mensch & pferd international
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mup2016.art03d
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Inklusion mit dem Pferd - methodische Umsetzungsmöglichkeiten
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Henrike Struck
Das Konzept der Inklusion beschreibt als soziologischer Begriff eine Gesellschaft, an der jeder selbstbestimmt und gleichberechtigt teilhaben kann. Dabei sollten Behinderung oder Nichtbehinderung, aber z. B. auch Religion, Bildung, sozialer Status oder Herkunft, Geschlecht und Alter keine Rolle spielen. Zunächst also eine Vision, ein Idealbild, das angestrebt werden kann und sollte, von dem unsere Gesellschaft aber in vielen Bereichen sicherlich noch weit entfernt ist. Die Umsetzung der Inklusion wird uns als gesamtgesellschaftliche Aufgabe fordern und natürlich auch den Bereich der pferdegestützten Interventionen, aber ebenfalls den breiten- und leistungssportlichen Pferdesport mit einbeziehen.
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14 | mup 1|2016|14-17|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2016.art03d Forum Inklusion mit dem Pferd - methodische Umsetzungsmöglichkeiten Der Einsatz von Konzepten der Inklusion im pädagogisch orientierten Pferdesport Henrike Struck Das Konzept der Inklusion beschreibt als soziologischer Begriff eine Gesellschaft, an der jeder selbstbestimmt und gleichberechtigt teilhaben kann. Dabei sollten Behinderung oder Nichtbehinderung, aber z. B. auch Religion, Bildung, sozialer Status oder Herkunft, Geschlecht und Alter keine Rolle spielen. Zunächst also eine Vision, ein Idealbild, das angestrebt werden kann und sollte, von dem unsere Gesellschaft aber in vielen Bereichen sicherlich noch weit entfernt ist. Die Umsetzung der Inklusion wird uns als gesamtgesellschaftliche Aufgabe fordern und natürlich auch den Bereich der pferdegestützten Interventionen, aber ebenfalls den breiten- und leistungssportlichen Pferdesport mit einbeziehen. Über die UN-Behindertenrechtskonvention wird insbesondere das Recht von Menschen mit Behinderung auf Inklusion deutlich geregelt. Dabei wird in Artikel 30 auch das Recht auf Teilhabe am kulturellen Leben und damit auch am Sport spezifiziert. Die gesellschaftliche Aufgabe der Inklusion wird auch im Bereich der Reitvereine in absehbarer Zeit Thema werden, nicht zuletzt, weil öffentliche Zuschüsse voraussichtlich zunehmend daran gebunden sein werden, dass Vorgaben eines inklusiven Sportangebotes erfüllt werden. In Artikel 30, Absatz 5, Punkt a und c der Behindertenrechtskonvention wird dies nochmals verdeutlicht: „Mit dem Ziel, Menschen mit Behinderungen die gleichberechtigte Teilnahme an Erholungs-, Freizeit- und Sportaktivitäten zu ermöglichen, treffen die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen zu ermutigen, so umfassend wie möglich an breitensportlichen Aktivitäten auf allen Ebenen teilzunehmen, und ihre Teilnahme zu fördern und um sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu Sport-, Erholungs- und Tourismusstätten haben“. Zur Umsetzung der Inklusion im Bereich der pädagogischen Arbeit mit dem Pferd, aber auch dem Pferdesport im Allgemeinen, kann auf verschiedene Konzepte aus anderen Inklusionsbereichen (Schule, andere Sportarten etc.) zurückgegriffen werden. Mit einigen Adaptionen lassen sie sich gut auf diesen Bereich übertragen. Interdisziplinäres Arbeiten Ein zentrales Thema wird sicherlich das interdisziplinäre Arbeiten sein. Um einen inklusiven, pädagogisch orientieren Pferdesport durchzuführen, wird sich eine Zusammenarbeit zwischen Trainern und Reitpädagogen entwickeln bzw. verstärken müssen. Darüber hinaus werden mit Ärzten und behandelnden Therapeuten ggf. auch weitere Personen in das multiprofessionelle Team involviert sein. Dabei sollte das gemeinsame Ziel, die optimale Förderung aller Teilnehmer an einem inklusiven pädagogisch orientieren Pferdesport, immer im Vordergrund stehen und auch gemeinsam formuliert und angenommen werden. Inter- Forum: Struck - Inklusion mit dem Pferd mup 1|2016 | 15 disziplinäres Arbeiten erfordert ein klares Rollenverständnis aller Beteiligten, gegenseitigen Respekt und Wertschätzung der Meinung der Anderen sowie Flexibilität und Reflektionsbereitschaft. Es bietet aber auch die Möglichkeit zur beruflichen und persönlichen Weiterentwicklung und zu neuartigen Aktivitäten. Maßnahmen wie kollegiale Beratung oder Supervision können in diesem Prozess sinnvoll und hilfreich sein. Dabei sollten neben konkreten Fallsupervisionen auch die wechselseitigen Abhängigkeiten, die durch interdisziplinäres Arbeiten entstehen und ein großes persönliches Lernfeld, aber auch Konfliktpotential darstellen, thematisiert werden. Binnendifferenzierung Bei der Arbeit mit heterogenen Lerngruppen, wie sie durch Inklusion entstehen, ist das Prinzip der Differenzierung grundlegend. „Der Begriff der Differenzierung umfasst alle organisatorischen und methodischen Bemühungen, die darauf abzielen, den individuellen Begabungen, Fähigkeiten, Neigungen und Interessen einzelner Schüler oder Schülergruppen innerhalb einer Schule oder Klasse gerecht zu werden.“ (Klafki / Stöcker 1976, 497f). Dabei wird unterschieden zwischen äußerer Differenzierung, also die Aufteilung in homogenere Lerngruppen und innerer oder Binnendifferenzierung, bei der die individuelle Förderung des einzelnen Lernenden im Vordergrund steht. Es kommen bei der Binnendifferenzierung neben verschiedenen Organisationsformen auch unterschiedliche didaktische und methodische Maßnahmen zum Einsatz. Für den Bereich des inklusiven pädagogisch orientierten Pferdesports ist dabei besonders die Idee relevant, über begrenzte Zeiträume kleine(re) homogene(re) Lerngruppen zu schaffen, um die individuelle Förderung effektiver gestalten zu können. Voraussetzung für eine Binnendifferenzierung ist die bewusste Auseinandersetzung mit der Heterogenität einer Gruppe. Dabei sollten alle relevanten Heterogenitätsfaktoren mit einbezogen werden, also wie eingangs in der Definition der Inklusion beschrieben nicht nur der Faktor Behinderung oder Nichtbehinderung, sondern auch Alter, Geschlecht, Leistungsstand, Motivation etc. Dies führt zu einer Differenzierung, bei der z. B. alle Reiter mit einer Angstproblematik als Lerngruppe - mit dem Förderziel Angstabbau - in einer Reitstunde zusammengefasst werden. Hier können sich Reiter mit Behinderung dann in bei- Statt der verbreiteten Pünktchenbilder hier einmal ein anderes Bild, das zur Verdeutlichung der Inklusion noch einen wichtigen Aspekt erfasst: Das etwas andere Inklusionsmodell Geben wir diese Energie nicht ständig weiter in den Prozess, werden wir vermutlich relativ schnell wieder in den Zustand der Integration zurückkommen. Inklusion, also die Durchmischung, findet statt, wenn von außen Energie zugeben wird. Diese Energie in den Inklusionsprozess zu geben, ist sozialpolitische Aufgabe, aber auch die Aufgabe jedes Einzelnen von uns. Integration, hier sind die Bestandteile schon gemeinsam in einer „Umwelt“, aber noch von einander abgesetzt. Exklusion, zwei ähnliche Flüssigkeiten in verschiedenen „Umwelten“ 16 | mup 1|2016 Forum: Struck - Inklusion mit dem Pferd den Lerngruppen (ängstlichen und nicht ängstlichen Reitern) wiederfinden. Ein weiteres Ziel der Binnendifferenzierung ist auch die Steigerung oder der Erhalt der Motivation. Durch individuelle Lernziele und Herangehensweisen kann die Motivation gerade bei leistungsschwächeren Gruppenteilnehmern gefördert werden. Voraussetzung für gelungene Binnendifferenzierung ist einerseits eine veränderte Rolle des Reitlehrers, der sich eher als Moderator eines pädagogischen Prozesses verstehen sollte. Andererseits sind auch die Teilnehmer mit einer größeren Selbsttätigkeit und Eigenverantwortung konfrontiert, die im klassischen Reitunterricht oft noch wenig im Fokus steht. Vor allem im Bereich des Sports werden bei der Binnendifferenzierung die beiden grundlegenden Formen der konvergenten und der divergenten Differenzierung (Haas 2013) unterschieden, daher scheint auch hier die Übertragung in den Bereich des inklusiven pädagogisch orientierten Pferdesports sinnvoll. Bei der konvergenten Differenzierung beginnen die Teilnehmer auf unterschiedlichen Ausgangsniveaus, streben aber die gleiche Zielübung an. Dies könnte als Beispiel beim Springunterricht der Fall sein, wenn sportliche Jugendliche mit wenig Reiterfahrung, ältere Teilnehmer aus einer Freizeitgruppe mit mehr Reiterfahrung und auch Reiter mit motorischer Behinderung gemeinsam das Ziel haben, im leichten Sitz über ein Cavaletti zu traben. Diese Differenzierungsform bietet auch viele Ansätze für soziales Lernen innerhalb der Gruppe. Bei der divergenten Differenzierung beginnen die Teilnehmer mit Kernübungen auf einem gemeinsamen Niveau und entwickeln daraus eine Auffächerung des Leistungslevels. Beispiel hierfür wäre das gemeinsame Traben über Cavalettis zu Beginn einer Springstunde, aus dem sich für einige Teilnehmer im Verlauf der Stunde (oder auch mehrerer Stunden) Übungen im leichten Sitz im Galopp, für andere einfache Gymnastiksprünge und für einzelne vielleicht auch ein kleiner Parcours entwickeln lassen. Bei der divergenten Differenzierung ist allerdings darauf zu achten, dass sich aus den unterschiedlichen Niveaus keine Frustration für den Einzelnen ableitet. Hier ist es wichtig, das individuelle Lernziel und die Erfolge auf dem Weg dorthin in den Vordergrund zu stellen. Teamteaching Einer der umfassendsten methodischen Ansätze im schulischen Bereich der Inklusion ist das Konzept des Teamteaching. Hier unterrichten zwei (oder mehr) Lehrende (im inklusiven pädagogisch orientierten Pferdesport in der Regel ein Trainer und ein Reitpädagoge) gleichzeitig eine Gruppe von meist heterogenen (Reit-)Schülern mit unterschiedlichen Trainings- und Förderbedarfen. Eine ausführliche Konzeption zu diesem Bereich findet sich in „Therapeutisches Reiten“ 2 / 2015, daher wird das Thema hier nur in der Übersicht angesprochen. Teamteaching wird z. B. bei Lütje-Klose und Willenbrink (1999) oder auch bei Friend und Cook (2010) in sechs bis sieben verschiedene Settings unterteilt, die sich eher theoretisch unterscheiden lassen, aber in der Praxis häufig auch innerhalb einer Übungsstunde ineinander übergehen. Überträgt man diese Settings auf den Bereich des inklusiven pädagogisch orientierten Pferdesports ergeben sich dabei z. B. folgende Rollenaufteilungen (Struck 2015): - Trainer als Lehrender und Reitpädagoge als Beobachter (one teach, one observe) - Trainer als Reitlehrer und Reitpädagoge als Helfer (one teach, one assist) - Stationsunterricht durch Trainier und Reitpädagogen (station teaching) - Parallelunterricht durch Trainer und Reitpädagogen (parallel teaching) - Niveaudifferenzierter, „fördernder“ Unterricht, bei dem der Reitpädagoge Teilnehmer mit Förderbedarf besonders fördert (remedial teaching) - Zusatzunterricht, „fordernder“ Unterricht, bei dem der Trainer Teilnehmer mit besonderen Kompetenzen gezielt fördert (supplemental teaching) - „Teamteaching“ als „Doppelkonferenz“ (teaming) Forum: Struck - Inklusion mit dem Pferd mup 1|2016 | 17 Helfereinsatz Eine besondere Bedeutung gewinnt im Rahmen des Teamteaching und verschiedener genannter Differenzierungsmethoden der „Helfereinsatz“. Einerseits kann in den vorgestellten Rollenaufteilungen einer der beiden beteiligten Lehrenden zum Helfer des anderen werden, andererseits ist in dem Modell „one teach - one assist“ auch denkbar, dass (z. B. zuvor durch Reitpädagogen oder den Trainer geschulte) Helfer zum Einsatz kommen und den pädagogisch orientierten Reitunterricht des Trainers oder auch des Reitpädagogen ergänzen. Damit der Helfereinsatz gelingen kann, ist eine klare Rollendefinition notwendig. Dazu müssen eindeutige Absprachen zwischen Unterrichtendem und Helfer stattfinden. Aber auch die Teilnehmergruppe muss in diese Absprachen involviert werden und die Aufgabenfelder des Helfers müssen auch für sie transparent gemacht werden. Prozesseigner ist dabei der Unterrichtende, der durch sorgfältige Unterrichtsplanung und Fortbildung der Sachkompetenz des Helfers sicherstellt, dass das gemeinsame Unterrichten gelingen kann. Fazit Um den Erfordernissen der Inklusion gerecht zu werden, sind einige Überlegungen zu methodisch-didaktischen Ansätzen von Reitunterricht und entsprechende flexible Umsetzungen in der Praxis erforderlich. Allerdings gibt es im Bereich der Inklusionsbemühungen im schulischen Bereich und auch im Bereich des inklusiven Sports Modelle und Möglichkeiten, die sich auf den Bereich des Pferdesports gut übertragen lassen. Inklusion sollte dabei als gemeinsamer Entwicklungsprozess gesehen werden, der allen Beteiligten (Lernenden wie Lehrenden) Chancen zur persönlichen Weiterentwicklung bietet. Literatur ■ Friend, M., Cook, L. (2010): Interactions: Collaboration skills for school professionals. Pearson, Boston ■ Haas, J. (2013): Differenzierung / Individualisierung im Sportunterricht. Seminar für Didaktik und Lehrerbildung Freiburg, Fachbereich Sport, Freiburg im Breisgau ■ Klafki, W., Stöcker, H. (1976): Innere Differenzierung des Unterrichts. Zeitschrift für Pädagogik 22, 2-8 ■ Lütje-Klose, B., Willenbring, M. (1999): Kooperation fällt nicht vom Himmel - Möglichkeiten der Unterstützung kooperativer Prozesse in Teams von Regelschullehrerin und Sonderpädagogin aus systemischer Sicht. Behindertenpädagogik 38, 2-31 ■ Struck, H. (2015): Teamteaching im pädagogisch orientierten inklusiven Pferdesport. Therapeutisches Reiten 2, 24-26 ■ UN-Behindertenrechtskonvention: https: / / www.behindertenbeauftragter.de/ SharedDocs/ Publikationen/ DE/ Broschuere_UNKonvention_ KK.pdf? __blob=publicationFile Die Autorin Henrike Struck Sonderpädagogin, Reitpädagogin DKThR, Schriftleitung „mensch & pferd“, Lehrbeauftragte (u. a. DKThR, TU Dortmund), Leitung Zentrum für Therapeutisches Reiten der Werkstätten der AWO Dortmund. Anschrift Henrike Struck · Zentrum für Therapeutisches Reiten der Werkstätten der AWO Dortmund GmbH · Bahnstr. 95 D-44532 Lünen · h.struck@awo-reiterhof.de
