eJournals mensch & pferd international 8/3

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2016
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Forum: Gemeinsam wachsen

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Franziska Huth
Im Zuge meiner Weiterbildung zur Diplom-Reitpädagogin SG-TR absolvierte ich mein Praktikum in einer Praxis für Entwicklungsförderung. Während zweier Hospitationstage lernte ich Lea (Name geändert) kennen und entschied mich dazu, mit ihr während meines Praktikums zusammenzuarbeiten. Für die Einheiten standen mir zwei New-Forest-Stuten zur Verfügung, die ich je nach Auslastung oder Eignung für bestimmte Lektionen abwechselnd einsetzte. […]
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124 | mup 3|2016|124-128|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2016.art20d Forum Gemeinsam wachsen Ein Prozess für Klient und Reitpädagogin mithilfe des Pferdes Franziska Huth Im Zuge meiner Weiterbildung zur Diplom- Reitpädagogin SG-TR absolvierte ich mein Praktikum in einer Praxis für Entwicklungsförderung. Während zweier Hospitationstage lernte ich Lea (Name geändert) kennen und entschied mich dazu, mit ihr während meines Praktikums zusammenzuarbeiten. Für die Einheiten standen mir zwei New-Forest-Stuten zur Verfügung, die ich je nach Auslastung oder Eignung für bestimmte Lektionen abwechselnd einsetzte. Im Folgenden werden anhand des Fallbeispiels „Lea“ die Planung, Strukturierung und Durchführung der einzelnen HPR-Einheiten, die daraus resultierenden Herausforderungen für Reitpädagogin und Klientin, sowie die gemeinsam erreichten Fortschritte und Ziele aufgeführt und erläutert. Um die Grob- und Feinziele und somit die Inhalte der einzelnen Einheiten planen zu können, griff ich auf Informationen aus einem kinder- und jugendpsychiatrischen Gutachten sowie auf Ausführungen von Leas Pflegeeltern zurück. Aus diesen zog ich folgende Erkenntnisse: Die achtjährige Lea lebt seit ihrem dritten Lebensjahr in einer Pflegefamilie. Bereits vor ihrem zweiten Geburtstag wurde sie aufgrund massiver Vernachlässigung in Obhut genommen. Leas Pflegeeltern beschreiben folgende Problematiken: auffälliges Sozialverhalten, niedrige Frustrationstoleranz, aggressive Verhaltensweisen und schneller Wechsel zwischen dem Bedürfnis nach körperlicher Nähe und plötzlich auftretenden Aggressionen. Ergänzend dazu bescheinigt das kinder- und jugendpsychiatrische Gutachten folgende Befunde: Störung sozial-emotionaler Funktionen (reaktive Bindungsstörung), ausgeprägte Impulsivität, provokatives und oppositionelles Verhalten, „innere Getriebenheit“, geringes Konzentrationsvermögen, Entwicklungsverzögerung von einem Jahr, Verzögerung der Sprachentwicklung, motorische Entwicklungsverzögerung, feinmotorische Retardierung, hoher Muskeltonus. Aufbau und Strukturierung der Einheiten Lea kam einmal wöchentlich für 60 Minuten zum HPR / V. Ihre Pflegemutter war bei den Einheiten anfangs mit dabei, was sich jedoch nachteilig auf Leas Konzentration auswirkte und somit schließlich von uns geändert wurde. Da für Lea anfangs das Reiten, der Wunsch zu traben und zu galoppieren, im Vordergrund stand und ich ihr das zu Beginn nicht ganz verwehren wollte, um eine Verweigerungshaltung ihrerseits zu umgehen, entschied ich mich für einen stetigen Wechsel von Einheiten, in denen der Hauptteil am Boden stattfand, und Einheiten, in denen sie auf das Pferd durfte, dies jedoch konsequent ohne zu traben, um Lea zu „entschleunigen“. Die Einheiten ähnelten sich im Aufbau, damit Lea Sicherheit und Orientierung erfahren konnte und es so einfacher war, eine Vertrauensbasis zu schaffen. Forum: Huth - Gemeinsam wachsen mup 3|2016 | 125 Die Einheiten gliederten sich stets wie folgt: 1. Ankommen und Begrüßen von Lea 2. Gemeinsam zu den Pferden gehen 3. Emotionale Anbahnung durch freie Begrüßung, Übungen vom Boden und vom Pferderücken aus 4. Vorbereitung des Pferdes für die Einheiten 5. Hauptteil immer im Wechsel vom Boden und vom Pferderücken aus 6. Versorgung und Verabschiedung des Pferdes Zielsetzungen (Grob- und Feinziele) Die Grob- und Feinziele (Feinziele im folgenden FZ genannt) für die folgenden 20 Einheiten mit Lea formulierte ich auf Grundlage der mir zur Verfügung stehenden Informationen wie folgt: Grobziel Nr. 1: Lea baut eine vertrauensvolle Beziehung zu ihrem Therapiepferd auf und lässt sich auf das Pferd ein. FZ. Nr. 1.1 Lea sucht von sich aus Kontakt zum Therapiepferd. FZ. Nr. 1.2 Lea begrüßt und verabschiedet ihr Therapiepferd. FZ. Nr. 1.3 Lea geht mit ihrem Pferd rücksichtsvoll und wertschätzend um. FZ. Nr. 1.4 Lea erfährt das Pferd als verlässlichen Partner. Grobziel Nr. 2: Lea nimmt das Pferd als Lebewesen über alle Sinne wahr. FZ. Nr. 2.1 Lea berührt das Pferd mit den Händen. FZ. Nr. 2.2 Lea nimmt taktile Reize am Pferd wahr. FZ. Nr. 2.3 Lea beobachtet beim Fressen die Mundbewegungen des Pferdes und nimmt das Geräusch des Pferdes beim Fressen wahr. Grobziel Nr. 3: Aufbau und Stärkung des Selbstwertgefühls FZ. Nr. 3.1 Lea empfindet beim Reiten Geborgenheit, Freude und Entspannung. FZ. Nr. 3.2 Lea übernimmt eigenständig Aufgaben rund um das Pferd. Grobziel Nr. 4: Steigerung der Frustrationstoleranz FZ. Nr. 4.1 Lea vertraut mehr in eigene Fähigkeiten und zeigt mehr Ausdauer. FZ. Nr. 4.2 Lea kann sich auf das Schrittreiten einlassen und dies genießen. FZ. Nr. 4.3 Lea kann ihre Fähigkeiten einschätzen und entsprechend anwenden. 126 | mup 3|2016 Forum: Huth - Gemeinsam wachsen Therapieverlauf Um den Therapieverlauf bestmöglich skizzieren zu können, greife ich im Folgenden auf die Einheiten 1, 9 und 14 zurück, da diese meiner Ansicht nach die Entwicklung, die Lea während der 20 von mir durchgeführten Einheiten durchlebt hat, am besten beschreiben. Lektion 1: Die erste Einheit fand einige Monate nach meinen Hospitationstagen statt. Um Lea die Möglichkeit zu geben, sich langsam an mich zu gewöhnen, und um mir einen Eindruck über den aktuellen „Ist-Zustand“ machen zu können, beschloss ich, in dieser Einheit die für sie gewohnten Strukturen beizubehalten. D. h. in dieser Einheit begleitete uns ihre Pflegemutter und sie durfte während eines Spazierritts im Schritt auf dem Pferd reiten. Die Einheit verlief rückblickend jedoch sehr chaotisch und für mich sehr frustrierend. Bereits die Ankommenssituation war sehr unruhig und Lea interessierte sich weder für mich noch für das Pferd, sondern spielte unverzüglich mit dem Klienten, der vor ihr Reiten war. Es bedurfte guten Zuredens, damit sie mit mir zum Pferd ging. Auf dem Weg zu Carissma (Name des Pferdes geändert) rannte Lea vor und ignorierte mich völlig. Die Begrüßung des Pferdes fiel ihrerseits sehr oberflächlich und desinteressiert aus. Auch das anschließende Vorbereiten des Pferdes absolvierte sie ruhelos und hektisch und nicht aus eigenem Antrieb heraus. Immer wieder musste ich ihre Aufmerksamkeit auf das Pferd lenken. Dem Pferd gegenüber verhielt sie sich wenig empathisch. So zog sie z. B. beim gemeinsamen Führen stark am Strick und ruckelte ungeduldig am Voltigiergurt, als sie auf dem Pferderücken saß. Immer wieder musste ich sie begrenzen und es schien mir, als reglementierte ich sie permanent. Während des Reitens verhielt sie sich sehr fordernd und grenzentestend. Kam man ihren Ideen und Wünschen nicht augenblicklich nach, so geriet sie in eine Verweigerungshaltung und sprang sogar vom Pferd. Dann verlor sie vollständig das Interesse an Carissma, was es nach dem Spazierritt erschwerte, die Aufmerksamkeit wieder auf das Pferd zu lenken. Beim Abrüsten des Pferdes zeigte sie sich wenig ausdauernd. Lediglich beim Vorbereiten des Futters wirkte sie freudig und motiviert und machte dies auch nahezu selbstständig. Beim Füttern geriet sie erneut in eine Verweigerungshaltung. Dementsprechend verlief auch das anschließende Verabschieden oberflächlich und desinteressiert. Von den geplanten Lektionszielen wurde in dieser Einheit nahezu keines erreicht. Zwar begrüßte Lea Carissma, jedoch geschah dies nicht aus einer eigenen Motivation heraus. Lediglich das Vorbereiten des Futters geschah selbstständig. Nach dieser Einheit beschloss ich einige Rahmenbedingungen und die inhaltlichen Schwerpunkte der Einheiten zu verändern. So galt es, das anfängliche Spiel mit dem Klienten zu unterbinden und Lea von Beginn an mehr auf das Pferd zu fokussieren. Auch wollten wir die Einheiten als „alleinige Zeit für Lea“ nutzen, was Forum: Huth - Gemeinsam wachsen mup 3|2016 | 127 bedeutete, dass sich ihre Mutter derweil anders beschäftigte. Das Reiten sollte nicht länger Schwerpunkt der Einheiten sein, sondern der Fokus lag nunmehr auf der emotionalen Anbahnung und der Beschäftigung vom Boden aus. Die Realisierung der Umgestaltung erwies sich in den folgenden Einheiten jedoch als schwierig, da sich Lea mit den neuen Strukturen zunächst schwer tat. Es bedurfte einer enormen Energie und stetigen Aufmerksamkeit meinerseits, um diese umsetzen zu können. Lektion 9: Diese Einheit hatte ich als „Verwöhnstunde für Carissma“ geplant. Ziel war es, dass sich Lea intensiv mit den taktilen Reizen des Pferdes auseinandersetzt und das Pferd in seiner Gesamtheit über alle Sinne wahrnimmt. Ebenso galt es, dem Pferd etwas Gutes zu tun. Auch in dieser Einheit verlief die Ankommenssituation unruhig. Durch Ermunterung meinerseits ging Lea jedoch schließlich mit mir zum Pferd. Lea nahm selbstständig zwei Äpfel für die Pferde mit. Während Carissma fraß, legte Lea aus eigenem Antrieb ihre Hände an Carissmas Bauch und sprach sie sanft an. Dann versuchte sie auf mein Bitten, den Strick an Carissmas Halfter zu befestigen. Beim Führen nahm Lea eigenständig die richtige Führposition ein und lockte Carissma mit ruhigen Worten. Beim Waschen befolgte Lea genau meine Anweisungen und wirkte insgesamt sehr konzentriert. Auch nahm sie sehr viel an Carissma wahr, wie z. B. die Veränderung der Felllänge, die Kastanien an den Beinen usw. Sie zeigte sich empathisch gegenüber Carissma („ganz nass machen sei ihr zu kalt“). Bei der Vorbereitung des Futters war Lea ebenfalls sehr motiviert. So schnitt sie eigenständig und sorgsam die Äpfel und Möhren klein. Beim Füttern entschied sich Lea dafür, gemeinsam mit Carissma etwas zu essen. Ich stellte Carissma die Futterschüssel hin und ohne mein Zutun setzte sich Lea neben sie und aß etwas, während Carissma fraß. Zur Verabschiedung ging Lea kurz zu Carissma, klopfte sie am Hals und sagte „Tschüss“. Von mir verabschiedete sie sich sehr intensiv, indem sie mich umarmte. Im Gegensatz zur ersten Lektion wurden in dieser bereits einige der von mir geplanten Lektionsziele erreicht. Lea begrüßte und verabschiedete ihr Pferd durch Streicheln und / oder verbale Ansprache. Beim Führen versuchte sie das Pferd durch leichte Paraden und mit ruhiger Stimme anzutreiben. Auch verhielt sie sich empathisch gegenüber dem Pferd. Das Waschen und Abstreichen des Pferdes erfolgte mit beiden Handinnenflächen. Das Futter bereitete sie ebenso eigenständig vor. Lektion 14: Bereits die Ankommenssituation unterschied sich von den bereits dargestellten Lektionen maßgeblich. Lea kam freudig zu mir gelaufen, umarmte mich und erkundigte sich, was für die Stunde geplant sei. Gemeinsam gingen wir zu den Pferden und Lea rief Carissma und streichelte sie an Hals und Nüstern. Lea verhielt sich dem Pferd gegenüber sehr liebevoll und suchte permanent Körperkontakt. Auch beim Führen verhielt sie sich sehr empathisch, stellte sich in die korrekte Führposition und lockte das Pferd mit der Stimme. Auch schaffte sie es schon phasenweise, Carissma selbstständig zu führen. Beim Ausruhen auf dem Pferd wirkte Lea zunächst ängstlich, da es eine neue Übung für sie war. Sie schaffte es jedoch, ihre Angst zu verbalisieren. Dann konnte sie sich auf die Übung einlassen und wirkte schließlich für ca. 15 Minuten konzentriert, ruhig und entspannt. Das Aufgurten des Pferdes erfolgte in Teamarbeit. Beim Spa- 128 | mup 3|2016 Forum: Huth - Gemeinsam wachsen zierritt war Lea entspannt und still. Dann sprach sie mich plötzlich mit „Mama“ an, woraufhin wir in ein Gespräch über ihre Situation und Lebensgeschichte kamen, auch wenn sie dafür Anderen (Tieren) ihre Rolle zuwies. Zurück am Stall, stieg Lea selbstständig ab und führte Carissma fast eigenständig zum Putzplatz. Die Vorbereitung des Futters erfolgte selbstständig und nach kurzer Unterstützung meinerseits schaffte es Lea sogar, das Futterbecken alleine zu halten. Die Verabschiedung erfolgte aus eigenem Antrieb heraus. Hierzu ging Lea zu Carissma, legte ihre Handinnenflächen an ihren Bauch und sprach sie sanft an. Lea war während dieser Einheit sehr auf das Pferd konzentriert und konnte sich auf alle Übungen gut einlassen. Entsprechend wurden auch fast alle geplanten Lektionsziele erreicht. Fazit/ Rückblick Das Praktikum mit Lea war für mich sehr anspruchsvoll und herausfordernd. Zwar waren die ersten beiden Einheiten sehr frustrierend, jedoch brauchte es meiner Ansicht nach diese beiden „Tiefschläge“, um mich neu zu ordnen und Ideen aufkommen zu lassen, wie ich mit Lea arbeiten kann. Die Auswertung der insgesamt 20 Einheiten zeigte jedoch, dass meine Herangehensweise für Lea positiv war, sei sie auch nur eine von vielen Möglichkeiten. Bei Lea ließ sich eine enorme Entwicklung verzeichnen, die ich so zu Anfang nicht erwartet hätte. Die Beziehung zu Carissma ist eine deutlich innigere geworden und auch hinsichtlich der geplanten Grob- und Feinziele haben wir viel erarbeiten können. Für Lea ist der regelmäßige Kontakt zu den Pferden wichtig geworden. Sie genießt diesen Kontakt und gewinnt dadurch viel an Lebensqualität und heilsamen Prozessen. Außer Frage steht jedoch, dass es für Lea dringend indiziert ist, noch weitere Therapieeinheiten zu erhalten. Von besonderer Wichtigkeit sind bei einer Fortsetzung des HPR auch weiterhin folgende Aspekte: ■ Förderung des sozial-emotionalen Erlebens ■ Förderung und Stärkung ihrer emotionalen Persönlichkeitsentwicklung ■ Entwicklung der Frustrationstoleranz ■ Entwicklung des Selbstkonzeptes und -bewusstseins ■ Verbesserung der Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit ■ Stärkung vorhandener Ressourcen und Potenziale Die Autorin Franziska Huth Diplom-Pädagogin (WWU Münster), Diplomarbeit „Das Heilpädagogische Reiten und Voltigieren als Möglichkeit der Hilfe für traumatisierte Kinder“, Reitpädagogin SG-TR (in Ausbildung), mehrjährige Tätigkeit in der vollstationären Jugendhilfe und Notfallplatzierung. Anschrift Franziska Huth · Blumenstrasse 8 · D-45721 Haltern am See franziska.gernemann@web.de