eJournals mensch & pferd international 9/3

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2017
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Praxistipp: Spielend in der Kraft

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2017
Armgard Schörle
Die Fähigkeit zu spielen gehört zu den ursprünglichsten Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen. Im Spiel ist eine Form von innerer Freiheit möglich, die nicht zwingend von äußeren Gegebenheiten abhängt. Körperliche oder soziale Einschränkungen können durch den Einsatz von Phantasie und Spielfreude aus einem anderen Blickwinkel wahrgenommen oder sogar als Chance erlebt werden. Die im Spiel freigesetzte Lebensenergie steht dem Spielenden als entwicklungsfördernde Kraft zur Verfügung. Im therapeutischen Kontext mit dem Pferd kommt die Verbundenheit mit der Natur des Pferdes als Erweiterung der Spielerfahrung hinzu.
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mup 3|2017|121-128|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2017.art20d | 121 Armgard Schörle Praxistipp Spielend in der Kraft Über die Wirksamkeit des „ursprünglichen Spiels“ und des „symbolischen Rollenspiels“ in der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd Die Fähigkeit zu spielen gehört zu den ursprünglichsten Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen. Im Spiel ist eine Form von innerer Freiheit möglich, die nicht zwingend von äußeren Gegebenheiten abhängt. Körperliche oder soziale Einschränkungen können durch den Einsatz von Phantasie und Spielfreude aus einem anderen Blickwinkel wahrgenommen oder sogar als Chance erlebt werden. Die im Spiel freigesetzte Lebensenergie steht dem Spielenden als entwicklungsfördernde Kraft zur Verfügung. Im therapeutischen Kontext mit dem Pferd kommt die Verbundenheit mit der Natur des Pferdes als Erweiterung der Spielerfahrung hinzu. Im nachfolgenden Beitrag soll nun dem entwicklungsfördernden Potenzial nachgegangen werden, das in der Verbindung von ursprünglichem Spiel, symbolischem Rollenspiel und der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd liegen kann. Die schöpferische Dimension des symbolischen Rollenspiels Leise und konzentriert schleicht Pauline am Waldrand entlang durch das hohe Gras. Ihre Wangen glühen vor Aufregung. In einigem Abstand folgt ihr das hellbraune Islandpony am locker durchhängenden Strick. Paulines Haare sind zu zwei Zöpfen geflochten und um die Stirn trägt sie ein selbstgebasteltes, leuchtend buntes Stirnband. Als es irgendwo in einiger Entfernung zwischen den dicht stehenden Bäumen knackt, duckt sich Pauline rasch hinter einen Busch und bedeutet mir mit einer Bewegung, dasselbe zu tun. Pauline ist neun Jahre alt und kommt seit drei Jahren zum heilpädagogischen Reiten, um im Kontakt mit dem Pferd mehr Selbstvertrauen zu gewinnen. Sie lebt im nahegelegenen Kinderheim, da sie schon früh beide Eltern verloren hat. Wenn wir nicht gerade Geschichten wie die des geheimnisvollen Indianerstammes, der in den Wäldern lebt, spielen, reitet sie in einer Reitgruppe zusammen mit drei anderen Mädchen. In diesen Reitstunden orientiert sie sich gerne am ältesten Mädchen der Gruppe. Ihr Pferd selbständig zu führen, traut sie sich meistens noch nicht zu. Aber heute ist ihr großer Tag: In der beschriebenen Spieleinheit hat Pauline als junge Spurensucherin des Indianerstammes die Aufgabe, vorauszugehen, um die Spuren eines fremden Pferdediebes zu finden. Dabei hilft ihr ihr außergewöhnlich gutes Beobachtungsvermögen. Wenn sie während des Unterrichts auf dem Reitplatz manchmal gedankenverloren am Rand steht und sich nicht in die Nähe des Pferdes wagt, dann beobachtet sie. In der Begegnung mit dem Pferd fällt auf, wie differenziert sie die Mimik oder Körperspannung des Pferdes erkennen und deuten kann. Was von außen betrachtet als Inaktivität gedeutet werden könnte, ist tatsächlich ein hochaktives, aber im Moment noch überwiegend nach innen gerichtetes Erleben. In der oben beschriebenen Spieleinheit kommen ihre Beobachtungen der letzten Wochen nun zum Tragen. Als sie im Rahmen der 122 | mup 3|2017 Praxistipp: Schörle - Spielend in der Kraft Spielvorbereitung und Rollenfindung von mir und den anderen Kindern der Gruppe auf ihre Besonderheit angesprochen wird, findet sie den Mut, als Indianerin „Klares Auge“ mit ihrem Pony „Stille Feder“ vorauszugehen. Ich als ihre persönliche Begleiterin bleibe in meiner Rolle als „Schützender Bär“, aus der heraus ich bei Bedarf helfend eingreifen kann, im Hintergrund und warte ab, ob sie meine Unterstützung braucht. Die anderen Kinder der Gruppe werden unterdessen von einer Kollegin begleitet. Dieses Über-sich-Hinauswachsen oder Übernehmen einer neuen Aufgabe innerhalb einer frei gewählten Rolle ist ein Phänomen, das ich in der Arbeit mit Kindern und Pferden im symbolischen Rollenspiel immer wieder beobachte. Was zuvor als eigene Begrenzung oder Unvermögen erlebt wird, kann durch eine andere Ebene des Erlebens neu wahrgenommen oder im besten Fall sogar als Stärke erlebt werden. So kann allein die Vorstellung einer anderen Wirklichkeit neue Erlebnisräume, aber auch tatsächliche Fähigkeiten im Kind erschließen. Am eindrücklichsten war für mich als Reittherapeutin in diesem Zusammenhang die Erfahrung mit einem elfjährigen Mädchen (es ist seit seiner Geburt durch „Spina bifida“ an den Rollstuhl gebunden), das sich im Rahmen eines zweijährigen integrativen Zirkusprojektes wünschte, die Rolle der „Tanzenden Fortuna“ zu übernehmen. Nach anfänglicher Ratlosigkeit bei uns Reittherapeuten, wie wir ihr so eine Erfahrung ermöglichen könnten, „tanzte“ sie bei der abschließenden Aufführung mit ausgebreiteten Armen und leuchtenden Augen zu Flamencoklängen, auf ihrem Islandpony sitzend, durch die Manege. Es war ihr über den Zeitraum der Proben gelungen, ihre inneren Bilder und ihre Begeisterung in die tatsächliche Situation zu übertragen. Und jeder der Anwesenden konnte erkennen, wie real dieses Gefühl des Tanzens in ihr geworden war, obwohl sie nicht auf ihren eigenen Beinen zu stehen vermochte. Jung (1972, 76) erklärt in Bezug auf die starke Wirkung dieser inneren Bilder den Begriff der „aktiven Imagination“ - gegenüber dem der passiven Imagination, die als Bilder und Wahrnehmungen aus dem Inneren aufsteigt und auf die der Betreffende nur bedingt Einfluss nehmen kann. Mithilfe der aktiven Imagination kann ein Mensch innere Bilder selbstbestimmt lebendig werden lassen. Indem er zum Beispiel mit inneren Figuren oder Stimmen in Kontakt tritt oder sie zum Sprechen bringt, werden tiefere Schichten seiner Psyche aktiviert. So kann er sich bewusst mit Bildern aus seinem Unterbewussten auseinandersetzen. Er kann andere Handlungsoptionen oder Lösungen imaginieren und dadurch bisher ungenutzte Aspekte seiner Person integrieren. Über die reine Imagination hinausgehend, spannt Corbin (1958, 118) den Bogen der Verbindung von der imaginierten zur real sichtbaren Welt. In „L´imagination créatrice dans le soufisme d´Ibn ´Arabi“ äußert er den schönen Gedanken: „[D]ie Imagination vermittelt zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, zwischen physischer und geistiger Welt. Sie macht es uns möglich, in einem Menschen auch das göttliche Wesen, das Praxistipp: Schörle - Spielend in der Kraft mup 3|2017 | 123 sich in ihm ausdrückt, zu erkennen und zu lieben“ (Corbin 1958, 118). Dies ist ein Gedanke, der für uns als Pädagogen oder Therapeuten schon lange vor Beginn der eigentlichen Spieleinheit an Bedeutung gewinnt. Indem wir auf diese Weise wohlwollend an das Kind denken und hinter einem vielleicht anstrengenden Verhalten seine Feinheit, seinen Mut oder seine verborgene Sehnsucht sehen können, eröffnet sich uns eine neue Möglichkeit der wertschätzenden, inneren Haltung dem Kind gegenüber. Diese Haltung steht in Verbindung mit einem Blick, der wach, offen und im Grundsatz freilassend ist. Es ist ein Blick, der auf das konkret erkennbare Verhalten gerichtet, aber zugleich offen ist für das dahinterliegende Wesen des Kindes. Es ist eine innere Haltung, die nicht wertet, sondern „für möglich hält“ und die das Kind darin bestärkt, zunehmend in seine eigene Entwicklungsfähigkeit zu vertrauen. Noch einen Schritt weiter geht Jakob Levi Moreno (1973), der Begründer des Psychodramas. Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen wertschätzenden Haltung entwickelt er eine neue Herangehensweise für das Spiel im Theater und in Form des Rollenspiels auch für die therapeutische Arbeit. Im Psychodrama werden die inneren Bilder nicht nur in der Vorstellung wachgerufen, sondern im gemeinsamen Spiel physisch erlebbar gemacht. Alternative Lösungsoptionen können erdacht und darüber hinaus in der Interaktion mit der Gruppe zum Leben erweckt werden. Weiterführend haben Aichinger / Holl (1997) in ihrer Arbeit mit Kindergruppen die besondere Form des symbolischen Rollenspiels entwickelt. Indem das Spielgeschehen und die Rollenwahl nicht mehr an die Rekonstruktion des Alltagserlebens gebunden sind, kann sich das Kind in alternativen, symbolischen Rollen und Bildern erproben. Fiktive Gestalten, Märchenfiguren oder Wesen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten geben ihm die wertvolle Möglichkeit, sich selbst in einer neuen Weise zu erleben. „Im symbolischen Rollenspiel entdeckt das Kind die schöpferische Dimension und verweist die konkrete Existenz in ihre wahren Schranken, eben dorthin, nur eine Welt, nur eine Wirklichkeit unter vielen möglichen zu sein. Dadurch nimmt das Kind teil an der Schöpferkraft und gewinnt dem eigenen Leben gegenüber die Perspektive des schöpferisch Tätigen. So wird das symbolische Rollenspiel zu einem Ort der Neugeburt, zu einem anderen, befriedigenderen Leben.“ (Aichinger / Holl 1997, 12) Die als sogenannte „konkrete Existenz“ beschriebene Wirklichkeit eines Kindes wie zum Beispiel jene von Pauline kann im Alltag oft recht traurig aussehen. In der Schule, ebenso wie in der Wohngruppe wird Pauline aufgrund ihrer Zu- 124 | mup 3|2017 Praxistipp: Schörle - Spielend in der Kraft rückgezogenheit von den anderen Kindern meistens gemieden. Eine Wirklichkeit, in der ihre Fähigkeiten gefragt sind oder in der sie gebraucht wird, ist ihr bis dahin fremd und unvorstellbar. Im besten Fall nimmt man Rücksicht auf sie und ihre Zurückgezogenheit. Indem sie nun durch das Übernehmen einer von ihr selbst erdachten und von der Gruppe getragenen Rolle eine neue Erfahrung macht, kann sich auch ihre Selbstwahrnehmung verändern. Selbst wenn es sich in der Spielsituation nur um eine ausgedachte Geschichte handelt, so sind ihre Erlebnisse doch sehr realer Natur und erlauben ihr, neue Handlungsmöglichkeiten in sich zu entdecken: Sie macht die tatsächliche, physische Erfahrung, dass sie das Pferd selbständig führen kann, sie bekommt von den anderen Kindern der Gruppe die Rückmeldung, dass ihr diese Aufgabe zugetraut wird, und sie erfährt vom Pferd, dass es ihr vertraut und folgt. Zurück zum Ursprung - die Verbindung von ursprünglichem Spiel und symbolischem Rollenspiel Aichinger / Holl (1997) stellen daher in ihrer Arbeit auch die heilsame Kraft der möglichen realen neuen Erfahrung in den Mittelpunkt. In ihrem Beitrag, „Zurück zum Ursprung“ beschreiben sie den Weg über das symbolische Rollenspiel zurück zur freien Kraft und Spielfreude des Kindes. „Das symbolische Rollenspiel ist nicht nur die kreativ verfremdete Inszenierung eines Konfliktes, sondern auch die aktive Umsetzung und Bearbeitung von Erfahrungen und somit immer auch ein Stück Bewältigungsarbeit. Damit ist die therapeutische Gruppenarbeit in ein entwicklungstheoretisches Modell gestellt, und die kooperative gegenseitige Hilfe innerhalb der Gruppe wird als ein wesentlicher Heilfaktor gesehen“ (Aichinger / Holl 1997, 12). In ihrer langjährigen Praxiserfahrung mit therapeutischen Kindergruppen haben sie folgende Grundgedanken für den Einsatz des symbolischen Rollenspiels in Kindergruppen herausgearbeitet: Meine ersten persönlichen Erfahrungen mit dieser Form des Psychodramas im Rahmen der Ausbildung bei Aichinger und Holl haben einen nachhaltigen Veränderungsprozess meiner eigenen Haltung als Therapeutin / Pädagogin ausgelöst. Angefangen beim potenzialorientierten Gruppenprozess, der für die Einigung und Wahl der Spiel-Metaphern und Rollen erforderlich ist, bis hin zu den Interventionsformen, die ebenfalls auf der symbolischen Spielebene und nicht aus einer außenstehenden Leitungsebene heraus stattfinden, tat sich für mich ein neues therapeutischen Handlungsfeld von unschätzbarem Wert auf. Methode: Im symbolischen Rollenspiel mit Kindern werden traumatische, konflikthafte Lebenssituationen auf der symbolischen Ebene bearbeitet. Ziel: Im Mittelpunkt steht die Erschließung neuer Handlungsmöglichkeiten und die Förderung von Sozialkompetenz und Selbstwahrnehmung. Leitung: Im Idealfall eine männliche und eine weibliche Leitungsperson, die ebenfalls Rollen und Aufgaben auf der Symbolebene übernimmt. Themenwahl: Die Gruppe findet, mit Unterstützung der Leiter, ihr eigenes Spielthema. (Märchen, Abenteuer, Heldengeschichten usw.) Rollenwahl: Jedes Kindes wählt seine Rolle. Die Therapeuten / Therapeutinnen unterstützen und begleiten die Rollenfindung. Strukturierung: Die Absprachen in Bezug auf das Setting (Zeitrahmen, Spielraum, Requisiten) findet vor der Spieleinheit statt. Interventionen: Zum Spielablauf und zur Ausgestaltung der Rollen finden auf der symbolischen Spielebene die für Kindergruppen abgewandelten psychodramatischen Grundtechniken statt. Symbolisches Rollenspiel Praxistipp: Schörle - Spielend in der Kraft mup 3|2017 | 125 Im heilpädagogischen Reitunterricht hatte ich mich bis dahin oft mit der Diskrepanz zwischen dem Wunsch und der realen Möglichkeit mancher Kinder konfrontiert gesehen: „Ich will alleine galoppieren! “ oder „Ich kann schon selbst mit dem Zügel reiten.“ Realität und Wunschbild waren oft so weit voneinander entfernt, dass der Weg dorthin kaum gangbar erschien. Andererseits zeichneten sich eben diese Situationen immer wieder durch eine enorm hohe Motivation seitens der Kinder aus. Diese Motivation und Energie wird im symbolischen Spiel als Antriebskraft für eine neue Ebene des Erlebens genutzt, wie eingangs am Beispiel der „Tanzenden Fortuna“ beschrieben. Nun könnte man natürlich auch ebenso gut die Haltung vertreten, dass die Realität eines Kindes im Rollstuhl eben diese ist, dass es nicht auf seinen Beinen stehen und von daher auch nicht tanzen kann. Wer aber selbst schon einmal die Erfahrung gemacht hat, einen lange gehegten Traum zur Erfüllung zu bringen, oder dieses bei einem anderen Mensch beobachten konnte, der weiß, wie viel Lebensfreude und Entwicklungspotenzial dadurch freigesetzt werden kann. Es geht hierbei nicht um ein oberflächliches Haben- Wollen, sondern um Wünsche, die den Kern eines Menschen berühren. So reifte über die Jahre diese hier beschriebene Form der Verbindung von symbolischem Rollenspiel mit der therapeutischen Arbeit mit dem Pferd. Chancen und Herausforderungen im ursprünglichen und symbolischen Rollenspiel mit Kindern und Pferden Die tiefgreifendste Veränderung in der praktischen Arbeit konnte ich im Zusammenspiel der Kinder untereinander sowie in ihrem Umgang mit dem Pferd beobachten. Es schien, als wäre durch die Spielebene eine neue Qualität an Verantwortung für das gemeinsame Erleben möglich geworden. „Im Spiel wissen wir, dass wir Teil eines größeren Zusammenhangs sind. Wir fühlen uns zutiefst darin bestätigt, dass wir Anderen Zuwendung geben können und es wert sind, selbst Zuwendung zu bekommen. Durch Berührung im Spiel erleben wir unzählige Leben als eines“ (Donaldson 2007, 207). Die Besonderheit des Settings, in dem das Pferd zum „Mitspieler“ wird, bedarf einer ausführlicheren Betrachtung. Pferde, wenn sie ihrer Natur gemäß leben dürfen, sind von ihrem Wesen her neugierig und gesellig, was zuerst einmal ausgezeichnete Voraussetzungen für einen Mitspieler sind. Andererseits lebt das Pferd im gemeinsamen Spiel auch seine autonome Seite. Spielabläufe können mit ihm nicht vorausgeplant und ausgehandelt werden. Es kann im Gegenteil sogar sein, dass das Pferd eigene, scheinbar dem Spiel entgegenwirkende Impulse einbringt: Vielleicht möchte es lieber fressen als jemanden zu tragen oder lieber zur Herde zurück, als alleine mit einem Kind durch den Wald schleichen. Wie also können wir das Pferd einerseits seinem Wesen gemäß behandeln und es andererseits als Mitspieler gewinnen, der dem Kind seine Unterstützung schenkt? Die entscheidenden Anregungen zu dieser nicht ganz einfachen Fragestellung habe ich von Fred Donaldson bekommen, einem amerikanischen Pädagogen und Lehrer, der nicht nur mit Kindern, sondern auch mit vielen Tierarten dieser Erde auf beeindruckende Art und Weise spielt. Der große Respekt für sein jeweiliges Gegenüber, den Spielpartner, ist in seinen Ausführungen der Schlüssel für eine gute Spielbegegnung. Sich auf die Ebene des Kindes, und in unserem Fall zusätzlich auf die Wahrnehmungsebene des Pferdes, zu begeben, ist die unabdingbare Voraussetzung, um zu verstehen, wie Spiel gelingen kann. Deshalb gehen wir als Erwachsene im ursprünglichen Spiel, ebenso wie im symbolischen Rollenspiel, mit auf die Spielebene. „Nur ebenbürtige und ehrliche Spielpartner können sich gegenseitig vertrauen und berühren lassen“ (Donaldson 2007, 217). In Donaldsons Beschreibungen von Begegnungen im ursprünglichen Spiel mit unterschiedlichsten Menschen 126 | mup 3|2017 Praxistipp: Schörle - Spielend in der Kraft und Tieren gibt es einen wichtigen roten Faden, der meines Erachtens auf die Spielsituation mit Kindern und Pferden übertragbar ist. So kann man feststellen, dass die Spiel-Energie eine sehr freilassende Energie ist. Jeder Spielpartner ist vollständig autonom in seiner Entscheidung darüber, wann und auf welche Weise er in die Spielbegegnung eintritt. Hierzu gehören neben der freien Entscheidung über Nähe und Distanz auch der selbst gewählte Zeitpunkt und die Selbstbestimmtheit in Bezug auf den Grad der Initiative. Es gibt also keine Verpflichtung in Bezug auf Art und Weise der Teilnahme am Spiel. Diese Freiheit kann zu Beginn einige Verunsicherung bei den Beteiligten auslösen. Was ist, wenn ein Kind zum Beispiel über mehrere Stunden nur zuschauen will; ist es dann überhaupt noch Teil der Gruppe? Oder wie geht man mit einer Situation um, in der ein Kind die Grenzen und Bedürfnisse von Mitspielern (von anderen Kindern oder des Pferdes) nicht respektiert? Bei Donaldson (2007) fällt hierzu die Ernsthaftigkeit in den Begegnungen auf, die sich besonders auf das Ernstnehmen des Partners in all seinen Facetten bezieht. So geht diese Art der Begegnung im ursprünglichen Spiel weit über ein momentanes Wohlfühl-Erlebnis hinaus, da es tiefe und oftmals auch neue Verknüpfungen mit dem Wesenskern des jeweiligen Menschen schafft. Meine Erfahrungen mit Konfliktsituationen der zuvor genannten Art haben mir Folgendes gezeigt: Je mehr es gelingt, eine nicht wertende Haltung dem Kind gegenüber einzunehmen (durch entsprechende Rollenwahl, durch ein potenzialorientiertes Setting, durch stützende Interventionen auf der Symbolebene) und ihm damit Raum zur Selbstwahrnehmung zu ermöglichen, umso mehr verschiebt sich die Verantwortung für das Gelingen der Spielsituation hin zum Kind. Der Wunsch, mitspielen zu können und das Bedürfnis, dazuzugehören, sind nicht zu unterschätzende Antriebskräfte, die wesentlich zu einer gelingenden Spielsituation beitragen. Auf diese Weise können tragfähige Lösungen gefunden werden, die sich nicht mehr nur auf das Einhalten von Regeln stützen müssen. Hierzu noch ein kleines Beispiel: Atorka, eine feingliedrige, recht schreckhafte Islandstute, hat große Angst vor flatternden Gegenständen. Regenmäntel, Tücher oder flatternde Planen müssen während der Reitstunde regelmäßig entfernt oder gesichert werden. Auch mehrfaches Üben hat daran bisher nichts ändern können. In einer Spieleinheit zum Thema Zirkus wollen die Kinder ihre Mähne zur Aufführung unbedingt mit leuchtenden Tüchern schmücken. Mit einer auf der alltäglichen Ebene noch nie erlebten Geduld zeigen zwei ansonsten recht lebhafte 12-jährige Kinder der Stute die Tücher. Dabei erzählen sie ihr vom Zirkus und der großen Aufführung, einfühlsam und ausdauernd, bis es ihnen schließlich gelingt, die Tücher vorsichtig einzuflechten. Aufgrund der Komplexität des Settings im Spiel mit Kindern und Pferden ist es sinnvoll, zu Beginn nur kleine spielerische Elemente in die Begegnungen mit dem Pferd einfließen zu lassen (siehe Spielvorschläge unten), um zu jedem Zeitpunkt bewusst und achtsam mit der eigenen Rolle als Therapeut/ Pädagoge und der der mitspielenden Kinder und Pferde umgehen zu können. Denn es ist besonders jene achtsame Präsenz, die eine gute Erfahrungsqualität für alle Beteiligen möglich macht. Mit wachsendem Vertrauen in die neue Ebene der spielerischen Begegnung Praxistipp: Schörle - Spielend in der Kraft mup 3|2017 | 127 kann auch die Selbstverständlichkeit im Spiel, die wir als Menschen ja ursprünglich alle mitbringen, wieder wachsen. Leichtigkeit und Freude im gemeinsamen Erleben sind die Geschenke, die wir dafür erhalten. Zusammenfassende Überlegungen Vorbereitende Anregungen für die Reise in die Welt des Spiels für den Therapeuten / Pädagogen von Fred Donaldson (2007, 216 f): „Komm auf den Boden, sei still, sei aufmerksam, sei ein Anfänger von ganzem Herzen, erwarte nichts und sei für alles bereit, lass los, hab keine Angst vor dem Leben, alles Leben ist aus dem ein und demselben Stoff, sei in Berührung mit dem was geschieht.“ Das Pferd lebt - für das Kind sichtbar - im Spiel seine authentische Seite. Es bringt Wohlbehagen, Neugier, Unwohlsein, Hunger, Wunsch nach Kontakt unzensiert zum Ausdruck. Das kann Themen beim Kind anrühren wie „Darf ich das auch? “, aber auch Kränkung darüber auslösen, dass das Pferd sich scheinbar abwendet, oder Glück, wenn es sich dem Kind aus freien Stücken zuwendet. Auf der Spielebene können diese Aspekte angesprochen, auf narrative Weise aufgegriffen und für den jeweiligen Prozess genutzt und integriert werden. Die hohe Eigenverantwortlichkeit des Kindes gegenüber der Gruppendynamik und gegenüber dem Pferd fordern es in seiner sozialen Kompetenz und Selbstwahrnehmung. Deshalb sind eine gewisse Ich-Stabilität, Gruppenerfahrung und eine Grundsicherheit im Umgang mit dem Pferd Voraussetzungen für die Teilnahme in einer Spiel- / Reitgruppe. Weniger geeignet ist dieses Setting (bzw. bedarf es einer besonderen Gestaltung) bei Kindern mit sehr schwach ausgeprägter Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie bei sehr ängstlichen Kindern. Die symbolische Spielebene als methodisches Mittel unterstützt den Gruppenprozess, indem sie Reframing erlaubt und neue Erlebnisräume öffnet. Demgegenüber wirkt sich der reale Bezug zum Pferd eher erdend aus und schafft Verbundenheit. Beide Aspekte können, entsprechend dem Entwicklungsprozess der Gruppe, in das Spiel einfließen. Lösungsoptionen, die den Erfahrungstransfer in das alltägliche Leben möglich machen (siehe das anfängliche Beispiel von Pauline), können auf der Spielebene gemäß den Bedürfnissen des Kindes / der Kinder erprobt werden. Ein langfristig angelegter Prozess, der das Kind aus der Rolle des Behandlungsbedürftigen in seine Selbstbestimmtheit entlässt, kann beginnen. Die Motivation zum Mitspielen ist die Freude am gemeinsamen Erleben. Die gemeinschaftliche Themen- und Rollenfindungsphase ist in Bezug auf die Tragfähigkeit der Spielphase von großer Bedeutung. Hier lohnen sich Geduld und Fingerspitzengefühl, bis jedes Kind seine ihm gemäße, selbstbestimmte Position im Spiel gefunden hat. Praxisbeispiele 1. Um in einem ersten Schritt aus der Rolle als Lehrer / Therapeut herauszutreten und dem Kind ein größeres Maß an Eigenverantwortung zu übertragen, sind Figuren (für den Therapeuten) wie „die gute Fee“, „der alte Bär“ oder „der Stallbursche“ geeignet, die vom Kind nur auf Abruf zur Hilfe geholt werden. 2. Ebenso kann das Kind als Einstieg in die Spielebene bereits bekannte Aufgaben in einer neuen, von ihm selbst gewählten Rolle bewältigen: Als „Spurensucher“, als „Forscher“, als „Pferdeflüsterer“, als berühmter „Pferdezüchter“, als „Waldelfe“. Das ermöglicht neue Handlungsoptionen und gibt Aufschluss über die Bedürfnisse und die Selbstwahrnehmung des Kindes. 3. Indem wir Plätze, zu denen wir reiten, zu besonderen Orten werden lassen, kann allein der - ganz normale - Weg dorthin zu einer neuen Erfahrung werden, die dann auch Grundlage für eine weiterentwickelte Geschichte werden kann: der „geheime See im Wald“ mit besonderen Kräften, der „einsame Baum auf dem Berg“, zu dem es bisher noch kein Mensch gewagt hat zu gehen, das „Pferde-Schlaraffenland“ usw. 4. Ebenso können ganz „normale“ Wege durch kleine Geschichten zu Wegen mit besonderem Erfahrungspotenzial werden: der „Indianer-Weg der Hindernisse“, der „Pfad des geheimen Wissens“, die „Reise durch das Land der Abenteuer“ (Schörle 2000, 143 f). 128 | mup 3|2017 Praxistipp: Schörle - Spielend in der Kraft Die Autorin Armgard Schörle Psychodramatherapeutin, Reitpädagogin, Autorin und Fortbildnerin (mit Themen wie „Spielend in die Kraft“, „Kreatives Schreiben“, „Perspektiv- und Potenzialaufstellungen“). Anschrift Armgard Schörle · Oberriedgarten 10 D-88353 Kisslegg im Allgäu · armgard@schoerle.de 5. Beim Reiten im „Zauberkreis“ oder im „Traumkarussell“, kann / können das Kind / die Kinder einer Gruppe auf einem gemeinsam geschmückten Pferd (abwechselnd) in einem Kreis geführt werden. Begleitet von einer schönen Musik hat das Kind Zeit und Raum, sich seinen eigenen inneren Bildern anzunähern, dem, was es sich mit dem Pferd wünscht, der Rolle, die es gerne einmal spielen würde, der Zeit, in der es leben würde usw. Diese Einheit kann als Einstieg in die Spielebene, zur Rollenfindung oder als Abschlusselement einer Reiteinheit genutzt werden. Literatur ■ Aichinger, A., Holl, W. (1997): Psychodramagruppentherapie mit Kindern. Grünwald, Mainz ■ Aichinger, A., Holl, W. (1993): Zurück zum Ursprung, in: Variationen des Psychodramas. Limmer, Meezen ■ Corbin, H. (1958): L’Imagination Creatrice dans le Soufisme. Flammarion, Paris ■ Donaldson, F. (2007): Von Herzen spielen. Grundlagen des ursprünglichen Spiels, Arbor, Freiburg ■ Fryszer, A. (1995): Das Spiel bleibt Spaß. Scenario, Köln ■ Jung, C. G. (1972): Briefe: 1946-55. Band II, Hrsg. Jaffe, A., Adler, A. (Hrsg.). Olten, Olten ■ Kautter, H. (1998): Das Kind als Akteur seiner Entwicklung. Schindele, Heidelberg ■ Moreno, J. L. (1973): Gruppenpsychotherapie und Psychodrama. Thieme, Stuttgart ■ Schörle, A. (2000): PferdeTräume - ganzheitliche Ansätze im Reitunterricht mit Kindern. Buchund-Bild, Nagold ■ Wirl, C. (1999): Es war einmal…über das Erfinden von Märchen und (therap.) Geschichten. Borgmann, Dortmund