eJournals mensch & pferd international 8/2

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mup2016.art10d
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2016
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Reittherapeutische Interventionen aus der Sicht von Personen mit Multipler Sklerose

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2016
Anne Karen Czerwonka
Pülschen Pülschen
Gegenstand der vorliegenden Studie ist eine Befragung von 28 Klienten mit Multipler Sklerose. Im Fokus stand die persönliche Sicht der Befragten über Bedeutsamkeit und Therapieerfolg von Reittherapie sowie die Rolle des Pferdes für die Therapie. Die Angaben der Teilnehmer wurden mittels zweiteiligem Fragebogen an einem Tag mit bzw. ohne Reittherapie erhoben. Die Reduktion von Symptomen und eine Steigerung des Wohlbefindens durch die Therapie konnten als Ergebnisse festgehalten werden. Zudem wurde deutlich, dass die Reittherapie für die Befragten einen hohen Stellenwert hat, der u. a. durch die Ganzheitlichkeit der Therapie, die Anwesenheit des Pferdes und die Freude an der Therapie begründet wurde.
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52 | mup 2|2016|52-61|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2016.art10d Anne Karen Czerwonka, Simone Pülschen Bedeutsamkeit und Therapieerfolge Schlüsselbegriffe: Multiple Sklerose, Komplementärtherapie bei MS, Reittherapie, Wohlbefinden Gegenstand der vorliegenden Studie ist eine Befragung von 28 Klienten mit Multipler Sklerose. Im Fokus stand die persönliche Sicht der Befragten über Bedeutsamkeit und Therapieerfolg von Reittherapie sowie die Rolle des Pferdes für die Therapie. Die Angaben der Teilnehmer wurden mittels zweiteiligem Fragebogen an einem Tag mit bzw. ohne Reittherapie erhoben. Die Reduktion von Symptomen und eine Steigerung des Wohlbefindens durch die Therapie konnten als Ergebnisse festgehalten werden. Zudem wurde deutlich, dass die Reittherapie für die Befragten einen hohen Stellenwert hat, der u. a. durch die Ganzheitlichkeit der Therapie, die Anwesenheit des Pferdes und die Freude an der Therapie begründet wurde. Reittherapeutische Interventionen aus der Sicht von Personen mit Multipler Sklerose Czerwonka, Pülschen - Reittherapeutische Interventionen aus der Sicht von Personen mit MS mup 2|2016 | 53 Von Multipler Sklerose Betroffene nehmen häufig alternative und komplementäre Therapien (AKT) in Anspruch, um das allgemeine Wohlbefinden zu steigern und krankheitsbedingte Symptome zu reduzieren. Apel-Neu u. a. (2009, 21) konnten zeigen, dass darunter auch pferdegestützte Interventionen fallen, die bisher von 2,3 % der Befragten in Anspruch genommen werden. Die vorliegende Studie befasst sich mit pferdegestützten Interventionen bei Menschen mit Multipler Sklerose (MS) und zeigt, wo die Therapieerfolge aus Sicht der Betroffenen liegen, wie solche Interventionen zur Steigerung des Wohlbefindens beitragen und welche Rolle das Pferd in der Therapie spielt. Multiple Sklerose Multiple Sklerose ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen in Deutschland (Wiethölter 2006, 1005). Bei MS kommt es zu entzündlichen und degenerativen Veränderungen der Nervenzellen des zentralen Nervensystems, die zu Funktionsstörungen führen. Da die Lokalisation der Schädigungen im zentralen Nervensystem sehr unterschiedlich sein kann, sind auch der Krankheitsverlauf sowie die Symptome der Betroffenen sehr individuell (Krämer / Besser 2006, 12). Ein Überblick über häufige Symptome bei MS gibt Tabelle 1. Die Erkrankung geht oft mit großen körperlichen und sozialen Einschränkungen einher. Daher stellen die Verbesserung und der Erhalt der Lebensqualität wichtige Therapieziele für Menschen mit MS dar. Laut Robert Koch Institut (2015) spielt in der Betrachtung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität insbesondere auch die subjektive Sicht der betroffenen Personen auf ihre Situation eine bedeutende Rolle. Mit dieser Arbeit soll ein Beitrag zur Diskussion um pferdegestützte Therapie bei MS geleistet werden, der die Sicht der Betroffenen in den Fokus rückt. Pferdegestützte Interventionen bei MS: Begriffserklärung Das Deutsche Kuratorium für Therapeutisches Reiten (DKThR) beschreibt unter dem Begriff „Therapeutisches Reiten“ verschiedene Formen pferdegestützter Interventionen: die Hippotherapie, die Heilpädagogische Förderung mit dem Pferd, das Therapeutische Reiten im psychotherapeutischen Kontext und die ergotherapeutische Behandlung sowie den Pferdesport für Menschen mit Behinderung (Deutsches Kuratorium für Therapeutisches Reiten 2011, 17). Des Weiteren ist aber auch der Begriff „Reittherapie“ für pferdegestützte Interventionen gebräuchlich (Gomolla 2014, 5). Als AKT für Menschen mit MS stehen hauptsächlich therapeutische Interventionen im Vordergrund, bspw. in Form von Hippotherapie, wenn es vor allem um die Bewegungsanbahnung oder Verbesserung von Bewegungsstörungen geht oder auch die psychotherapeutische Arbeit mit dem Pferd, Tabelle 1: Symptome der Multiplen Sklerose (Wiethölter 2006; Hoffmann u. a. 2009) Symptome der Multiplen Sklerose Koordinationsstörungen Motorische Symptome (u. a. Gangstörungen, Ermüdung, Spastik) Schmerzen Sensibilitätsstörungen Störungen der Tiefensensibilität, Gleichgewichtsstörungen Optikusneuritis, Sehstörungen Psychische und kognitive Symptome (u. a. MS-Fatigue, Störungen des Gedächtnisses, Depressionen) Vegetative Funktionsstörungen (u. a. Blasenstörungen, Störungen des Darms) (Anmerkung: Die Tabelle nennt nur einige ausgewählte Symptome. Die Symptome der MS sind sehr vielgestaltig und u. a. abhängig von der Lokalisation des Erkrankungsherdes und dem Verlauf). 54 | mup 2|2016 Czerwonka, Pülschen - Reittherapeutische Interventionen aus der Sicht von Personen mit MS wenn eine psychische Beeinträchtigung vorliegt. Da MS viele Erscheinungsbilder hat, kommen, je nach Symptomatik, auch andere Formen des therapeutischen Reitens infrage. In Anlehnung an das DKThR wird in diesem Artikel der Begriff Reittherapie als Konglomerat aller Begrifflichkeiten in diesem Kontext verwendet. An dieser Stelle ist weniger die Differenzierung einzelner Maßnahmen vonnöten, als das Gemeinsame, welches alle Sparten der pferdegestützten Therapie haben: das Pferd als Medium und Co-Therapeut in der Therapie und seine Wirkung auf den Klienten. Finanzierung der Therapie Ein Aspekt, der für viele Menschen mit MS eine Rolle spielt, ist die Finanzierung der Therapie. Es besteht keine Anerkennung der Therapien mit dem Pferd seitens der Krankenkassen. Eine Kostenbeteiligung an der Therapie durch die Krankenkassen ist zwar über Ergotherapie- und Physiotherapierezepte möglich, die Mehrkosten für das Pferd und den größeren Aufwand tragen allerdings die Klienten selbst. Zudem muss hierfür die entsprechende Qualifikation des Therapeuten vorliegen. In der Praxis werden die Therapien meist aus privaten Mitteln bezahlt oder durch Spenden unterstützt. Die Wirkung des Pferdes auf den Menschen mit MS Bei allen reittherapeutischen Interventionen kommt dem Pferd ein besonderer Stellenwert zu, wenngleich noch nicht alle Punkte empirisch fundiert sind. Die Wirkungsweisen im Bereich der Reittherapie bei MS im Allgemeinen werden in der Literatur wie folgt beschrieben: ■ Die dreidimensionalen Bewegungen des Pferderumpfes erzeugen den Effekt, dass dem reitenden Menschen ein Bewegungsmuster zugeführt wird, welches dem menschlichen Gangbild entspricht (Riesser 1996, 8). So kann auch den Personen, die aufgrund von Krankheit oder Behinderung nicht mehr eigenständig in der Lage sind zu laufen, diese Bewegungserfahrung durch das Reiten ermöglicht werden und evtl. auch eine Verbesserung des Gangbildes erreicht werden. ■ Durch das Bewegt-Werden des Beckengürtels wird eine Tonusregulation hervorgerufen, welche zur Minderung von Spastiken führt (Wüthrich / Künzle 1978, 11). Eine verringerte Spastik ermöglicht es dem Patienten, Bewegungen wieder leichter durchzuführen. ■ Eine verminderte Muskelspannung wird durch die Bewegung des Pferdes tonisiert (Strauß 2000, 23). ■ Die Berührungspunkte von Pferd und Reiter bewirken über Druck und Gegendruck die Förderung der tiefensensiblen Wahrnehmung (Strauß 2000, 24). ■ Das Gleichgewicht wird durch den Dialog der Bewegungen zwischen Reiter und Pferd sowie durch das Ausbalancieren auf dem Pferderücken stimuliert (Strauß 2000, 23). Die dem Menschen zugewandte Art des Pferdes ermöglicht dem Menschen eine emotionale Kontaktaufnahme ohne Sorge vor Zurückweisung (Breiter 2009, 75), was auch dazu führen kann, dass die Therapiemotivation gesteigert wird (Riesser 1996, 8). Eine Übersicht der aktuellen Studienlage fasst die empirisch untersuchten positiven Effekte der Reittherapie bei Menschen mit MS zusammen (Tabelle 2). Reittherapeutische Interventionen wirken sich demnach nicht nur auf körperlicher Ebene, sondern auch auf psychischer Ebene aus, da die Klienten in der Reittherapie stets ganzheitlich angesprochen werden. Fragestellung und methodisches Vorgehen Die vorliegende Studie erfragt das aktuelle Wohlbefinden (Becker 1991) der Klienten und stellt dabei folgende Bereiche in den Vordergrund: Czerwonka, Pülschen - Reittherapeutische Interventionen aus der Sicht von Personen mit MS mup 2|2016 | 55 ■ die aktuelle Stimmung, ■ körperliche Empfindungen und ■ das Fehlen von Beschwerden. Folgenden untersuchungsleitenden Fragestellungen wird in der Studie nachgegangen: ■ Forschungsfrage 1: Welche Therapieerfolge der Reittherapie nehmen Mensch mit MS subjektiv war und wie erklären sie diese? ■ Forschungsfrage 2: Welche Bedeutung hat die Reittherapie für Menschen mit MS? Aus welchen Gründen nehmen sie diese Therapieform wahr? ■ Forschungsfrage 3: Welche Rolle nimmt das Pferd bzgl. subjektiv erlebter Therapieerfolge und der persönlichen Bedeutsamkeit dieser Therapie für Menschen mit MS ein? ■ Forschungsfrage 4: Werden Veränderungen der subjektiven Befindlichkeit durch die Reittherapie bei Menschen mit MS hervorgerufen? Die Befragung bestand aus zwei Teilen: Für den ersten Teil (Forschungsfragen eins bis drei) wurden alle Teilnehmer jeweils persönlich oder telefonisch befragt, wobei auch Angaben zur Person, Merkmale der Erkrankung sowie Informationen zur Reittherapie (Teilnahmefrequenz, Qualifizierung der Therapeuten etc.) erfragt wurden. Jeweils einen Ausschnitt aus dem Fragebogen zeigen die Abbildungen 1 und 2. Die Angaben der Teilnehmer zu Forschungsfrage vier wurden an einem Tag mit bzw. ohne Reittherapie erhoben, dabei wurde das Wohlbefinden anhand der Beurteilung verschiedener Aussagen und einer Adjektivcheckliste erfasst (siehe Abbildung 3). Dieser Teil der Datenerhebung wurde von den Teilnehmenden, die zur Zeit der Befragung eine Reittherapie wahrnahmen, an zwei verschiedenen Tagen zuhause ausgefüllt. Die Antwort erfolgte durch die Rücksendung der Fragebögen auf dem postalischen Weg im bereits frankierten Rückumschlag. Der Rücklauf des ersten Teils der Befragung lag aufgrund des persönlichen Kontaktes, der freiwilligen Meldung zur Teilnahme und des Interesses der Teilnehmer am Thema bei 100 %. Die Rücklaufquote des zweiten Teils der Befragung, Tabelle 2: Zusammenfassung der Studien zu reittherapeutischen Maßnahmen Positive Wirkung auf Sager u. a. 2008 Schneider u. a. 2010 Bronson u. a. 2010 Stromberger 2012 Taubert 2009 Schmidt/ Gomolla 2012 Gleichgewicht x x x x Spastik x x x Gehfähigkeit x x Schmerzen x Gangfähigkeit x x Lockerung der Muskulatur x Beweglichkeit x Koordination x Stehfähigkeit x Lebensqualität x x x Selbstständigkeit x Motivation x Vertrauen x Allgemeinzustand x Wohlbefinden x x Selbstwertgefühl x Freude / Begeisterung x (Anmerkung: Durch Kreuz markierte Zeilen beschreiben die in der jeweiligen Studie beschriebenen Verbesserungen durch die Therapie mit dem Pferd). 56 | mup 2|2016 Czerwonka, Pülschen - Reittherapeutische Interventionen aus der Sicht von Personen mit MS Welche Symptome treten bei Ihnen auf, und wie wirkt sich die Reittherapie auf diese Symptome aus? Symptome Verbesserung 0=keine Verbesserung 6=starke Verbesserung 0 1 2 3 4 5 6 Verschlechterung (wenn zutreffend bitte ankreuzen) betrifft mich nicht Störungen der Feinmotorik (z. B. beim Greifen oder Schreiben) Spastik in den Beinen Spastik in den Armen / im Oberkörper Schlaffe Lähmungen in den Armen Schlaffe Lähmungen in den Beinen Störungen der Sensibilität/ Empfindung in den Händen Störungen der Sensibilität/ Empfindung in den Füßen Schmerzen in den Armen/ Händen Schmerzen in den Beinen/ Füßen Tremor (Zittern) Sprachstörungen Störungen des Gleichgewichts Störungen der Koordination Probleme beim Gehen Ermüdung (Fatique) Sonstige: Wie stark führen Sie die Therapieerfolge auf die folgenden Faktoren zurück? (Bewerten Sie bitte alle aufgezählten Faktoren auf einer Skala von 0-6)  Faktoren, auf die Sie persönliche Therapieerfolge der Reittherapie zurückführen 0=trifft nicht zu; 6=trifft stark zu 0 1 2 3 4 5 6 Spaß an der Therapie Eigene Therapiemotivation Bewegungsabläufe, zu denen Reiten veranlasst (aufsteigen, absteigen etc.) Persönlichkeit des Therapeuten/ der Therapeutin Therapiemaßnahmen auf dem Pferd (Anweisungen/ Anleitungen des Therapeuten) Bewegungen des Pferdes Wärme des Pferdes Wesen des Pferdes (Freundlichkeit, Wertfreiheit …) Das Umfeld (Reithalle, freies Gelände …) Abwesenheit von Therapieräumlichkeiten Begegnungen mit anderen Menschen mit Multipler Sklerose Gespräche Vertrauen Sonstige: Abb. 1: Ausschnitt aus dem Fragebogen „Symptomcheckliste und Wirkung der Reittherapie auf die Symptome“ Abb. 2: Ausschnitt aus dem Fragebogen „Subjektive Sichtweise auf die Wirkfaktoren der Reittherapie“ der sich auf Unterschiede zwischen den Tagen mit bzw. ohne Reittherapie bezieht (Forschungsfrage vier), lag bei 78,5 %. Für die Befragung wurden Personen mit MS durch persönliche Kontaktaufnahme akquiriert, die zum damaligen Zeitpunkt an einer reittherapeutischen Intervention teilgenommen haben. Zusätzlich warb der Schleswig-Holsteinische Landesverband der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) über den DMSG- Newsletter sowie die Facebook-Seite der DMSG-SH freiwillige Teilnehmer für die Befragung. Stichprobe An der Befragung nahmen 28 Personen mit MS teil (22 Frauen und 6 Männer), die alle zum Zeitpunkt der Befragung zumeist einmal wöchentlich eine reittherapeutische Intervention absolviert oder Erfahrungen mit Reittherapie hatten. Die mittlere Altersstruktur lag bei den Frauen bei 50,5 Jahre (SD=9,9, min=36, max=66) und bei den Männern bei 52,9 Jahre (SD=6,9, min=35, max=66). Die Befragten nahmen durchschnittlich fünf Jahre an einer Reittherapie teil, die überwiegend privat (42,9 %), z. T. auch über Spenden (28,6 %) oder über eine Versicherung mitfinanziert wurde. Ungefähr die Hälfte der Befragten gab an, dass die Reittherapie im Gelände durchgeführt wurde, teilweise auch in der Reithalle oder an wechselnden Orten. Ergebnisse Die Ergebnisse zu den Therapieerfolgen, der Bedeutsamkeit der Therapie sowie die Bedeutung des Pferdes in der Therapie werden zuerst dargestellt (Forschungsfrage eins, Czerwonka, Pülschen - Reittherapeutische Interventionen aus der Sicht von Personen mit MS mup 2|2016 | 57 zwei und drei), bevor der Schwerpunkt der Ergebnisdarstellung sich auf den Bereich des aktuellen Wohlbefindens bezieht (Forschungsfrage vier). Unterschiede zwischen den Gruppen wurden mit dem Mann-Whitney-U-Test ermittelt. Forschungsfrage 1: subjektive Wahrnehmung von Therapieerfolgen Die Symptome der Befragten betreffend, zeigte sich ein sehr heterogenes Bild. Die Befragten schätzten Veränderungen der Symptome durch die Reittherapie auf einer Skala von 0-6 ein (wobei 0 keiner Verbesserung und 6 starker Verbesserung entspricht) und konnten zusätzlich eine Verschlechterung angeben. Hierbei ergab sich eine mittlere Verbesserung (M=3,0-4,99) der Symptome: Spastik in den Beinen (M=4,36), Gleichgewichtsstörungen (M=3,88), Probleme beim Gehen (M=3,58), Koordinationsstörungen (M=3,56) und Schmerzen in den Beinen / Füßen (M=3,56). Die Therapieerfolge (gleiche Skalierung) wurden in starkem Maße von den Befragten auf die Bewegungen des Pferdes (M=5,46), den Spaß an der Therapie (M=5,21), das Vertrauen in die Therapie (M=5,15) und die eigene Therapiemotivation (M=5,11) zurückgeführt. Forschungsfrage 2: subjektive Bedeutsamkeit der Reittherapie Insgesamt wurde durch die Befragung ein hoher Stellenwert der Reittherapie für die Klienten deutlich. Die Befragten beschrieben die Therapie als bedeutend aufgrund der Wirkung auf die körperliche Symptomatik (54,5 %) und auf das psychische Wohlbefinden (54,5 %). Auch das Pferd (45,5 %) und das Umfeld der Therapie (22,7 %) waren für die Befragten wesentliche Faktoren. Folgende Antworten wurden u. a. bei einer offenen Frage nach der Bedeutung der Reittherapie genannt: „Das Glücksgefühl wirkt lange nach“, „Erhöht das Lebensgefühl“, „Wirkt gegen das Gefühl, behindert zu sein“, „Reittherapie ist wie das Medikament, um die Gehfähigkeit zu erhalten“, „Dadurch besseres Laufen für mindestens einen Tag“, „Dient der Stabilisation der Rumpfmuskulatur und reduziert Spastik. Insgesamt wohltuende Anstrengung“, „Das Reiten hat mir meinen Gleichgewichtssinn wieder in Ordnung gebracht.“ Im Vergleich zu anderen Therapieformen, an denen die Befragten teilnehmen, wurde die Reittherapie von 52 % als persönlich bedeutender als andere Therapieformen und von 36 % als gleichwichtig zu anderen Therapieformen eingeschätzt. 12 % der Befragten stellten keinen Vergleich an. Die Hauptbeweggründe für die Teilnahme an der Reittherapie zeigt Tabelle 3. Fragebogen zur Tagesform Wie schätzen Sie den heutigen Tag ein? Ich fühle mich heute in der Lage, meinen Interessen nachzugehen. ja teilweise nein Ich fühle mich heute in der Lage, Verpflichtungen nachzugehen. ja teilweise nein Ich habe heute Schmerzen. ja teilweise nein Die Bewältigung meines Alltags gelingt mir heute. ja teilweise nein Der Umgang mit anderen Menschen bereitet mir heute Freude. ja teilweise nein Ich fühle mich gezwungen, Pausen einzulegen. ja teilweise nein Wie fühlen Sie sich heute? 1trifft nicht zu 2 3 4trifft teils zu 5 6 7trifft komplett zu locker energielos müde glücklich ausgeglichen niedergeschlagen kräftig tatkräftig optimistisch aktiv antriebsarm ungeduldig munter ängstlich beweglich zufrieden entspannt Abb. 3: Fragebogen zur Tagesform Durch die Befragung wurde ein hoher Stellenwert der Reittherapie für die Klienten deutlich. 58 | mup 2|2016 Czerwonka, Pülschen - Reittherapeutische Interventionen aus der Sicht von Personen mit MS Forschungsfrage 3: Bedeutung des Pferdes in der Therapie Das Pferd wird von den Klienten der Reittherapie als ein Faktor wahrgenommen, der die Therapieerfolge maßgeblich beeinflusst und große persönliche Bedeutsamkeit besitzt. Es stellt aufgrund seiner Bewegungen, der Wärme, die es beim Reiten ausstrahlt und seines Wesens einen Hauptgrund zur Wahrnehmung dieser Therapieform dar (siehe Tabelle 3). Die Befragten kommentierten die Bedeutung des Pferdes unter anderem folgendermaßen: „Das Einbeziehen eines Tieres in die Therapie ist bedeutend“, „Das, was einem das Pferd gibt, kann einem kein Mensch geben. Die Gefühle des Pferdes sind ehrlich“, „Die Beziehung zum Pferd ist sehr wertvoll“, „Ich bin motivierter durch das Pferd“, „Ich fühle mich auf dem Pferd beweglich. Sonst nicht“. Forschungsfrage 4: Vergleich der Befindlichkeit an Tagen mit und ohne Reittherapie Wie die Ergebnisse des zweiten Teils der Datenerhebung zeigen, wird das subjektive Wohlbefinden der Klienten durch die Reittherapie positiv beeinflusst. Nach der Therapieteilnahme fühlten sich die Befragten eher in der Lage, ihren eigenen Interessen sowie ihren Verpflichtungen nachzugehen. Ebenso gaben die Befragten an, ihren Alltag nach der Reittherapie erfolgreicher bewältigen zu können und nahmen darüber hinaus auch den Umgang mit anderen Menschen als freudvoller wahr. Die Wahrnehmung von Schmerzen und das Bedürfnis Pausen einzulegen, unterschieden sich nicht signifikant (siehe Tabelle 4). Bezüglich der Einschätzung der Befindlichkeit anhand der Adjektivcheckliste (siehe Abbildung 3) fühlten sich die Teilnehmer nach der Reittherapie weniger niedergeschlagen sowie kräftiger und optimistischer. Im Vergleich zu Tagen ohne Reittherapie waren sie zudem vermehrt locker, glücklich, ausgeglichen, aktiv, munter, beweglich, zufrieden und entspannt (siehe Tabelle 5). Diskussion und Ausblick Die Reittherapie wurde von den Befragten dieser Untersuchung als persönlich bedeutungsvoll eingeschätzt. Wie die Ergebnisdarstellung zeigt, wurden Verbesserungen im körperlichen und psychischen Bereich angegeben, womit die Reittherapie über eine Steigerung des Wohlbefindens die Lebensqualität der Betroffenen deutlich positiv beeinflusst. Tabelle 4: Ergebnisse der Einschätzung des Tages Item T1 T2 Interessen nachgehen können * 2,64 1,76 Verpflichtungen nachgehen können * 2,77 1,86 Schmerzen 2,32 1,57 Bewältigung des Alltags * 2,41 1,71 Umgang mit Menschen * 2,00 1,43 Pausen einlegen 3,52 2,76 (Anmerkungen: Skalierung: Je mehr das Ergebnis zu 1 tendiert, desto erfolgreicher die Therapie. T1=Mittelwert zum Messzeitpunkt 1 an einem therapiefreien Tag. T2=Mittelwert zum Messzeitpunkt an einem Tag nach der Reittherapie. Statistisch signifikante Werte ( α <0,05) sind mit * gekennzeichnet). Tabelle 3: Hauptbeweggründe zur Teilnahme an der Reittherapie Hauptsächlicher Beweggrund zur Therapieteilnahme Prozente Bewegungen des Pferdes und das Bewegtwerden durch das Pferd 92,9% Spaß an der Therapie 67,8% Wesen des Pferdes 53,8% Umfeld, in dem die Therapie stattfindet 48,1% Persönlichkeit des Therapeuten 48,0% Czerwonka, Pülschen - Reittherapeutische Interventionen aus der Sicht von Personen mit MS mup 2|2016 | 59 An erster Stelle wird das Pferd mit seiner Bewegung und seinem Wesen von den Befragten als Hauptgrund für die persönliche Bedeutsamkeit der Therapie sowie für deren subjektiv wahrgenommenen Erfolg angegeben. Daneben spielen auch das Umfeld, in dem die Therapie stattfindet und die Person des Therapeuten eine zentrale Rolle. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass diese Studie eindrucksvoll belegt, dass eine positive Beziehung sowohl zum Pferd als auch zum durchführenden Therapeuten ein integraler Bestandteil reittherapeutischer Interventionen ist. Bei diesen Befunden ist zu beachten, dass in der hier vorliegenden Studie ein subjektives Meinungsbild ermittelt wurde und die Ergebnisse auf der subjektiven Einschätzung der Befragten beruhen. Die Untersuchung fragte nicht, in welcher Qualität sich Symptome verbessern oder wie anhaltend diese Verbesserungen sind. Welche Ergebnisse eine objektive, physiologisch und medizinisch basierte Untersuchung erbringen würde, wäre sicherlich von Interesse. Des Weiteren wurde nicht zwischen den verschiedenen Arten reittherapeutischer Interventionen unterschieden. Die Ergebnisse zu diesen Themen sollten demnach weiter differenziert werden, um eventuelle Unterschiede herauszuarbeiten. In diesem Zusammenhang könnten weitere Studien ebenfalls Aufschluss über die Bedeutung der Beziehung (sowohl zum Therapeuten als auch zum Pferd) als Wirkfaktor im Therapeutischen Reiten geben. Obwohl die Empfindung der Klienten, dass sich eine Verbesserung der Symptomatik und der Befindlichkeit durch die Reittherapie einstellt, bereits als Therapieerfolg eingeschätzt werden kann, sollten gerade auch im Bereich der Symptomreduktion diese Ergebnisse anhand von objektiven Messverfahren tiefergehend betrachtet werden. Im Bereich der Steigerung des aktuellen Wohlbefindens wäre es interessant zu ermitteln, wie lange der positive Effekt anhält, da an dieser Stelle nur nach der Befindlichkeit direkt nach der Therapie gefragt wurde und es langfristig angelegter Studien bedarf, um den Einfluss einer reittherapeutischen Intervention auf das habituelle Wohlbefinden, im Sinne einer stabilen Eigenschaft, zu untersuchen. Vertiefende Ergebnisse könnten einen Beitrag dazu leisten, eine Anerkennung der Therapien seitens der Krankenkassen zu erreichen, um so immer mehr Klienten mit MS im Rahmen der AKT eine Reittherapie zu ermöglichen. Tabelle 5: Ergebnisse der Bewertung der Befindlichkeit Item T1 T2 locker * 3,77 5,18 energielos 4,55 5,00 müde 3,95 5,14 glücklich ** 4,73 5,90 ausgeglichen ** 4,38 5,77 niedergeschlagen * 5,27 6,27 kräftig * 3,50 4,68 tatkräftig 4,23 5,18 optimistisch * 4,49 5,67 aktiv ** 3,64 5,05 antriebsarm 4,33 5,14 ungeduldig 4,76 5,82 munter ** 3,90 5,55 ängstlich 6,09 6,45 beweglich ** 3,64 5,00 zufrieden ** 4,27 5,82 entspannt ** 4,24 5,55 (Anmerkungen: Skalierung 1=trifft nicht zu bis 7=trifft komplett zu. Je mehr das Ergebnis zu 7 tendiert, desto erfolgreicher die Therapie. T1=Mittelwert zum Messzeitpunkt 1 an einem therapiefreien Tag. T2 =Mittelwert zum Messzeitpunkt 2 an einem Tag nach der Reittherapie. Statistisch signifikante Werte ( α <0,05) sind mit * gekennzeichnet. Statistisch sehr signifikante Werte ( α <0,01) sind mit ** gekennzeichnet). 60 | mup 2|2016 Czerwonka, Pülschen - Reittherapeutische Interventionen aus der Sicht von Personen mit MS Literatur ■ Apel-Neu, A., Greim, B., König, N., Zettl, U. (2009): Alternative und komplementäre Therapien bei Multipler Sklerose. Nervenarzt, Suppl 1, 20-21, http: / / dx.doi.org/ 10.1007/ s00115-009-2749-6 ■ Becker, P. (1991): Theoretische Grundlagen. In: Abele, A., Becker, P. (Hrsg.): Wohlbefinden. Theorie, Empirie, Diagnostik. Juventa, Weinheim, 13-49 ■ Breiter, A. (2009): Therapeutisches Reiten in der Psychiatrie. In: Gäng, M. (Hrsg.): Reittherapie. 2. Aufl. Ernst Reinhardt, München / Basel, 67-83 ■ Bronson, C., Brewerton, K., Ong, J., Palanca, S., Sullivan, S. J. (2010): Does hippotherapie improve balance in persons with multiple sclerosis: a systematic review. European Journal of Physical and Rehabilitation Medicine, 46, 347-353. 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Sonderpädagogische Psychologie · Auf dem Campus 1 D-24943 Flensburg · Simone.puelschen@uni-flensburg.de Czerwonka, Pülschen - Reittherapeutische Interventionen aus der Sicht von Personen mit MS mup 2|2016 | 61 Lebensqualität und Schmerzempfinden. [Abstract] In: http: / / johannisberg.net/ wissenschaftliche-studien/ , 25.03.2015 ■ Strauß, I. (2000): Hippotherapie. Neurologische Behandlung mit und auf dem Pferd. Hippokrates, Stuttgart ■ Stromberger, L. (2012): Hippotherapie bei neurologischen Erkrankungen - Auswirkungen einer 30-minütigen Einheit auf die Standphase. Eine Anwendungsbeobachtung. Mitteilungsheft des Österreichischen Kuratoriums für Therapeutisches Reiten 2, 36-44 ■ Taubert, A. (2009): Reittherapie in Neurologie und Psychotherapie. Peter Lang, Frankfurt am Main ■ Wiethölter, H. (2006): Multiple Sklerose. In: Berlit, P. (Hrsg.): Klinische Neurologie. Springer, Heidelberg, 1105-1137, http: / / dx.doi. org/ 10.1007/ 3-540-31176-9_43 ■ Wüthrich, R., Künzle, U. 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