eJournals mensch & pferd international 9/4

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2017
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Forum: Neurobiologische Grundlagen der Motorik

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2017
Imke Urmoneit
Für die Gestaltung von Interaktionen mit sich selbst und der Umwelt ist der Mensch auf die zentrale Fähigkeit der Bewegung angewiesen. Motorische Abläufe werden auf der Grundlage neuronaler Prozesse im Gehirn gestaltet und sind eng mit dem emotionalen Erleben und dem bewussten Denken verknüpft. Anhand eines Fallbeispiels aus der heilpädagogischen Förderung wird im ersten Teil dargestellt, wie das Gehirn Reize aufnimmt, verarbeitet und durch das Abrufen gespeicherter motorischer Muster beantwortet. Im zweiten Teil folgt die Beschreibung einer Förderplanung auf der Basis der zuvor beschriebenen neurobiologischen Abläufe im Gehirn. Durch das Nachvollziehen der neuronalen Prozesse wird es für die Reitpädagogin möglich, Rückschlüsse auf den Entwicklungsprozess zu ziehen und Interventionen auszuwählen, die es dem Klienten ermöglichen, fehlende Kompetenzen im Rahmen angemessener Herausforderungen aufzubauen.
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mup 4|2017|167-176|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2017.art25d | 167 Forum Neurobiologische Grundlagen der Motorik Die Bedeutung der Bewegung in der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd Imke Urmoneit Für die Gestaltung von Interaktionen mit sich selbst und der Umwelt ist der Mensch auf die zentrale Fähigkeit der Bewegung angewiesen. Motorische Abläufe werden auf der Grundlage neuronaler Prozesse im Gehirn gestaltet und sind eng mit dem emotionalen Erleben und dem bewussten Denken verknüpft. Anhand eines Fallbeispiels aus der heilpädagogischen Förderung wird im ersten Teil dargestellt, wie das Gehirn Reize aufnimmt, verarbeitet und durch das Abrufen gespeicherter motorischer Muster beantwortet. Im zweiten Teil folgt die Beschreibung einer Förderplanung auf der Basis der zuvor beschriebenen neurobiologischen Abläufe im Gehirn. Durch das Nachvollziehen der neuronalen Prozesse wird es für die Reitpädagogin möglich, Rückschlüsse auf den Entwicklungsprozess zu ziehen und Interventionen auszuwählen, die es dem Klienten ermöglichen, fehlende Kompetenzen im Rahmen angemessener Herausforderungen aufzubauen. Die Heilpädagogische Förderung mit dem Pferd (HFP) basiert in erster Linie auf dem Bewegungsdialog und der Beziehungsgestaltung. Diese beiden Grundelemente sind im sozialen Geschehen zwischen dem Pferd, der Pädagogin und den Klienten eng miteinander verknüpft. Einen Dialog in der Bewegung miteinander zu gestalten, enthält eine Beziehungsqualität und löst Emotionen aus. Um eine Beziehung zu gestalten, braucht es ebenfalls eine emotionale Beteiligung sowie Bewegung in Form von Körperausdruck und motorisch gesteuerter Sprache. Neben der Wahrnehmung von Reizen und dem In-Beziehung- Setzen von unterschiedlichen Reizen im Gehirn ist der Aufbau neuronaler Bewegungsmuster eine der zentralen Fähigkeiten, die ein Mensch aufbauen muss, um mit der Umwelt und mit seinem eigenen Körper zu interagieren. Im ersten Teil dieses Beitrags steht die Beschreibung der neuronalen Aktivitäten im Gehirn bei der Organisation der Motorik im Vordergrund. Da diese Abläufe sehr komplex sind, sodass sie im Rahmen dieses Beitrags nicht umfassend dargestellt werden können, wurden nur die theoretischen Grundlagen ausgewählt, die eine hohe Bedeutung für die Interventionsgestaltung haben. Im zweiten Teil werden einige übergeordnete pädagogische Interventionen exemplarisch erläutert, mit denen Kinder in der Entwicklung motorischer Fähigkeiten unterstützt werden können. Fallbeispiel Paul (Name des Kindes geändert) wurde von seinen Eltern im Alter von fünf Jahren zur HPF angemeldet. Im Erstgespräch berichten die Eltern, dass bei seiner Geburt ein leichter Sauerstoffmangel eingetreten war. Dies wirkte sich dahingehend aus, dass Paul in der Wahrnehmung und Motorik deutlich in seiner Entwicklung verzögert war. Die Eltern beschrieben, dass er nicht merkt, wenn er vom Stuhl rutscht oder ihm gleich etwas aus der Hand fällt. Seine Bewegungen erleben die Eltern als unsicher und vorsichtig oder aber als grob und in der Kraftent- 168 | mup 4|2017 Forum: Urmoneit - Neurobiologische Grundlagen der Motorik faltung nicht gut dosiert. Im bewegungsbetonten Spiel zieht er sich zurück. Kann er der Herausforderung nicht ausweichen, entwickelt er entweder aggressives Verhalten oder aber er bricht in Tränen aus. Mit den Kindern im Kindergarten gerät er immer häufiger in Streit und beklagt sich dann darüber, wie gemein die anderen sind. Feinmotorische Aufgaben wie das Malen oder das Schneiden mit der Schere lehnt Paul ab. Sein Vater erzählt, dass er gerne mit Paul und dem zwei Jahre älteren Bruder Fußball spielen würde, aber auch hier ist Paul nicht bereit, mitzuspielen. Die Eltern hatten sich darauf eingestellt, dass Paul lieber Bücher anschaut, viele Fragen stellt und im Sitzen mit den Autos auf dem Teppich spielt. Die Erzieherinnen des Kindergartens äußerten im letzten Elterngespräch die Sorge, dass Paul im motorischen Bereich nicht aufholen würde und dadurch auch in anderen Entwicklungsbereichen wie der Gestaltung sozialer Beziehungen oder seinem Lernverhalten vermehrt Schwierigkeiten entstehen könnten. Drei Grundsätze der neuronalen Entwicklung helfen uns, Pauls Schwierigkeiten besser zu verstehen und Interventionen zu gestalten, die ihn dabei unterstützen, ausreichend gute Lösungen für seine motorischen Schwierigkeiten zu finden. 1. Lernen basiert auf der gemeinsamen Aktivierung von Neuronen durch einen Reiz, sodass sich feste Verknüpfungen entwickeln. Je häufiger (Üben) und intensiver (hohe emotionale Beteiligung) Neuronen gemeinsam aktiviert werden, desto stärker wird ihre Verbindung und desto leichter können sie erneut aktiviert werden. Ohne den Aufbau neuronaler Verknüpfung sind motorische Antworten auf Reize, der Aufbau der Bewegungsvielfalt, das Automatisieren von Bewegungen und die Anpassung an Umweltbedingungen nicht möglich. Interventionen müssen Pauls Motivation sich zu bewegen fördern, damit er Bewegung übt. Bewegungsfokussierte Interventionen müssen Paul eine emotionale Beteiligung ermöglichen, damit die neuronalen Verbindungen gefestigt werden. 2. Die Balance oder die Feinabstimmung unser Lebensäußerungen wie Gedanken, Gefühle oder Bewegungen basieren darauf, das aktivierende und hemmende neuronale Prozesse zusammenspielen. Neuronen können durch einen Reiz nicht nur aktiviert, sondern in ihrer Aktivität auch gehemmt werden. Nur durch dieses Prinzip der Koppelung von hemmenden und aktivierenden Prozessen sind die Bewegungskontrolle und die Ausführung von sehr feinen und genauen Bewegungen möglich. In Bezug auf die motorischen Abläufe sind an diesem Prozess weite Teile des Gehirns beteiligt. Interventionen in der Förderung von Paul müssen möglichst viele Bereiche des Gehirns einbeziehen, damit das Zusammenspiel neuronaler Prozesse eingeübt wird. 3. Alle neuronalen Prozesse sind eng miteinander verknüpft und kontrollieren sich über Feedback-Schleifen ständig selbst. Wahrnehmung, Denken, Fühlen und Sich-Bewegen sind nicht isoliert zu betrachten, sondern immer nur als integrale Prozessabläufe. Interventionen in der Förderung von Paul müssen nicht nur die Bewegung, sondern auch die Wahrnehmung, das Fühlen und Denken berücksichtigen. Zäumen wir das Pferd zunächst von hinten auf, um die neuronalen Grundlagen der Bewegungsgestaltung besser zu verstehen. Paul ist jetzt 10 Jahre alt und wechselte vor einem Vierteljahr vom Heilpädagogischen Voltigieren ins Reiten. Hinter dem schon erfahrenen Mädchen Leila reiten er und die anderen Kinder hintereinander her, sodass Paul aktiv nur wenig auf sein Pferd einwirken muss. Zu Beginn wird getrabt und dabei leicht getrabt. Was geschieht in Pauls Gehirn, dass er die Bewegung ohne Schwierigkeiten ausführen kann, er längere Zeit durchhält, ihn Fragen der Reitpädagogin jedoch noch „aus dem Takt“ bringen? Forum: Urmoneit - Neurobiologische Grundlagen der Motorik mup 4|2017 | 169 Über die sensorischen Nervenbahnen werden alle Sinneseindrücke sowohl aus der Umwelt wie auch über den momentanen Zustand des eigenen Körpers, wie beispielsweise die Position der Gelenke oder die Kontraktion der Muskulatur, an das Gehirn weitergeleitet. Im Thalamus, einer Region, die im Zwischenhirn liegt, gehen alle Informationen, die Pauls sensorisches System über den Kontakt zur Umwelt und zum eigenen Körper registriert, ein. Dort findet die Bewertung statt, ob eine Information von Bedeutung ist und an andere Regionen des Gehirns weitergeleitet werden muss. Der Thalamus selektiert die eingehenden Reize und übernimmt damit eine zentrale Funktion in der Organisation unserer Wahrnehmung und Konzentration. Die Weiterleitung von Reizen über sensorische Nervenbahnen ins Gehirn ist die erste wichtige Voraussetzung für die Entstehung von gezielten Bewegungen. Die zweite Voraussetzung ist eine effektive und in hohem Maße automatisierte Selektionsleistung des Thalamus. Würden diese beiden Prozessabschnitte für die Erfassung des Ist-Zustandes nicht ausreichend sicher ablaufen, könnte Paul die Bewegungen des Leichttrabens nicht durchführen, da ihm notwendige Informationen über seinen Körper und die Umweltbedingungen nicht zur Verfügung ständen. Würde beispielsweise der Thalamus entscheiden, dass die Reize des vorbeifahrenden Traktors eine höhere Bedeutung haben als der Bewegungsimpuls des Pferdes, wäre Paul so abgelenkt, dass er Schwierigkeiten hätte, die Bewegung auszuführen und mit dem Pferd in den Bewegungsdialog zu kommen. Der Vorteil in der Arbeit mit Pferden liegt darin, dass dann für Paul sofort eine emotional bedeutsame Situation entstünde. Ein gut ausgebildetes Pferd würde weiter hinter dem Vorderpferd herlaufen und für Paul würde es ziemlich „holperig“ werden. Die Wahrscheinlichkeit wäre daher groß, dass der Thalamus die Selektion der Reize neu ausrichtet und Paul die Aufmerksamkeit somit wieder auf die Bewegungsgestaltung lenkt. Der Thalamus orientiert sich bei seiner Entscheidung, einen Reiz weiterzuleiten, stark an Informationen aus anderen Bereichen des Gehirns. Er ist eng mit dem limbischen System, das für die emotionalen Prozesse und dem Cortex, der für die bewussten Prozesse zuständig ist, verknüpft. Dadurch erhält der Thalamus zum Beispiel Informationen über die emotionale Gestimmtheit und die motivationalen Ziele, sodass er sich bei der Reizselektion an diesen Informationen orientieren kann. Eine hohe Motivation führt somit dazu, dass der Mensch Reize, die diese Motivation unterstützen, stärker wahrnimmt als andere Reize. Jede einzelne Sinnesinformation, die vom Thalamus weitergeleitet wird, wird in verschiedenen Arealen des Cortexes (Großhirnrinde) zu einer integrierten Wahrnehmung zusammengesetzt, sodass wir nur eine „Wahrnehmung einer Situation“ erleben. Der Ist-Zustand wird sozusagen wie ein Puzzle aus vielen Teilen zusammengesetzt, nur dass wir die Ränder der Puzzleteile nicht sehen können. Im Cortex treffen auch Informationen aus dem limbischen System ein, das für die emotionale Färbung zuständig ist. Dieses Puzzelteil wird ebenfalls eingepasst und ist somit fest mit den anderen Informationen an die wahrgenommene Situation gekoppelt. Die Reitpädagogin kann am konzentrierten, aber fröhlichen Gesichtsausdruck von Paul erkennen, dass die Amygdala, die für die Angst- und Stressreaktion zuständig ist, nicht sonderlich hoch aktiviert ist. Der Bewegungsimpuls des Pferdes und die Reize der Umgebung lösen in diesem Moment keine Stressreaktion aus. Dies sähe anders aus, wenn Paul aufgrund des Traktors, der seine Aufmerksamkeit vom Bewegungsimpuls abzieht, aus dem Gleichgewicht geraten würde. Da Paul zwischendurch lächelt, kann die Reitpädagogin auch davon ausgehen, dass das motivationale Belohnungssystem in seinem Gehirn aktiv ist (Urmoneit 2017). Die in den sensorischen Regionen des Gehirns integrierten Reize werden als Gesamtinformation 170 | mup 4|2017 Forum: Urmoneit - Neurobiologische Grundlagen der Motorik an die Assoziationsregionen des motorischen Cortexes weitergeleitet. Dort findet die Planung des Bewegungsmusters statt, mit dem auf den Reiz reagiert werden soll. Wir können uns diesen Vorgang so vorstellen, als würde Pauls „innerer Bauherr“ analysieren, welche Bewegung er unter den gegebenen Bedingungen mit den bereits gespeicherten Bewegungsmustern gestalten könnte. Pauls Gehirn überlegt: Welche Informationen habe ich und gibt es bereits eine gespeicherte Antwortmöglichkeit? Traue ich mir zu, „kleine Lücken“, für die ich noch kein Muster habe, durch Improvisation zu lösen? Paul berücksichtigt für das Treffen einer Entscheidung neben der Wahrnehmung des Ist-Zustands und den vorhandenen Erfahrungen noch eine weitere wichtige Information. Sein Gehirn richtet die Auswahl von motorischen Mustern an seinen motivationalen Bereitschaften aus, die sich wiederum an seinen psychischen Grundbedürfnissen orientieren (Grawe 2004). Welche Ziele habe ich? Was erfüllt mein Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Autonomie, Lust und Selbstwerterhöhung? Die Schilderung seiner Eltern im Erstgespräch legt nahe, dass seine motivationalen Bereitschaften häufig dazu führen, Bewegungen zu vermeiden. Hier hatte sich in den letzten fünf Jahren etwas verändert. Die Reitpädagogin beobachtet, dass Paul Bewegungen auswählt, mit deren Hilfe er sich der Herausforderung stellen kann. Er zeigt eine hohe Motivation, unter den gegebenen Umständen die Bewegungen des Leichttrabens zu organisieren. Selbst wenn das Pferd sein Tempo leicht verändert, die Ecken abkürzt oder den Kopf schüttelt, bleibt Paul an der Aufgabe des Leichttrabens dran. Hat Pauls „innerer Bauherr“ seinen Bewegungsplan fertiggestellt, leitet er ihn an Pauls „inneren Architekten“ im sekundären motorischen Cortex weiter. Hier werden alle abgespeicherten neuronalen Muster, die für die Erzeugung der Bewegung notwendig sind, ausgewählt und zusammengefügt. Pauls „innerer Architekt“ stellt sozusagen alle notwendigen Einzelteile für die Erfüllung des Plans zusammen. Die Prozesse in den Assoziationsregionen und in den sekundären Regionen des motorischen Cortexes verlassen das Gehirn jedoch nicht - bis jetzt ist das Gehirn für die Bewegungsgestaltung ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Würde Paul den Prozess an dieser Stelle in seinem Gehirn anhalten, käme es nicht zur Ausführung der Bewegung. Er würde sozusagen „nur“ Probehandeln, ohne die Muskulatur, die die Bewegung ausführt, zu aktivieren. Erst wenn die Zusammenstellung der gezielten Bewegung mit all ihren Details an den primären motorischen Cortex weitergeleitet wurde, entsteht wirklich eine Bewegung. Pauls „innerer Architekt“ gibt die Detailplanung an Pauls „innere Bauarbeiter“ weiter, die dann Impulse an den Muskelzellen auslösen, sodass die geplante Bewegung auch ausgeführt wird. Einige Muskeln erhalten den Impuls, sich zu kontrahieren, andere wiederum den Impuls, sich zu entspannen (Thompson 2016). Die Reitpädagogin beobachtet, dass auch dieser Schritt recht reibungslos abläuft. Pauls Muskeln erhalten nicht nur irgendeinen Impuls, sondern setzen die geplante Bewegung recht gut um. Er gerät nicht aus dem Gleichgewicht, kann kleine Tempounterschiede ausgleichen und seine Hände finden am Hals des Pferdes Halt. Würde Pauls Gehirn ausschließlich über diesen Weg der Bewegungsorganisation verfügen, wären ihm Bewegungsvielfalt und insbesondere fein abgestimmte und sich schnell anpassende Bewegungen nicht möglich. „Zwei wichtige Hirnbereiche können dabei die Anwendung dieser Bewegungsimpulse verändern. Das Kleinhirn vergleicht ständig den Ist-Wert der Bewegung („Wo sind die Gliedmaßen? “) mit dem Soll-Wert („Wo sollen sie hin? “) und korrigiert gegebenenfalls das Bewegungsmuster. Die Basalganglien dienen als wichtige Umschaltstelle, die verschiedene Bewegungsprogramme synchronisiert“ (Beck u. a. 2016, 181). Sobald die Neuronen im Kleinhirn, das in der hinteren Schädelgrube unter dem Großhirn liegt, feststellen, dass die im Großhirn geplanten Bewegungen nicht genau genug sind, beginnen sie damit, hemmend oder aktivierend in die Steuerung einzugreifen. Über die Brücke ist das Kleinhirn eng mit dem Großhirn verbunden, sodass die Abläufe genau miteinander abgestimmt werden. In der Aktivität des Kleinhirns liegt der Schlüssel zur Dosierung und Feinplanung von Bewegungen durch die Balance zwischen neuronaler Aktivierung und Hemmung. Die Basalganglien, die unter den vier Großhirnlappen liegen, übernehmen eine ordnende Funktion, wenn mehrere Bewegungsprogramme zeitgleich ab- Forum: Urmoneit - Neurobiologische Grundlagen der Motorik mup 4|2017 | 171 laufen müssen. Pauls Kleinhirn kann Anpassungsleistungen in einem bestimmten Rahmen bereits leisten. Kleine Bewegungsabweichungen des Pferdes, Wendungen oder Tempounterschiede bringen ihn nicht mehr aus dem Konzept. Seine Beine rutschen auch nicht mehr „unkontrolliert“ am Pferdebauch entlang, sondern liegen recht sicher in der Nähe des Gurtes. Dies wertet die Reitpädagogin als Zeichen, dass Pauls Gehirn die Koordination von aktivierenden und hemmenden motorischen Signalen besser organisieren kann. Außerdem kann er neben der Bewegung des Leichttrabens auch eine eher gegenläufige Bewegung organisieren. Paul legt seine Hände an den Mähnenkamm, sodass sie sich nicht mitbewegen. Dies ist ein Zeichen dafür, dass die Basalganglien zwei unterschiedliche Bewegungsmuster synchronisieren können. Neben der permanenten Kontrolle des Bewegungsablaufs übernimmt das Kleinhirn eine wichtige Aufgabe bei der Organisation unbewusster, automatisierter Bewegungen. Leila reitet sicher am Anfang der Gruppe. Sie lenkt ihr Pferd, sodass sie Hufschlagfiguren recht genau reiten kann. Leila bestimmt das Tempo, indem sie auf ihr Pferd einwirkt. Neben der Erledigung dieser komplexen Aufgaben kann Leila die Fragen der Reitpädagogin entspannt beantworten. Paul hingegen gerät schon bei kleinen „Zusatzaufgaben“ wie der Beantwortung einer etwas anspruchsvolleren Frage aus dem Konzept. Entweder er beantwortet die Frage und kommt dabei aus dem Rhythmus oder aber er ignoriert die Frage und das Organisieren der Bewegung klappt. Womit lässt sich dieser Unterschied zwischen Leila und Paul neurobiologisch betrachtet begründen? Müssen beide „nur“ Leichttraben, zeigen beide eine gute Bewegungsplanung und -durchführung. Kommt eine Zusatzaufgabe hinzu, unterscheiden sich beide stark in ihrem Verhalten und der Bewegungsdurchführung. Für die bewusste Planung und Durchführung einer Bewegung über den Cortex müssen diese Bereiche des Gehirns eine enorme Rechenleistung abrufen. Dadurch verringert sich die Kapazität, die für andere, parallel laufende Aufgaben zur Verfügung steht, stark. Beantwortet Paul die Frage der Reitpädagogin, zieht sein Gehirn Kapazitäten von der Aufgabe, die Bewegung des Leichttrabens zu planen und durchzuführen ab, sodass es hier zu „Störungen“ kommt. Sorgt der Thalamus für eine Fokussierung auf die Bewegung, überhört Paul die Frage. Lenkt der Thalamus bewusste Aufmerksamkeit auf die Frage, prüft Pauls Gehirn die motivationale Bereitschaft, zu antworten und setzt bewusst Prioritäten. Über die Ebene der bewusst ablaufenden Prozesse kann Paul zwei komplexe Aufgaben nicht gleichzeitig lösen. Würde die Reitpädagogin Paul immer wieder mit zwei komplexen Aufgaben, die beide über den Cortex organisiert werden, konfrontieren, würde seine Motivation schnell zum Erliegen kommen, da er nicht in der Lage wäre, die Aufgaben zu bewältigen. Wie Leilas Beispiel zeigt, hält das Gehirn eine Lösung dafür bereit. Alle Bewegungsmuster, die sehr stabil neuronal verknüpft sind und oft genutzt werden, werden in das Kleinhirn ausgelagert. Das Kleinhirn ist der Ort der intuitiven und automatisierten Bewegungsplanung und -ausführung. Anders ausgedrückt, müssen „der Bauherr und der Architekt in Leilas Cortex“ nicht mehr jede Bewegung auswählen und die Einzelteile dafür zusammensuchen. Sehr vertraute Reize und eingeübte Reizantworten sind so intensiv aneinander gekoppelt, dass sie als Reiz-Reaktions- Bewegungsmuster im Kleinhirn und Teilen der Basalganglien gespeichert sind. Das Kleinhirn kann ein Bewegungsmuster beim Eintreffen eines bestimmten Reizes aus einem „Guss“ abrufen und an die ausführenden motorischen Nervenbahnen, die an den Muskelzellen enden, weiterleiten. So spart das Gehirn Energie und Rechenleistung im Großhirn ein, die dann für andere Aufgaben zur Verfügung stehen. „Ob eine komplexe Handlung bewusst oder unbewusst erfolgt, hängt vor allem davon ab, wie geübt das Individuum ist“ (Carter 2010, 114). Leila steuert das Leichttraben nicht mehr über die Regionen des Cortexes. Sie kann die Bewegung automatisiert, ohne sich anzustrengen, über neuronale Muster im Kleinhirn abrufen. Die Rechenkapazität des Großhirns nimmt sie erst wieder in Anspruch, wenn eine neue, noch nicht automatisierte Bewegung von ihr verlangt wird oder sich die Umweltbedingungen und damit auch die eingehenden Reize verändern. Stellt die Reitpädagogin ihr beispielsweise die Aufgabe, im Traben den leichten Sitz zu üben, muss sie die Bewegungsplanung verändern. Dass dieser Prozess wieder stärker über den Cortex läuft und sie 172 | mup 4|2017 Forum: Urmoneit - Neurobiologische Grundlagen der Motorik nicht nur eine Aufgabe bewältigen muss, sieht die Reitpädagogin daran, dass Leila nicht mehr so gut lenken kann, das Tempo nicht hält und das Pferd reagiert, indem es beispielsweise anhält oder schneller wird. Pauls Kleinhirn greift regulierend in die Gestaltung der Motorik im Cortex ein, aber eine automatisierte Bewegungsplanung ist im Moment nur eingeschränkt möglich. Da sein Cortex seine Rechenleistung auf die Bewegungsorganisation verwenden muss, kann er die Fragen nicht beantworten, ohne die Bewegung aus dem Blick zu verlieren. Ist ihm die Frage „nicht so wichtig“, ignoriert er sie nicht, weil er sich respektlos verhält, sondern weil er noch nicht in der Lage ist, zwei Dinge gleichzeitig auszuführen. Daher lässt die Reitpädagogin die Abteilung zum Schritt durchparieren, wenn sie sich mit Paul unterhalten will. Was passieren würde, wenn Paul die Führung übernehmen oder sein Pferd schon aktiv beeinflussen müsste, ist leicht vorstellbar. Die Herausforderung wäre zu groß und die Reitpädagogin müsste sich die Frage stellen, welche Auswirkung dies auf seine motivationale Bereitschaft und seine emotionale Regulation hätte. Anhand dieser „Schnittstellen“ wird deutlich, dass Wahrnehmung, Gedanken, Gefühle und Bewegungen - alle Grundlagen menschlichen Verhaltens - in den neuronalen Prozessen auf das Engste miteinander verbunden sind (Urmoneit 2015). Das Vier-Phasen-Modell des Heilpädagogischen Reitens von Pauel (2005) rahmt die neuronale Entwicklung im Gehirn nicht nur hinsichtlich der Motorik angemessen ein. Klienten können sich in der ersten und zweiten Phase zunächst darauf konzentrieren, die Schritte der Bewegungsausführung von der Organisation der Wahrnehmung, der Planung der Bewegung und der Ausführung der Bewegung bis hin zur Feinabstimmung und automatisierten Organisation über das Kleinhirn zu erlernen. Erst dann kommen in den darauffolgenden Phasen neue Herausforderungen wie die aktive Auseinandersetzung mit dem Pferd hinzu. Die Reitpädagogin kann auf der Grundlage gut ausgebildeter Pferde die Herausforderungen so gestalten, dass die emotionale Regulation erhalten bleibt und dennoch eine emotionale Beteiligung entsteht, die die Motivation und auch das Speichern von Erfahrungen erleichtert. Die bereits bestehenden neuronalen Bewegungsmuster werden durch das Üben verstärkt und durch jeden neuen Impuls verändert und ergänzt. So kann Paul immer leichter mit Veränderungen in der Umwelt umgehen und Herausforderungen bewältigen. Emotionale Fehlregulationen durch Überforderungen behindern das Erlernen einer abgestimmten Motorik. Es wirken sich jedoch nicht nur Überforderungen störend auf den Lernprozess aus. Wie bereits am Anfang beschrieben, verknüpfen sich Neuronen nur dann, wenn sie durch einen Impuls intensiv oder wiederholt aktiviert werden. Wird ein Reiz vom Thalamus nicht als bedeutsam (z. B. langweilig) eingestuft oder erzeugt ein Reiz aufgrund seiner Vertrautheit keine emotionale Beteiligung, entstehen nur sehr wenige neuronalen Verknüpfungen im Gehirn. Würde Paul aufgrund fehlender Rahmenbedingungen, nicht ausreichend gut ausgebildeten Pferden oder einer unsicher agierenden Reitpädagogin im geführten Setting im Schritt reiten, erhielte sein Gehirn schon nach kurzer Zeit nur „langweilige oder sehr vertraute“ Reize, die die neuronale Verknüpfung nicht anregen würden. Paul könnte nicht an der Lösung seiner motorischen Schwierigkeiten arbeiten. Beachtet die Reitpädagogin die beschriebenen neuronalen Grundlagen des Bewegungslernens, erhält sie bei der Planung der HFP für Paul im Alter von fünf Jahren eine zielführende Orientierung. Das Setting und die Gestaltung der Interventionen basieren auf dem systematischen Aufbau der notwendigen Fähigkeiten für die Planung und Durchführung von Bewegungen. Alle Lernziele, die sie für Paul festlegt, bauen aufeinander auf, sodass die grundlegenden Fähigkeiten vor den darauf aufbauenden Fähigkeiten geübt werden. Außerdem bespricht sie mit den Eltern, Forum: Urmoneit - Neurobiologische Grundlagen der Motorik mup 4|2017 | 173 welche „Übungen“ sie zu Hause mit Paul machen können, um den Prozess zu unterstützen. Für den Aufbau von so grundlegenden Fähigkeiten wie der Wahrnehmung und Bewegung reicht eine Stunde HFP nicht aus. Nur wenn das soziale Bezugssystem mit dem Kind im Alltag ebenfalls abgestimmt auf die neuronalen Prozesse übt, stellen sich zeitnah Erfolge ein. Im Rahmen der Einzelförderung mit dem Pferd, das von einer Assistentin am Langzügel geführt wird, werden folgende Ziele (Einüben von konkreten Fähigkeiten) für Paul festgelegt: 1. Aufbau einer grundlegenden Motivation, sich zu bewegen. 2. Verbalisieren von Gedanken, Gefühlen, Zielen und Handlungsplanungen. 3. Einüben der Wahrnehmung von Reizen aus der Umwelt und dem eigenen Körper. 4. Einüben der Selektion von Reizen, die für die Bewältigung einer Aufgabe wichtig sind. 5. Einüben kleiner motorischer Bewegungsmuster - Integration von wahrnehmen, fühlen, denken und sich-bewegen. Paul sitzt in den ersten Stunden einfach nur auf dem Pferd und lässt sich tragen. Die Reitpädagogin schiebt ihn wieder in die Mitte, wenn er rutscht und vermittelt ihm viel Sicherheit. Außerdem lässt sie das Pferd anhalten, wenn sie das Gefühl hat, dass Paul müde wird. Von Beginn an redet sie spielerisch mit Paul darüber, was er sieht, fühlt, denkt, sich wünscht und geschafft hat. Für das Verbalisieren muss Paul viele Regionen des Cortexes aktiveren. Dies führt dazu, dass er bewusster wahrnimmt, was gerade passiert und welche Fähigkeiten er bereits abrufen kann. Nachdem die Reitpädagogin mehrfach beobachtet hat, dass Paul sich in der Halle umschaut, sie anspricht, eine Hand loslässt und weniger Pausen braucht, beginnt sie damit ihn auf seinen Körper aufmerksam zu machen. Wo sind die Hände? Wie macht er das mit dem Loslassen der Griffe? Kann die Hand am Hals streicheln? Oh, der Po rutscht - wo will der denn hin? Kann der auch wieder in die Mitte oder absichtlich rutschen? Spielerisch bindet sie alle Körperteile von Paul ein. Dabei bewegt sich das Pferd nur auf großen Linien im Schritt, sodass die Umweltbedingungen zunächst recht konstant bleiben. Die Reitpädagogin beobachtet zunehmend, dass Paul selber sagt, wo seine Hände oder Beine gerade sind und was sie machen. Sie geht davon aus, dass Paul Reize aus dem eigenen Körper stärker wahrnimmt, sodass sie ihre Unterstützung beim Rutschen oder wenn Paul sich loslässt, minimiert. Außerdem bittet sie die Pferdeführerin, Schlangenlinien und Volten einzubinden. Die Reitpädagogin kündigt die Veränderungen der Umwelt an, sodass Paul sich darauf einstellen kann. Oh, jetzt wird es gleich schwierig, wir gehen einen Kringel. Was muss denn die Hand jetzt machen, wenn du rutscht? Sobald sie registriert, dass Paul die Herausforderung bewältigt hat und dies durch ein Lachen deutlich macht, lobt sie ihn, durch die Rückmeldung, was er gut gemacht hat. Paul fordert in den nächsten Wochen vermehrt Herausforderungen ein. Er will über eine Stange gehen, sich umdrehen und hat bei den anderen Kindern gesehen, dass das Pferd auch schneller laufen kann. Paul hat sich die wesentlichen Bausteine für den weiteren Lernprozess erarbeitet: 1. Er vertraut darauf, dass die Reitpädagogin ihm keine Aufgaben stellt, die er nicht bewältigen kann und fühlt sich im Kontakt wohl (psychisches Grundbedürfnis nach Bindung). 2. Er weiß mehr über seinen Körper und kann ihn bewusst beeinflussen (psychisches Grundbedürfnis nach Autonomie / Selbstwirksamkeit). 3. Er hat Spaß an der Bewegung auf dem Pferd und den Übungen (psychisches Grundbedürfnis nach Lustgewinn). 174 | mup 4|2017 Forum: Urmoneit - Neurobiologische Grundlagen der Motorik 4. Er kann verbalisieren, welche Fähigkeiten er hat und weiß, dass er seine Fähigkeiten erweitern kann (psychisches Grundbedürfnis nach Selbstwerterhöhung). Die Reitpädagogin kann Paul jetzt einen Teil der Steuerung des Lernprozesses überlassen und nimmt sich in ihren rahmenden Aktivitäten zurück. Anhand verschiedener Ideen von Paul übt er weiterhin die Wahrnehmung, die Selektion von Reizen, die Planung von Bewegungen, die Integration von Gefühlen und Gedanken sowie die Umsetzung in konkretes Verhalten. Er erzeugt durch seine eigenen Ideen Veränderungen in der Umwelt, auf die er sich einstellen muss. So erweitern sich seine neuronalen Muster und er wird in seinen Bewegungen sicherer. Die Reitpädagogin hält sich beim Auftreten von Schwierigkeiten stärker zurück und meldet Paul zurück, dass sie ihm zutraut, selber eine Lösung zu finden. Pauls Eltern haben durch die Beobachtungen der Stunden sowie durch die Reflexionsgespräche mit der Reitpädagogin gelernt zu sehen, welche Unterstützung Paul in welcher Form braucht. So wird sichergestellt, dass die Aktivitäten der Eltern für Paul keine zu große Herausforderung darstellen, ihn nicht langweilen und ebenfalls die oben beschriebenen vier Eckpunkte im Blick bleiben. Der Prozess, den Eltern auf der Grundlage einer engen Begleitung durch die Reitpädagogin durchlaufen, ähnelt dabei dem Prozess ihres Kindes. 1. Pauls Eltern fühlen sich mit der Reitpädagogin verbunden und entwickeln Vertrauen. Sie erleben Beziehungen in der Familie, aber auch zu Außenstehenden als wertvoll (Bindung). 2. Pauls Eltern erleben, dass sie durch ihr Verhalten Einfluss auf die Entwicklung ihres Kindes nehmen können und ihr Anteil eine sehr große Bedeutung hat (Selbstwirksamkeit). 3. Pauls Eltern erleben Lob für ihr Engagement und Fortschritte, sodass sie Spaß an der Unterstützung ihres Sohnes entwickeln. (Lustgewinn). 4. Pauls Eltern nehmen ihre Fähigkeiten bewusst wahr und bauen sie aus. Sie erleben sich als Eltern kompetent (Selbstwerterhöhung). In vielen Maßnahmen der HFP findet die Elternarbeit nur sehr eingeschränkt oder gar nicht statt. Aus neurobiologischer Sicht müsste die Elternarbeit jedoch im Vordergrund stehen. Die emotionale Beteiligung ist im Kontakt zwischen Kindern und ihren Eltern sehr hoch, sodass sich Erfahrungen sehr viel intensiver neuronal abspeichern. Außerdem verbringen Eltern sehr viel mehr Zeit mit ihren Kindern als die Reitpädagogin, sodass nicht nur mehr emotionale Momente miteinander geteilt werden, sondern auch mehr Zeit für das Üben zur Verfügung steht. Verfügen Eltern nicht über angemessene Erziehungskompetenzen, wirkt sich dies stark auf die Entwicklung der Kinder aus und kann durch eine Stunde pro Woche am Pferd nicht ausreichend aufgefangen werden. Pauls Eltern sind engagiert und offen für Anregungen. Pauls Vater kann beispielsweise nachvollziehen, dass er Pauls Motivation für Bewegungen nicht fördern kann, wenn er ihn auffordert mit ihm und dem größeren (deutlich besseren) Bruder Fußball zu spielen. Er entwickelt die Idee, mit Paul alleine über Stock und Stein durch den Wald zu laufen, um im Lokal auf der anderen Waldseite eine Pommes zu essen. Da Paul Pommes sehr mag und der Vater den „Waldlauf“ auf die Fähigkeiten von Paul abstimmt, entwickelt Paul Freude an diesem Ritual. So trainiert Paul seine Motorik im Alltag ohne größeren Frust und beide erleben positive gemeinsame Momente. Nach einem guten Jahr wechselt Paul in eine heilpädagogische Voltigiergruppe. Die Reitpädagogin setzt zunächst keine neuen Ziele für Paul fest, sondern übt mit ihm im neuen Kontext nochmals die gleichen Fähigkeiten, die in der Einzelförderung im Mittelpunkt standen. Sie rechnet sogar damit, dass Paul Rückschritte machen wird und bespricht dies auch mit seinen Eltern. Da zwei weitere Kinder an der Gruppe teilnehmen, Forum: Urmoneit - Neurobiologische Grundlagen der Motorik mup 4|2017 | 175 kommen neue Herausforderungen auf ihn zu. Paul erhält viele Reize mit sozialen Informationen, die ihn von der Planung von Bewegungen ablenken. Er vergleicht sich mit den anderen Kindern. Er muss die Reitpädagogin und das Pferd mit den anderen Kindern teilen. Er muss soziales Verhalten abrufen und Dialoge gestalten, in denen weniger Rücksicht auf ihn genommen wird. Er wird mit dem einen oder anderen Konflikt konfrontiert. Das Pferd läuft an der Longe und die Reitpädagogin ist nicht mehr dicht bei ihm. Auf dem Pferd konfrontiert die Reitpädagogin Paul nicht mit neuen Übungen und sie bindet ihn noch nicht in Partnerübungen ein. Sie wählt „gemütliche“ Warmlaufspiele aus und nimmt kein weiteres Kind in die Gruppe auf, damit Paul in den Zeiten, in denen er nicht auf dem Pferd ist, nur mit einem Kind in Kontakt treten muss. Außerdem redet sie mit Paul viel darüber, was gerade passiert, was er fühlt und denkt und was er tun könnte. Treten Konflikte auf, schaltet sie sich zeitnah moderierend ein. Nach einigen Wochen prüft die Reitpädagogin, ob Paul alle Fähigkeiten, die er in der Einzelförderung aufgebaut hat, im neuen Kontext sicher abrufen kann. Paul ruft geübte Bewegungsmuster sicher ab, er redet mit ihr, wenn es schwierig wird und er lacht, wenn er auf dem Pferd ist. Außerdem konnte sie beobachten, dass sich Paul auf Spielangebote mit den anderen Kindern einlässt, wenn er nicht dran ist. Im Rahmen des heilpädagogischen Voltigierens legt sie folgende Ziele für Paul fest: 1. Einüben komplexer Bewegungsabläufe auf dem Pferd - Einführen von Voltigierübungen. 2. Einüben des Bewegungsdialogs im Trab und Galopp. 3. Einüben des sozialen Dialogs mit den anderen Kindern mit immer weniger Unterstützung von außen. 4. Einüben der Abstimmung mit anderen auf dem Pferd - Partnerübungen auf dem Pferd. Um Paul beim Aufbau der oben genannten Ziele zu unterstützen, stehen der Reitpädagogin eine große Zahl an Möglichkeiten zur Verfügung. Die Voltigierübungen lassen sich stark variieren, sodass sie angemessene Herausforderungen an Paul stellen kann. Als Orientierung dient ihr auch hier, ob Paul Motivation entwickelt und immer mehr eigene Ideen einbringt. Mit einem gut ausgebildeten Pferd kann sie auch die Trab und Galoppphasen genau timen und sofort anhalten, wenn Paul aus dem Gleichgewicht gerät. Beim Erarbeiten der höheren Gangarten wiederholt sich die Prozessgestaltung, die bereits in der Einzelförderung beschrieben wurde. Es gibt einen wesentlichen Unterschied. Den Dialog über die Aufgaben, seine Befindlichkeit sowie seine Ziele und Fähigkeiten führt die Reitpädagogin zunächst ausschließlich im Schritt mit Paul. Während Paul trabt, galoppiert oder die Übung ausprobiert, redet sie nicht mit ihm, da sie weiß, dass sein Cortex die gesamte Kapazität für die Planung und Ausführung der Bewegung braucht. Jedes Gespräch würde ihn ablenken und die Motivation, sich der Herausforderung zu stellen, bremsen. Erst wenn Paul die Bewegungen flüssig abrufen kann, beginnt sie damit, ihn auch während des Trabens anzusprechen. Sie hält sich zunehmend aus den Konflikten der Kinder raus und überlässt ihnen beispielsweise das Vereinbaren der Rei- Die Autorin Imke Urmoneit Dipl. Sozialpädagogin, Systemische Familientherapeutin, Supervisorin, Reit- und Voltigierpädagogin (DKThR), eigene Praxis in Lörrach, Lehrkraft DKThR. Anschrift Imke Urmoneit · Wölbluistr. 48 D-79539 Lörrach · Imke.urmoneit@t-online.de 176 | mup 4|2017 Forum: Urmoneit - Neurobiologische Grundlagen der Motorik henfolge. Dabei beobachtet sie genau, wann Paul aus dem Kontakt mit den Kindern aussteigt und bietet ihm dann an, ihm zu helfen, den anderen Kindern mitzuteilen, was er will oder aber einen Kompromiss einzugehen. Bei den Partnerübungen achtet die Reitpädagogin darauf, dass der Spaß und die Abstimmung und nicht das Ergebnis im Vordergrund steht. Ihr ist es wichtig, sowohl die Organisation der Wahrnehmung, Pauls Gedanken und Gefühle und die Gestaltung von Bewegungen im Blick zu haben. Nach etwas mehr als drei Jahren wechselt Paul in die Reitgruppe. Neben der Wiederholung der oben beschriebenen Förderziele in den ersten zwei Phasen des Phasenmodells von Pauel (2005) wartet auf Paul in der dritten Phase die Herausforderung, sich aktiv mit dem Pferd auseinander zu setzen. Die Wiederholung der Einübung der Wahrnehmung und Gestaltung von Bewegungen ist für Paul wichtig, damit sich die neuronalen Vernetzungen stabilisieren und erweitern. Paul wird auch trotz der Förderung durch seine Eltern und die HFP nicht zu einem Bewegungstalent werden. Aber er wird den normalen Anforderungen gewachsen sein. Der Aufbau von Motivation, Herausforderungen anzunehmen, das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und die erlernte soziale Bezogenheit werden ihn lebenslang darin unterstützen. Literatur ■ Beck, H., Anastasiadou, S., Meyer zu Reckendorf, C. (2016): Faszinierendes Gehirn. Springer Sektrum, Berlin / Heidelberg, https: / / doi. org/ 10.1007/ 978-3-662-47092-3 ■ Carter, R. (2010): Das Gehirn. Dorling Kindersley, München ■ Grawe, K. (2004): Neuropsychotherapie. Hogrefe, Göttingen ■ Pauel, C. (2005): Handlungsorientierung im Heilpädagogischen Reiten. In: Kröger, A. (Hrsg.): Partnerschaftlich miteinander umgehen. 2. Aufl., FN, Warendorf ■ Thompson, R. (2016): Das Gehirn. 3. Aufl. Springer, Berlin / Heidelberg ■ Urmoneit, I. (2017): Die Bedeutung neurobiologischer Erkenntnisse für die Interventionsgestaltung in der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd am Beispiel des motivationalen Systems. Mensch und Pferd international 1, 4-15 ■ Urmoneit, I. (2015): Pferdgestützte systemische Pädagogik. 2. Aufl. Ernst Reinhardt, München