörthe Machul, Alice Rathgeber Schlüsselbegriffe: Tiergestützte Therapie, Pferdegestützte Therapie, Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS), animal assisted therapy, horse assisted therapy, attention deficit disorder (ADD) Die Online-Befragung von 92 pferdegestützt arbeitenden Therapeuten ging der Frage nach, inwieweit bei der Behandlung von Kindern mit ADHS spezifische Strategien eingesetzt werden und wie die Befragten den Behandlungserfolg einschätzen und erklären. Die Therapie wird vorzugsweise als Einzeltherapie (96 %) bei Kindern im Grundschulalter im Umfang von 20 Stunden durchgeführt. Eine spezifische Eingangs-, Verlaufs- und Enddiagnostik ist fast immer vorhanden (70 % Verhaltensbeobachtung). Neben dem geführten Reiten (54 %) werden strukturierende Handlungsabläufe rund um die Pflege und Versorgung des Pferdes (68 %) einbezogen. Das Therapiekonzept lässt sich durch Kategorien wie Pferd als Motivator (94 %), Bewegungsreize aktivieren das Gehirn (87 %), vom äußeren zum inneren Halt (79 %) und pädagogische Ermutigung der Eltern (80 %) kennzeichnen. Erste Überlegungen zu einem Therapiekonzept und zu möglichen Wirkfaktoren Pferdegestützte Intervention bei Kindern mit ADHS Breitenbach, Gomolla, Machul, Rathgeber - Pferdegestützte Intervention bei Kindern mit ADHS mup 3|2015 | 97 Pferdegestützte Interventionen werden in Deutschland seit etwa vier Jahrzehnten in verschiedenen pädagogischen und therapeutischen Kontexten durchgeführt. In einer Meta-Analyse zum Einfluss Pferdegestützter Therapie, in die 19 Wirksamkeitsstudien einbezogen wurden, gelangten Winkler und Beelmann (2013) zu dem Schluss, dass insbesondere Kinder und Jugendliche mit emotionalen Problemen und Verhaltensstörungen von der Intervention mit Pferden profitieren. Weitere Evaluationsstudien zeigten Therapieerfolge bei autistischen Kindern (Bass u. a. 2009; Gultom- Happe u. a. 2006) oder bei neurologisch erkrankten erwachsenen Patienten (Schmidt/ Gomolla 2012) sowie auch eine Reduktion psychiatrischer und geriatrischer Symptome (Scheidhacker u. a. 1991; Dabelko-Schoeny u. a. 2014). Als besonders geeignete Klientel für Pferdegestützte Interventionen werden Kinder mit ADHS-Diagnose diskutiert, was auch durch eine Reihe empirischer Studien gestützt wird (z. B. Hamsen 2003; Riedel 2005; Hosser 2012). Interventionen bei Kindern mit ADHS Kinder mit ADHS unterscheiden sich definitionsgemäß von unauffälligen Kindern durch ■ einen Mangel an Ausdauer bei Beschäftigungen, die kognitiven Einsatz verlangen (Aufmerksamkeitsstörung), ■ die Tendenz, von einer Tätigkeit zu einer anderen zu wechseln, ohne etwas zu Ende zu bringen (Impulsivität) und ■ desorganisierte, mangelhaft regulierte und überschießende Aktivität (Hyperaktivität). Weiterhin sind Kinder mit ADHS oft achtlos, neigen zu Unfällen und werden oft bestraft, weil sie häufig Regeln verletzen. Ihre Beziehung zu Erwachsenen ist nicht selten von einer Distanzstörung und einem Mangel an normaler Vorsicht und Zurückhaltung geprägt. Bei anderen Kindern sind sie häufig eher unbeliebt und können sozial isoliert sein. Beeinträchtigungen kognitiver Funktionen, spezifische Verzögerungen der motorischen und sprachlichen Entwicklung kommen überproportional vor. Sekundäre Komplikationen sind dissoziales Verhalten und niedriges Selbstwertgefühl. ADHS geht in vielen Fällen einher mit den Diagnosen „oppositionelles Trotzverhalten“ oder „Störung des Sozialverhaltens“ sowie mit depressiven und Angstsymptomatiken (Chronis- Tuscano u. a. 2010; Schat/ Rostain 2012). Unter Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse von Kindern mit ADHS, welche sich aus dem berichteten Störungsbild und den beschriebenen Auffälligkeiten im Erleben und Verhalten ergeben, lassen sich in einem multimodalen Interventionsansatz folgende übergreifende Behandlungsstrategien benennen: ■ möglichst frühzeitige Intervention ■ Einbeziehung von Eltern und Lehrkräften ■ systematische Verstärkung des Zielverhaltens ■ gut strukturierte und geregelte Lern- und Lebenssituationen ■ Training kognitiver Strategien zur Problembewältigung ■ Aktivierung exekutiver Funktionen wie Aufmerksamkeitssteuerung, Verhaltensinhibition und Verhaltensplanung (Döpfner u. a. 2013; Gawrilow 2012; Jensen u. a. 2007). Aus neuropsychologischer Perspektive ist bei Kindern mit Aufmerksamkeitsdefiziten, so Breitenbach (2014), das allgemeine tonische Aktivierungsniveau konstant zu niedrig und demzufolge der Fokus des Bewusstseins zu weit und die Wahrnehmungsselektion sowie die Auswahl der Verhaltensprogramme zu wenig zielgerichtet. Die eher zufällig aufgenommenen Reize und Informationen werden alle als gleich wichtig interpretiert und jeder dieser Reize ist deshalb in der Lage, ein neues Verhaltensprogramm zu aktivieren oder ein bereits laufendes zu beenden. Daraus resul- 98 | mup 3|2015 Breitenbach, Gomolla, Machul, Rathgeber - Pferdegestützte Intervention bei Kindern mit ADHS tiert das von vielen Kindern mit ADHS bekannte „Verhaltenschaos“. Zur Steuerung der Aufmerksamkeit müssen umfangreiche und komplexe Kreisstrukturen von Hirnarealen integriert werden, in deren Zentrum das aufsteigende retikuläre System steht. Reize aus dem eigenen Körper, Bewegungsreize und speziell Gleichgewichtsreize aktivieren dieses System auf direktem Weg und bewirken über eine Anhebung des allgemeinen tonischen Aktivierungsniveaus im Zentralnervensystem (ZNS) eine Verbesserung der unwillkürlichen Fokussierung der Aufmerksamkeit. Stark vereinfachend lässt sich sagen, dass Bewegungsreize Weckreize sind, die aufmerksamkeitssteuernde Funktionen fördern und Kindern mit Aufmerksamkeitsdefiziten eine situationsangemessene Auswahl von Verhaltensoberprogrammen erleichtern (Bear u. a. 2009; Graichen 1988; Lurija 1992). Pferdegestützte Interventionen Eine wichtige Bedingung für den Einsatz von Pferden in pädagogischen und therapeutischen Settings ist der Umstand, dass dem Menschen eine natürliche Affinität zu jedem Lebewesen eigen ist, welche eine interessierte Hinwendung zum Tier, hier insbesondere zum Pferd, bewirkt (Wilson 1984). Auf dieser Grundlage kann die nonverbale Kommunikation von Pferden, welche im Rahmen ihres Bedürfnisses nach Sozialkontakt und sozialer Rangordnung stattfindet, für pädagogische und therapeutische Zwecke genutzt werden. Weitere Voraussetzung für den Einsatz von Pferden in therapeutischen Settings ist zudem, dass Pferde über eine hohe Arbeitswilligkeit und über lange Konzentrationsphasen verfügen, welche durch besondere reiterliche Ausbildung zusätzlich gesteigert werden können (Zink 2011). Wirkfaktoren Pferdegestützter Interventionen werden aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und beschrieben. Laut Gomolla u. a. (2011a, b, c) sind folgende spezifische Wirkfaktoren Pferdegestützter Therapie anzunehmen: a) Das Pferd geht bei fachgerechtem Umgang, wie nur wenige andere Tiere, eine intensive und angstfreie Beziehung zum Menschen ein. Als Medium im therapeutischen Prozess erweitert das Pferd die Dyade zwischen Therapeut und Klient zu einer triadischen Interaktion bzw. Beziehung. Die Erweiterung der therapeutischen Beziehung kann als „Mehrwert“ im Vergleich zu herkömmlichen Therapieformen betrachtet werden. b) Als Reittier ermöglicht das Pferd dem Menschen, auf seinem Rücken zu sitzen, sich von ihm tragen zu lassen und dieses „Bewegtwerden“ zu erleben. Die unterschiedlichen Gangarten des Pferdes wirken sich unterschiedlich auf Körper und Psyche des Reiters aus. Während die Bewegungsimpulse der Schrittbewegung vom Reiter überwiegend als entspannend und lockernd erlebt werden, stellt die Trabbewegung als aktivierende Gangart höhere Anforderungen an das propriozeptive System und den Gleichgewichtssinn. So kann das Reiten in den verschiedenen Gangarten auch als Basale Stimulation für die nahen Körpersinne wirken. Beim passiven Sitzen auf dem Pferd kann der Mensch die Verantwortung an den Führenden abgeben, sich tragen und schaukeln lassen und sich auf sein eigenes Erleben konzentrieren, sodass hier Aspekte der Regression angenommen bzw. therapeutisch genutzt werden können. Beim aktiven Reiten ist die Konzentration hingegen stärker auf die Koordination von Armen, Beinen und Rumpf sowie die Hilfengebung zu richten, um das Pferd lenken und steuern zu können, woraus sich zusätzliche Fördermöglichkeiten ergeben. c) Rund um das Pferd entsteht ein natürlicher Handlungsraum. Um das Pferd zu versorgen, zu füttern und für das Reiten vorzubereiten, sind Bewegungsreize sind Weckreize, die aufmerksamkeitssteuernde Funktionen fördern. Breitenbach, Gomolla, Machul, Rathgeber - Pferdegestützte Intervention bei Kindern mit ADHS mup 3|2015 | 99 Handlungen wie Putzen und Satteln in einer bestimmten, sinnvollen Reihenfolge durchzuführen. d) Das Pferd benötigt als Teil der Natur bestimmte Bedingungen, um physisch und psychisch gesund zu bleiben. Daher hält sich der Mensch ganz selbstverständlich gemeinsam mit dem Pferd in der Natur (in der Regel in ländlicher Umgebung) und damit außerhalb städtischen Trubels auf. Bereits ein solcher Aufenthalt in der Natur kann als positiv wirksamer Faktor betrachtet werden (Barton u. a. 2011; Hallberg 2008). e) Menschen fühlen sich durch Pferde emotional angesprochen; offenbar lösen Pferde beim Menschen starke Erlebnisinhalte aus. Bei vielen steht die Freude beim Anblick von Pferden im Vordergrund; andere verspüren jedoch auch Furcht vor diesem großen Tier. Im therapeutischen Setting werden positive emotionale Erlebnisse in den Vordergrund gerückt, um ein förderliches Lernklima mit Freude, Wachheit und konzentrierter Ruhe zu schaffen. f) Zentraler Aspekt jeglicher Therapie ist die Motivation des Klienten. In nahezu allen Studien zur Pferdegestützten Therapie wird eine hohe Teilnahmemotivation beschrieben, sogar bei Menschen mit sogenannter „Therapiemüdigkeit“ oder bei solchen, die ein Mitwirken an anderen therapeutischen Interventionen strikt verweigern (Burgon 2003; Mündemann 2014). g) Pferden wird eine Art Spiegelfunktion zugeschrieben. Dies bedeutet, dass sie menschliche Gefühlszustände „lesen“ können und darauf mit ebensolchen Verhaltensweisen reagieren. So wird ein Pferd bei einer sehr unruhigen Person ebenfalls eher unruhig und schreckhaft, bei einer aggressiven auch unwirsch und aggressiv, bei einer ruhigen, ausgeglichenen Person hingegen entspannt reagieren. Einen klaren wissenschaftlichen Beleg gibt es für diese Ansicht bislang nicht, doch zeigen Erfahrungen aus der Praxis, dass Pferde stark auf die Körperhaltung und daran ablesbare An- und Entspannungszeichen reagieren. In der Pferdegestützten Therapie wird diese Spiegelfunktion durch den Therapeuten als eine Art Bio-Feedback genutzt. Der Therapeut erklärt dem Klienten die Verhaltensweise des Pferdes und versucht, gemeinsam mit dem Klienten herauszufinden, inwieweit das natürliche Verhalten des Pferdes mit der psychischen oder körperlichen Verfassung des Klienten zusammenhängen kann. Im weiteren Schritt lernt der Klient, das Pferd durch eigene Verhaltensänderung und / oder Regulierung innerer Zustände zu beeinflussen. Pferdegestützte Interventionen bei Kindern mit ADHS Pferdegestützte Förderangebote für Kinder mit Auffälligkeiten im Bereich von Aufmerksamkeit und Aktivität bzw. mit ADHS- Diagnose sind mit einer Vielzahl von - meist einzelfallbezogenen - Erfolgsberichten verknüpft; oft wird die beruhigende Wirkung (Reduktion der Hyperaktivität) hervorgehoben. Diesen Berichten liegen verschiedene Alltagsbeobachtungen und oft umfangreiche Praxiserfahrungen in der pädagogisch-therapeutischen Arbeit mit Pferden und Kindern zugrunde, welche vor dem Hintergrund theoretischer Konzepte tiergestützter Therapie gut nachvollziehbar sind, jedoch nur selten systematisch evaluiert wurden. Der bisherige Erkenntnis- und Forschungsstand zu diesem Thema wird in wenigen Übersichtsartikeln zusammengefasst; hinsichtlich der genannten Zielgruppe ist insbesondere auf die Arbeiten von Hamsen (2003), Riedel (2005) und Hosser (2012) zu verweisen. Hamsen und Riedel untersuchten das Heilpädagogische Voltigieren als besondere Form bewegungsorientierter Förderung, während Hosser eine Kombination aus Menschen fühlen sich durch Pferde emotional angesprochen. 100 | mup 3|2015 Breitenbach, Gomolla, Machul, Rathgeber - Pferdegestützte Intervention bei Kindern mit ADHS Eine deutlich höhere Therapiemotivation und geringere Abbruchrate für die Reittherapie wurden berichtet. Voltigieren, Reiten und verschiedenen Gruppenübungen betrachtete. Hamsen (2003) prüfte im Rahmen qualitativ-quantitativer Einzelfallstudien in einem Prä-Post-Design insgesamt neun Hypothesen, welche sich auf drei verschiedene Zielkriterien (Aufmerksamkeitsverhalten, Bewegungsverhalten, motorische Leistungen) und vier verschiedene Zeitpunkte bzw. Situationen (Labor- und Interventionssituation, häusliche und schulische Situation) bezogen. Die Autorin betrachtete demnach insbesondere Interventionseffekte auf störungsspezifische Zielkriterien wie Aufmerksamkeits- und Bewegungsverhalten und deren zeitlich-situativen Transfer. Die Veränderungen im Aufmerksamkeitsverhalten ließen sich für mehrere Situationen belegen; die Veränderungen im störungsspezifischen Bewegungsverhalten konnten hingegen in weiteren Situationen nicht beobachtet werden. Zudem blieb die Frage offen, inwieweit die beobachteten Effekte unmittelbar auf die Pferdegestützte Intervention zurückgeführt werden können. Die Autorin diskutierte diesbezüglich auch den Einfluss individueller Probandenmerkmale (wie Symptomschwerpunkt Aufmerksamkeit oder Aktivität). Riedel (2005) führte eine quantitativ ausgerichtete Gruppenstudie ebenfalls im Prä-Post- Design mit einer Experimentalgruppe (N = 18) und drei unterschiedlichen Kontrollgruppen (N = 140) durch. Eine Kontrollgruppe setzt sich aus zwölf Kindern mit ADHS-Diagnose zusammen, eine weitere aus 113 Kindern ohne ADHS-Diagnose und die dritte aus 15 Kindern ebenfalls ohne ADHS-Diagnose. Da die Studie von Riedel (2005) aus sportmedizinischer Perspektive verfasst wurde, richtete sich der Fokus der Intervention mit ihren Zielkriterien vornehmlich auf Aspekte der motorischen Leistungsfähigkeit bzw. auf die Entwicklung von Koordination und Ausdauer. In beiden Studien wurden erwartungskonform positive Effekte hinsichtlich der motorischen Leistungsfähigkeit festgestellt. Diese beziehen sich - ebenfalls erwartungskonform - eher auf grobmotorische als auf feinmotorische Aspekte. An der von Hosser (2012) durchgeführten Evaluationsstudie nahmen insgesamt 40 Kinder mit der Diagnose ADHS oder Störung des Sozialverhaltens teil. Die Teilnehmer wurden hälftig in eine Reittherapiegruppe (EG) und eine erlebnispädagogisch-soziale Trainingsgruppe (KG) aufgeteilt und erhielten ihre Gruppenangebote jeweils wöchentlich über einen Zeitraum von 40 Wochen. Die nach der Hälfte des Interventionszeitraums festgestellte deutliche Reduktion der ADHS-Symptomatik blieb bis zum Ende der Studie bestehen; eine Generalisierung positiver Verhaltenseffekte auf den schulischen oder familiären Kontext wurde erwartungswidrig jedoch nicht festgestellt. Die Wirksamkeit der durchgeführten Reittherapie (EG) fiel ähnlich aus wie die des sozialen Trainingsprogramms (KG), allerdings wurden auch hier wieder eine deutlich höhere Therapiemotivation und geringere Abbruchrate für die Reittherapie berichtet. Keine Effekte wurden in den Bereichen Selbstwert, Empathiefähigkeit und Selbstkontrolle festgestellt. Hosser (2012) betont die Relevanz einer aktiven Einbeziehung der Eltern in die Reittherapie, um diese zu einer stärker ressourcenorientierten Betrachtung ihrer Kinder sowohl während der Therapie als auch in Alltagssituationen zu befähigen. Fragestellung Die vorliegende Studie beinhaltete folgende vier Fragestellungen: ■ Inwieweit setzen Therapeutinnen und Therapeuten bei ihren Pferdegestützten Interventionen bei Kindern mit ADHS spezifische Handlungskonzepte und Handlungsstrategien ein? ■ In welchem therapeutischen Setting findet die Pferdegestützte Intervention statt? Breitenbach, Gomolla, Machul, Rathgeber - Pferdegestützte Intervention bei Kindern mit ADHS mup 3|2015 | 101 Tab. 1: Berufliche Qualifikation (Angaben in Prozent, Mehrfachnennungen) Grundausbildung Pädagogik, Sonderpädagogik und Sozialpädagogik (Hochschulabschluss) 49 Pädagogik, Heilpädagogik (Fachakademieabschluss) 25 Ergotherapie 12 Physiotherapie 2 Psychologie 2 Sonstige 27 Zusatzqualifikationen Reittherapeut 54 Reitpädagoge 42 Fachkraft in der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd 10 Fachkraft in der Pferdegestützten Therapie 2 Fachkraft in der Ergotherapeutischen Behandlung mit dem Pferd 2 Sonstiges 22 ■ Wie schätzen Therapeutinnen und Therapeuten den Erfolg ihrer Pferdegestützten Interventionen bei Kindern mit ADHS ein? ■ Auf welche Wirkfaktoren führen die befragten Therapeutinnen und Therapeuten den Therapieerfolg zurück? Methode Die Befragung pferdegestützt arbeitender Therapeutinnen und Therapeuten wurde vor allem aus ökonomischen und organisatorischen Gründen nicht postalisch, sondern als Online-Befragung durchgeführt. Die Zielgruppe war über bestehende Adressenlisten leicht erreichbar, konnte den Fragebogen direkt am PC bearbeiten und hatte keinen Aufwand für die Rücksendung. Der Link zum Online-Fragebogen „Pferdegestützte Therapie und ADHS“ wurde über das „Institut für Pferdegestützte Therapie“ (IPTh Konstanz) an 551 im IPTh ausgebildete Fachkräfte versandt. Weitere zehn Reitpädagogen und -therapeuten, von denen bekannt war, dass sie über einschlägige Therapieerfahrungen verfügen, wurden direkt angeschrieben und zur Teilnahme an der Befragung eingeladen. Zusätzlich wurde der Link zum Fragebogen auch auf der Facebook- Seite des IPThs angegeben und dort schätzungsweise 400 Personen angezeigt. Der Fragebogen war auch auf dem Blog des IPTh verlinkt; zudem wurde im Newsletter des IPTh auf den Online- Fragebogen hingewiesen. Fragebogen Die insgesamt 16 Fragen bezogen sich auf: berufliche Qualifikation der Befragten, Anzahl und Alter der geförderten Kinder, Diagnostik bzw. Befundung, Anzahl der individuellen Fördereinheiten, Vorgehen, Ziele, Effektivität, Wirkfaktoren sowie interdisziplinäre Kooperation. Alle Fragen waren ausschließlich in Bezug auf die genannte Zielgruppe (Kinder mit ADHS- Diagnose) zu beantworten. Die vorgegebenen, überwiegend geschlossenen und halboffenen nominal- und ordinalskalierten Antwortformate waren durch Einfach- oder Mehrfachnennungen zu beantworten. Der fünfseitige Fragebogen zur Online-Befragung ist kostenlos abzurufen im Archiv von Mup 3 / 2015 unter: http: / / www.reinhardt-journals.de/ index.php/ mup/ issue/ archive Stichprobe An der Befragung nahmen insgesamt 92 Personen teil. 39 Fragebögen (42 %) wurden vollständig, 53 Fragebögen (58 %) nur unvollständig beantwortet. 173-mal wurde der Fragebogen ohne Beantwortung aufgerufen. Nahezu alle befragten Fachkräfte sind in Deutschland tätig. Die meisten Befragten (47 %) verfügen über eine spezifische pädagogische oder heilpädagogische Grundausbildung. In der Gruppe der Sonstigen, die mit 22 Prozent beachtlich groß ist, werden Berufsgruppen wie Sport- und Gymnastiklehrer, medizinische Fachangestellte und 102 | mup 3|2015 Breitenbach, Gomolla, Machul, Rathgeber - Pferdegestützte Intervention bei Kindern mit ADHS Tab. 2: Einsatz diagnostischer Verfahren: ED = Eingangsdiagnostik, VD = Verlaufsdiagnostik, AD = Abschlussdiagnostik (Angaben in Prozent, Mehrfachnennungen) Eingesetztes Verfahren ED VD AD Dokumentations- und Beobachtungsbogen für reittherapeutische und -pädagogische Interventionen, DORI-K 36 37 37 Dortmunder Inventar motorischer Basiskompetenzen mit dem Pferd, DimP 2 2 2 Verhaltensbeobachtung 75 72 79 Fragebogen für Lehrkräfte und Erzieher 32 - 33 Fragebogen für Eltern 55 - 51 Vorhandene diagnostische Befunde und Berichte 73 - - Anamnese 55 - - Stundenprotokoll - 77 - Therapietagebuch - 40 - Keine 0 2 7 Krankenschwestern oder auch Ärzte genannt. Alle Befragten gaben eine reittherapeutische Zusatzqualifikation an, welche bei etwa 22 Prozent durch weitere Zusatzqualifikationen (wie ADHS- Trainer, Sensorische Integrationstherapeuten oder Fachkraft für Tiergestützte Therapie und Förderung) ergänzt wurde. Ergebnisse Rahmenbedingungen und Diagnostik Etwas mehr als die Hälfte der Befragten (54 %) gab an, im letzten Jahr zwischen ein und zehn Kinder mit ADHS / Konzentrationsproblemen im Alter von sechs bis zwölf Jahren gefördert zu haben. 19 Prozent der Kinder waren jünger und 27 Prozent älter, sodass ein klarer Behandlungsschwerpunkt für das Grundschulalter erkennbar wird. Nur gut ein Drittel der Befragten setzt ein für Pferdegestützte Interventionen spezifisches Instrument (DORI-K, Gomolla 2011d) zur Eingangs-, Verlaufs- und Abschlussdiagnostik ein. Die Mehrheit (über 70 %) nutzt hierfür die Verhaltensbeobachtung; ein beachtlicher Anteil der Befragten führt die Eingangs- und Abschlussdiagnostik mit Hilfe von Fragebögen durch und über 70 % der Befragten stützen sich bei der Eingangsdiagnostik auf bereits vorliegende Berichte und Befunde. Der Verlauf einer Therapie wird von 40 % der Befragten mittels Therapietagebuch und von 77 % mittels Stundenprotokoll dokumentiert. 53 % der befragten Therapeuten berichten über eine durchschnittliche Behandlungsdauer von 20 Therapiestunden. Eine geringere durchschnittliche Therapiedauer teilten nur 18 % mit und eine höhere nur 25 %. Auf Grundlage dieses Befragungsergebnisses ist davon auszugehen, dass eine Therapie in der Regel etwa 20 Stunden umfasst. Interventionsziele und -strategien Hinsichtlich der erfragten Behandlungsziele zeigt sich eine große Übereinstimmung. Alle Befragten nennen hier die Steigerung der Selbstwahrnehmung, die Stärkung des Selbstvertrauens und die Förderung der Beziehungsfähigkeit sowie die Verbesserung der Konzentrationsfähigkeit, der Breitenbach, Gomolla, Machul, Rathgeber - Pferdegestützte Intervention bei Kindern mit ADHS mup 3|2015 | 103 Tab. 3: Strategien und Vorgehensweisen bei der Behandlung (Angaben in Prozent, Mehrfachnennungen) Während der Förderung … Zustimmung nutze ich verstärkt die Arbeitsabläufe rund um das Pferd (z. B. misten, fegen) 68 nutze ich die Trainingsinhalte aus ADHS- Manualen (z. B. Stopp-Symbole, Strukturierungshilfen) 47 achte ich auf einen Wechsel zwischen aktiven und ruhigen Phasen 100 liegt ein Schwerpunkt auf Motorik- und Wahrnehmungsübungen auf und am Pferd 93 verwende ich sofortige Belohnung bei erwünschtem Verhalten 78 achte ich auf eine immer gleichbleibende Ablaufstruktur 90 achte ich auf eine Förderung in reizarmer Umgebung (z. B. Reithalle) 66 bespreche ich mit dem Kind den Verlauf der Förderstunde 81 liegt der Schwerpunkt auf dem geführten Reiten 54 findet eine intensive Beratung der Eltern statt 80 achte ich auf klare Regeln 100 liegt der Fokus auf einer Gruppenförderung 51 liegt der Fokus auf der Einzelförderung 96 Impuls- und Selbstkontrolle und der Aufmerksamkeit. 86 Prozent der Befragten versuchen auch, die motorische Hyperaktivität der Kinder sowie vorhandene Ängste zu reduzieren und die Kommunikationsfähigkeit zu fördern. Etwa drei Viertel der Befragten nutzen die Arbeitsabläufe rund um das Pferd (z. B. das Misten, Aufzäumen und Fegen) zur Gestaltung der Therapie, achten auf eine klare Rhythmisierung und Strukturierung der Therapiestunden, legen großen Wert auf das Einhalten von Regeln und das Beachten vorgegebener Grenzen und belohnen sofort und konsequent gewünschtes Verhalten. Bevorzugt wird eindeutig die Einzelvor der Gruppentherapie, begleitet von einer intensiven Beratung der Eltern. Vergleichsweise seltener nutzen dieTherapeuten eine reizarme Umgebung bei der Therapie oder greifen auf Methoden zurück, welche auch häufig in Aufmerksamkeitstrainings eingesetzt werden (z. B. Stopp-Karten oder zusätzliche visuelle Strukturierungshilfen). Wirksamkeit und Wirkfaktoren Nicht überraschend ist, dass fast alle Befragten (97 %) die Pferdegestützte Therapie bei Kindern mit ADHS-Diagnose als besonders wirksam erleben und einschätzen. Über 90 % registrieren als Therapieeffekte erhöhte emotionale Steuerung, zunehmendes Selbstwertgefühl, gesteigerte Selbstwahrnehmung, wachsendes Selbstvertrauen, verbessertes Sozial- und Kommunikationsverhalten. Ebenso fallen deutliche Verbesserungen der Kontaktaufnahme, Aufmerksamkeit und Impulskontrolle auf. Eine Abnahme des hyperaktiven Verhaltens können nur 78 % der Befragten bestätigen. Zentraler und bedeutsamster Wirkfaktor für fast alle Befragten sind das Pferd und seine Besonderheiten: die motorischen und sensorischen Erfahrungen, die mit dem Reiten und dem Körperkontakt verbunden sind; die hohe Motivation, die vom Pferd ausgeht; das Pferd als nichtwertender Interaktionspartner. Als Ursache für die erzielten Effekte werden etwas seltener pädagogischpsychologische Faktoren wie Verhaltenssteuerung von außen, Einsatz von Belohnung oder feste Ablaufstrukturen während der Fördereinheiten benannt. Zusammenfassende Diskussion Bei einer Befragung von beruflich mit Pferden arbeitenden Fachkräften ist davon auszugehen, dass Therapieeffekte nicht nach streng wissenschaftlichobjektiven Kriterien evaluiert, sondern eher hinsichtlich einer positiven Gesamtentwicklung (im Sinne der gesetzten Therapieziele) beschrieben 104 | mup 3|2015 Breitenbach, Gomolla, Machul, Rathgeber - Pferdegestützte Intervention bei Kindern mit ADHS werden. Eine Objektivierung der Effekte „von außen“ durch unabhängige Dritte konnte in dieser Studie nicht vorgenommen werden. Auch sind die Angaben zu den Wirkfaktoren schulengeleitet bzw. durch die theoretische Sichtweise der Therapeuten gelenkt und inhaltlich durch das vorgegebene Antwortformat begrenzt. Auf diese Weise kann zwar eine Hervorhebung einzelner, bekannter Aspekte gelingen; Hypothesen zu neuen, bislang nicht diskutierten Wirkfaktoren können so jedoch nicht generiert werden (hierfür wären offene Interviews mit allen Beteiligten und ggf. außenstehenden Beobachtern nötig). Der Online-Fragebogen wurde von insgesamt 265 Personen geöffnet, aber nur von 92 Personen bearbeitet. Die geringe Rücklaufquote (35 %) führt zur Frage nach einer systematischen Teilnehmerauswahl und einer eingeschränkten Repräsentativität der Umfrageergebnisse. Möglicherweise ist der geringe Rücklauf auf den Umstand zurückzuführen, dass viele der angeschriebenen Fachkräfte nicht mit der relevanten Klientel (Kinder mit ADHS-Diagnose) arbeiten. Hinzu kommt, dass der Kontakt zu den Befragten über ein bestimmtes Ausbildungsinstitut hergestellt wurde und somit vorwiegend Absolventen dieses Instituts angesprochen wurden, die möglicherweise eine spezifische Ausbildung auch bezüglich der Zielgruppe erhalten haben. Über institutseigene spezifische Leitlinien zur Pferdegestützten ADHS- Therapie liegen jedoch keine Informationen vor. Die Fragen nach Objektivität und Repräsentativität können hier nicht abschließend geklärt werden, zumal die Güte des verwendeten Fragebogens nicht explizit geprüft wurde; ihnen kommt jedoch angesichts des Befragungsziels (eine erste Vorstellung von den in der Praxis verwendeten Therapiekonzepten für Kinder mit ADHS-Diagnose zu erhalten) eine eher nachrangige Bedeutung zu; daher können die erläuterten Einschränkungen in Kauf genommen werden. Auf der Grundlage der Befragungsergebnisse ergibt sich ein Therapiekonzept, das gut mit den in der Fachliteratur zur Pferdegestützten Intervention gefundenen Strategien und Wirkfaktoren sowie mit den therapeutischen Konzepten und Annahmen zur Therapie von Kindern mit ADHS- Diagnose übereinstimmt. Der aus den Ergebnissen extrahierte organisatorische Rahmen, das Therapiesetting, lässt sich zusammenfassend folgendermaßen beschreiben: Die Therapie wird als Einzeltherapie vorzugsweise bei Kindern im Grundschulalter durchgeführt und besitzt einen Umfang von etwa 20 Stunden. Zur Eingangs-, Verlaufs- und Abschlussdiagnostik stehen sowohl für Pferdegestützte Interventionen spezifische Instrumente (z. B. DORI-K) als auch allgemeine Methoden und Verfahren (wie Verhaltensbeobachtung, Anamnese, Fragebögen, Therapieverlaufsprotokolle und die Analyse vorliegender Berichte und Befunde) zur Verfügung. Tab. 4: Wirkfaktoren (Angaben in Prozent, Mehrfachnennungen) Das spezifisch Wirksame an der Pferdegestützten Therapie ist/ sind … Zustimmung der Bewegungsdialog 95 die Verhaltenssteuerung von außen 54 der Einsatz von Belohnung 61 die nonverbale Kommunikation mit dem Pferd 95 die feste Ablaufstruktur der Fördereinheiten 79 das Pferd als Motivator 94 das Pferd als Interaktionspartner 100 die neuromuskuläre Stimulation 87 die dreidimensionale Bewegung beim Gang des Pferdes 87 die positiven Erlebnisse mit dem Pferd 100 die Wertneutralität des Pferdes 95 der Körperkontakt zum Pferd 100 die Mensch-Tier-Beziehung 100 die Wahrnehmungsübungen 95 die motorischen Erfahrungen 95 die sensorischen Erfahrungen 97 Breitenbach, Gomolla, Machul, Rathgeber - Pferdegestützte Intervention bei Kindern mit ADHS mup 3|2015 | 105 In das therapeutische Geschehen wird neben dem geführten Reiten auch eine Reihe strukturierter Handlungsabläufe rund um die Pflege und Versorgung des Pferdes einbezogen. Das therapeutische Konzept, das in den Aussagen der Befragten zum Ausdruck kommt, könnte in einer ersten Annäherung mit folgenden Oberkategorien gekennzeichnet werden, die in weiteren wissenschaftlichen Untersuchungen abgesichert werden sollten: Pferd als Motivator Bereits in der Biophilie-Hypothese wird von einer besonderen Beziehung des Menschen zu allem Belebten in der Welt ausgegangen (Wilson 1984). Auch eine Reihe von Überblicksarbeiten zur Tier- Mensch-Beziehung betont eine hohe Affinität des Menschen, vor allem von Kindern, zu Tieren. Tiere besitzen einen hohen Aufforderungscharakter und motivieren zur Interaktion, zur aktiven Auseinandersetzung mit ihnen (Berger / Wald 1999; Havel 1996). Dies deckt sich mit der hohen Teilnahmemotivation, die Burgon (2003) und Mündemann (2014) bei Pferdegestützten Interventionen gefunden haben. Bewegungsreize aktivieren das Gehirn Neuropsychologische Erkenntnisse zum Bedingungshintergrund von ADHS weisen darauf hin, dass Bewegungsreize Weckreize sind. Die intensiven und andauernden Gleichgewichtsreize beim Reiten verbessern somit über die Aktivierung des aufsteigenden retikulären Systems die Aufmerksamkeits- und Verhaltenssteuerung von Kindern mit ADHS, sodass deren Verhalten dann ruhiger und geordneter erscheint. Vom äußeren zum inneren Halt Interaktionen mit dem Pferd gelingen nur, wenn vom Interaktionspartner Mensch gut strukturierte und wohl geordnete Handlungsabläufe eingehalten werden. Nur wer im Umgang mit dem Pferd konsequent ganz bestimmte Verhaltensregeln beachtet und akzeptiert, kann ein Pferd füttern, streicheln, aufzäumen, führen und letztlich auch auf ihm reiten. Das Pferd fordert zwangsläufig gleichbleibende Handlungsstrukturen und Handlungsabläufe, welche Kindern mit ADHS-Diagnose Halt, Orientierung und Sicherheit geben. Therapeuten / -innen zeigen diese Struktur und Ordnung im Umgang mit dem Pferd über ihr eigenes Verhalten, verdeutlichen dies durch das Verbalisieren der Regeln und sorgen für deren konsequente Einhaltung. Erinnert sei an dieser Stelle an die den Pferden zugeschriebene Spiegelfunktion, die in diesem Zusammenhang ebenfalls bedeutsam wird. Je mehr ein Kind gleichbleibende Handlungsabläufe übernimmt und übt, desto sicherer und handlungsmächtiger wird es in der Therapiesituation. Es weiß, welche Handlungen auf welche Weise auszuführen sind und welche Folgen sein eigenes Handeln haben wird. So interagiert dieses Kind erfolgreich mit dem Pferd; über die wachsende Vertrautheit mit der Therapiesituation und die ermutigenden Erfolgserlebnisse entsteht beim Kind ein innerer Halt. In dem Ausmaß, in welchem dieser „innere Halt“ entsteht, kann der Therapeut sich mit seinem haltgebenden Verhalten zurücknehmen. Er kann den äußeren Halt, das Vorgeben der Interaktionen und der Handlungsstruktur mehr und mehr reduzieren. Das Kind wird eigenaktiver, wählt die Interaktionen selbst aus und führt diese im Rahmen seiner Möglichkeiten eigenständiger durch. Das Vertrauen in die eigenen Kompetenzen und damit der Stolz auf die eigene Person wachsen, Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl nehmen zu. Pädagogische Ermutigung der Eltern Eltern von Kindern mit ADHS-Diagnose erleben sich selbst als erzieherisch oft hilflos. Sie erpro- Das Pferd fordert zwangsläufig gleichbleibende Handlungsstrukturen und Handlungsabläufe. 106 | mup 3|2015 Breitenbach, Gomolla, Machul, Rathgeber - Pferdegestützte Intervention bei Kindern mit ADHS ben unterschiedlichste Erziehungsmethoden bei ihrem Kind, greifen gut gemeinte Ratschläge auf und stehen am Ende doch wieder als schlechte Eltern da, die ihr eigenes Kind nicht steuern, kontrollieren, erziehen können. Sie bemerken, wie ihr hyperaktives, chaotisch agierendes Kind und auch sie selbst mehr und mehr von anderen Kindern und Familien gemieden werden. Sie müssen hilflos mit ansehen, wie die schulischen Leistungen immer schlechter werden. Auf ein solches Kind stolz zu sein, fällt schwer. Über die Zeit entwickelt sich eine zunehmende, das gesamte Zusammenleben mit diesem Kind prägende negative Perspektive ohne Hoffnung auf Besserung oder Ausweg. Bode (2002) weist darauf hin, dass z. B. Frühfördermaßnahmen nur dann erfolgreich sein können, wenn die elterlichen Copingstrategien in den Förderprozess einbezogen werden und wenn es gelingt, die elterlichen Strategien so zu verändern, dass die Eltern wieder mit Vertrauen in sich und ihr Kind hoffnungsvoll und zugleich realistisch in die Zukunft schauen können. Wenn Eltern beobachten, dass ihr hyperaktiv-ungesteuertes Kind vielleicht schon nach kurzer Zeit strukturiert, kompetent und erfolgreich mit einem Pferd umgeht, können dies wichtige Momente der Ermutigung sein, die ihnen Hoffnung geben und neues Vertrauen in ihr Kind und seine Lernmöglichkeiten schaffen. Diese ersten Überlegungen zu einem therapeutischen Konzept für Pferdegestützte Interventionen bei Kindern mit ADHS-Diagnose stützen sich (neben den Erkenntnissen zur Therapie von Kindern mit ADHS und dem Wissen über mögliche Wirkweisen Pferdegestützter Interventionen) auch auf die Praxiserfahrungen zahlreicher Therapeuten in der Pferdegestützten Therapie von Kindern mit ADHS. Sie sind in hohem Maße hypothetisch und bedürfen einer langfristigen Evaluation und Weiterentwicklung, aber sie markieren auch einen ersten Schritt zu gesichertem Wissen über angemessene therapeutische Strategien, verlässlich nachgewiesenen Effekten und einem wissenschaftlich wohl begründeten Verständnis der Wirkweise. Literatur ■ Barton, J., Pretty, J. (2011): Environmental Science and Technology, Royal Society for Public Health Bear, M. F., Connors, B. W., Paradiso, M. A. (2009): Neurowissenschaften. Ein grundlegendes Lehrbuch für Biologie, Medizin und Psychologie. 3. Aufl. Spektrum Akademischer, Heidelberg ■ Bass, M., Duchowny, C. A., Llabre, M. M. (2009): The Effects of Therapeutic Horseback Riding on Social Functioning in Children with Autism. Journal of Autism Developmental Disorder 39 (9), 1261-1267, http: / / dx.doi.org/ 10.1007/ s10803-009-0734-3 ■ Berger, E., Wald, B. (1999): Die Beziehung zu Tieren im therapeutischen Kontext. Behindertenpädagogik 30, 404-420 ■ Bode, H. 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A.), Studium der Psychologie in Konstanz, Promotion im Bereich der klinischen Kinderpsychologie und Psychotraumatologie an den Universitäten Bremen und Konstanz, Master-Studium Erwachsenenbildung an der TU Kaiserslautern, arbeitet seit über zehn Jahren am Institut für Pferdegestützte Therapie (IPTh) in der Fort- und Weiterbildung von Reittherapeuten, -pädagogen und Hippotherapeuten, in eigener Praxis therapeutische Tätigkeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit unterschiedlichen Störungsbildern, 1. Vorsitzende des Berufsverbandes für Fachkräfte pferdegestützter Interventionen e. V., Geschäftsführung des Forschungszentrums GREAT zur wissenschaftlichen Erforschung der Pferdegestützten Interventionen. Dr. Dörthe Machul Dipl.-Psychologin (klinische Psychologie, berufliche Rehabilitation), Psychologische Psychotherapeutin (Psychotherapie-Praxis), wiss. Mitarbeiterin der Abt. Rehabilitationspsychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Alice Rathgeber Studium der Geschichte und Kultur des Vorderen Orients mit Schwerpunkt Turkologie an der Freien Universität Berlin, B. A. 2014 in den Studienfächern Rehabilitationswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und Arbeitslehre an der Technischen Universität Berlin, zur Zeit im Masterstudiengang der Wirtschaftspsychologie mit Personal- und Unternehmensentwicklung, Beschäftigung in einem Berliner Software-Unternehmen. Anschriften: Prof. Dr. Erwin Breitenbach · Humboldt-Universität zu Berlin · Institut für Rehabilitationswissenschaften Unter den Linden 6 · D-10099 Berlin · breitene@rz.hu-berlin.de Dr. Annette Gomolla · Bruder Klaus Str. 8 · D-78467 Konstanz · A.Gomolla@ipth.de Dr. Dörthe Machul · Humboldt-Universität zu Berlin · Institut für Rehabilitationswissenschaften Unter den Linden 6 · D-10099 Berlin · doerthe.machul@reha.hu-berlin.de Alice Rathgeber · Arndtstraße 34 · D-10965 Berlin