mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mup2017.art02d
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Die Bedeutung neurobiologischer Erkenntnisse für die Interventionsgestaltung in der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd am Beispiel des motivationalen Systems
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Imke Urmoneit
Die Erkenntnisse der neurobiologischen Forschung werden in den nächsten Jahren zunehmend Einfluss auf die Gestaltung pädagogischer und therapeutischer Prozesse nehmen. Anhand dieser neurobiologischen Grundlagen für das Denken, Fühlen und sich Verhalten, können Verhaltensweisen eines Menschen eingeordnet und Interventionen abgestimmt auf die psychischen Grundbedürfnisse entwickelt werden. Mit Hilfe zweier Fallbeispiele aus dem heilpädagogischen Voltigieren werden zwei maßgebliche neurobiologische Systeme, das motivationale Belohnungssystem und das Stresssystem vorgestellt. Über die Verhaltensbeobachtung können Rückschlüsse auf die Ausschüttung der Neurotransmitter im Gehirn gezogen werden.
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4 | mup 1|2017|4-15|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2017.art02d Imke Urmoneit Schlüsselbegriffe: neuronale Muster, psychische Grundbedürfnisse, motivationales System, Stressreaktion, Beziehungsgestaltung, pädagogische Interventionen Die Bedeutung neurobiologischer Erkenntnisse für die Interventionsgestaltung in der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd am Beispiel des motivationalen Systems Die Erkenntnisse der neurobiologischen Forschung werden in den nächsten Jahren zunehmend Einfluss auf die Gestaltung pädagogischer und therapeutischer Prozesse nehmen. Anhand dieser neurobiologischen Grundlagen für das Denken, Fühlen und sich Verhalten, können Verhaltensweisen eines Menschen eingeordnet und Interventionen abgestimmt auf die psychischen Grundbedürfnisse entwickelt werden. Mit Hilfe zweier Fallbeispiele aus dem heilpädagogischen Voltigieren werden zwei maßgebliche neurobiologische Systeme, das motivationale Belohnungssystem und das Stresssystem vorgestellt. Über die Verhaltensbeobachtung können Rückschlüsse auf die Ausschüttung der Neurotransmitter im Gehirn gezogen werden. Urmoneit - Die Bedeutung neurobiologischer Erkenntnisse für die Interventionsgestaltung … mup 1|2017 | 5 Das Human Genom Projekt wurde im Jahr 2003 unter anderem mit dem Ergebnis abgeschlossen, dass das Entwicklungspotenzial des Menschen nicht allein durch die Quantität und die Qualität seiner Gene begründet werden kann. Die Vorstellung, dass die Gene festlegen, welche Fähigkeiten ein Mensch entwickeln wird und dass die Einflüsse der Umwelt nur eine nachrangige Bedeutung einnehmen, musste revidiert werden (Kegel 2009). Die Frage, wie neuronale Verknüpfungen im Gehirn entstehen und wie sie sich auf das Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Verhalten auswirken, steht neben der Epigenetik (Regulation der Genfunktion) seitdem im Mittelpunkt der Forschung. In der Literatur, die eine Umsetzung neurobiologischer Erkenntnisse in Pädagogik und Psychotherapie thematisiert, wird das Gehirn als soziales Organ bezeichnet und Beziehung als wesentlicher Motor der neurobiologischen Entwicklung angesehen. „Sie haben erkannt, dass das Gehirn ein soziales Organ ist und dafür geschaffen wurde, in Beziehung zu sein. Es ist so beschaffen, dass es Signale aus der sozialen Umwelt aufnimmt, was wiederum die innere Welt eines anderen Menschen beeinflusst. Mit anderen Worten, das was zwischen Gehirnen entsteht, ist eng mit dem verbunden, was in jedem individuellen Gehirn geschieht. Selbst Gehirn und Gemeinschaft sind zutiefst miteinander verbunden, weil jedes Gehirn ständig durch die Interaktion mit anderen geformt wird“ (Siegel / Payne Bryson 2016, 163). Heute steht außer Frage, dass die Qualität der menschlichen Beziehung insbesondere in der frühen Kindheit den stärksten Einfluss auf die Entwicklung des Gehirns und der darin aufgebauten neuronalen Muster hat. Auch in pädagogischen, heilpädagogischen und psychotherapeutischen Kontexten ist die Beziehung eine sehr entscheidende Wirkkomponente eines erfolgreichen Veränderungsprozesses. Stellt sich die Frage, wie genau Beziehungen den Aufbau neuronaler Verknüpfungen beeinflussen und andersherum, wie neuronale Verknüpfungen die Fähigkeit, Beziehungen zu gestalten, steuern. Anhand des motivationalen Systems beleuchte ich diese Frage im Folgenden durch den Wechsel zwischen theoretischen Erläuterungen und Fallbeispielen aus der Praxis der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd. Anna und Ben kommen gemeinsam mit zwei weiteren Kindern zu ihrer ersten Stunde im heilpädagogischen Voltigieren. Nachdem die Pädagogin die Kinder begrüßt hat, schlägt sie vor, gemeinsam zum Pferd zu gehen. Ben nickt und beginnt sofort, ihr Fragen zum Pferd zu stellen. Er sucht ihren Blickkontakt und ihre Nähe. Auf dem Weg zur Box hüpft er mit einem lachenden Gesicht neben ihr her. Anna hält Abstand zur Pädagogin und zu den anderen Kindern. Schaut die Pädagogin zu ihr herüber, senkt sie den Blick und dreht ihren Körper weg. Sie folgt der Gruppe auf dem Weg zur Box zögerlich. Nachdem die Pädagogin den Kindern das Pferd vorgestellt hat, holt sie es aus dem Stall und schlägt den Kindern vor, es gemeinsam zu putzen. Ben sucht schnell das Gespräch mit der Pädagogin und fragt, was und wie er putzen kann. Er greift nach einer Bürste und beginnt an der Schulter des Pferdes. Auf die Frage, ob er Unterstützung braucht, antwortet er mit einem klaren Nein, er könne das schon alleine. Nach wenigen Augenblicken spricht er die Pädagogin erneut an und berichtet ihr, dass er eine Seite schon ganz sauber bekommen hat. Er kann genau beschreiben, wie er dies geschafft hat. In der gesamten Zeit nimmt Ben keinen Kontakt zu den anderen Kindern auf. Anna reagiert auf die Aufforderung, sich am Putzen zu beteiligen, mit einem Kopfschütteln. Als die Pädagogin sich ihr zuwendet und sie fragt, warum sie nicht mitmachen möchte, sagt sie leise, aber bestimmt, dass sie keine Lust habe. Sie entfernt sich noch Die Qualität menschlicher Beziehungen entfaltet den stärksten Einfluss auf die Entwicklung des Gehirns. 6 | mup 1|2017 Urmoneit - Die Bedeutung neurobiologischer Erkenntnisse für die Interventionsgestaltung … einige Schritte mehr vom Geschehen und bleibt angelehnt an der Wand stehen. Ihr Gesicht wirkt angespannt und ihr Gesichtsausdruck verändert sich kaum. Die Pädagogin beobachtet, dass Anna leicht zittert und den Atem anhält. Die sehr unterschiedlichen motivationalen Bereitschaften von Ben und Anna, sich auf das Geschehen, die Pädagogin und das Pferd einzulassen, lässt sich auf der Grundlage der neurobiologischen Prozesse in ihren Gehirnen verstehen. Auf der Basis dieses Verstehens kann die Pädagogin Interventionen gestalten, die den Kindern dauerhaft helfen, neuronale Verbindungen aufzubauen und zu verändern, sodass sie angemessen mit herausfordernden Situationen umgehen lernen. Grawe (2004) beschreibt, dass sich neuronale Prozesse bei der Entwicklung von Motivation an vier innerpsychischen Grundbedürfnissen orientieren. 1. Das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle (Autonomie). „Ich kann aus eigener Kraft Einfluss auf Situationen und andere Menschen nehmen und das Geschehen kontrollieren und ordnen. Ich bin selbstwirksam.“ 2. Das Bedürfnis nach Bindung (Beziehung). „Ich bin mit anderen Menschen verbunden, ich werde gesehen und geachtet. Ich bin ein wertvolles Mitglied der Gemeinschaft. Mir wird Mitgefühl entgegengebracht und ich fühle mit anderen Menschen mit.“ 3. Das Bedürfnis nach Lust (Vermeidung von unangenehmen Gefühlen). „Ich empfinde Gefühle, die mir vertraut sind und mir gut tun. Ich kann diese Gefühle mit meinem Verhalten aufrechterhalten. Ich kann Stress vermeiden.“ 4. Das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung. „Ich weiß, was ich kann, meine Fähigkeiten sind mir bewusst. Ich bin ein wertvoller Mensch.“ Das Gehirn muss seine Prozesse so steuern lernen, dass diese Grundbedürfnisse gleichzeitig versorgt werden (Aufbau von Konsistenz) und es nicht zu motivationalen Konflikten kommt. Motivationale Konflikte basieren darauf, dass ein oder mehrere Grundbedürfnisse auf Kosten anderer Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden (siehe auch das Beispiel von Daniel in Urmoneit 2015, 83 f). Grawe (2004) betont, dass Konsistenz, also das innere Stimmigkeitsgefühl, als übergeordnetes Grundprinzip der Arbeitsweise des Gehirns angesehen werden kann. „Konsistenzregulation findet ganz überwiegend unbewusst statt und durchzieht so sehr das ganze psychische Geschehen, dass es angemessen erscheint, von einem obersten oder pervasiven Regulationsprinzip im psychischen Geschehen zu sprechen“ (Grawe 2004, 191). Können wir unsere oft unbewusst laufenden motivationalen Ziele unter den real vorhandenen Bedingungen erreichen, stellen sich ein inneres Gefühl der Stimmigkeit und damit verbundene angenehme Gefühle ein. Betrachten wir zunächst Bens Verhalten genauer, so fällt auf, dass er die vier psychischen Grundbedürfnisse auf den ersten Blick gut erfüllen kann und somit zufrieden, motiviert und innerpsychisch stabil wirkt. Er nimmt häufig Blickkontakt mit der Pädagogin auf und interagiert mit ihr. Durch die freundliche und annehmende Rückmeldung wird ihm ein Beziehungsangebot gemacht, dass sein Bindungsbedürfnis versorgt. Gleichzeitig fordert er ein, Dinge ohne Hilfe auszuprobieren und organisiert so die Befriedigung des Grundbedürfnisses der Kontrolle und Orientierung. Er wirkt fröhlich und neugierig, sodass die Pädagogin von außen beobachten kann, dass das motivationale Ziel nach Lustgewinn erreicht ist. Die Pädagogin bemerkt auch, dass Ben ihr Lob registriert und sogar selbst ausspricht, was er gut gemacht hat. Ben versorgt das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung durch die bewusste Verankerung seiner Fähigkeiten. Er nimmt nicht nur aktiv am Geschehen teil, sondern hat gute Strategien entwickelt, seine psychischen Grund- Urmoneit - Die Bedeutung neurobiologischer Erkenntnisse für die Interventionsgestaltung … mup 1|2017 | 7 bedürfnisse zu versorgen. Seine Eltern haben ihn dennoch zur Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd angemeldet. Sie berichten, dass er von anderen Kindern ausgeschlossen wird, keine Freunde findet und mit seinen acht Jahren noch immer sehr an seinen Eltern und auch an den Lehrern in der Schule „klebt“. Bevor wir uns die Frage stellen, warum Ben trotz der gut entwickelten Strategien zur Versorgung seiner psychischen Grundbedürfnisse dieses „Problem“ hat, schauen wir uns an, welche neurobiologischen Prozesse bei Ben in der beschriebenen Situation ablaufen. Der Aufbau motivationalen Handelns basiert auf dem eigentlichen Belohnungssystem und dem Belohnungserwartungssystem. Macht ein Mensch die Erfahrung, dass sein Verhalten belohnt wird (Erfüllung der psychischen Grundbedürfnisse), werden endogene Opioide ausgeschüttet, die sowohl auf der unbewussten wie auch auf der bewussten Ebene neuronale Verschaltungen aktiveren und aufbauen. Dadurch wird ein Befriedigungsgefühl ausgelöst, dass neuronal mit der konkreten Situation und dem Erhalt der Belohnung verknüpft wird. Neuronen, die auf diesem Weg mit einer hohen emotionalen Beteiligung aktiviert werden, verbinden sich durch die Ausschüttung dieses Neurotransmitters intensiv und werden eng an den auslösenden Reiz gekoppelt. Hier kommt jetzt das Belohnungserwartungssystem, dass über die Ausschüttung von Dopamin in Gang gesetzt wird, ins Spiel. „Es baut auf dem System der Belohnungserfahrung auf und entwickelt daraus Erwartungen nach dem Grundsatz, dass Handlungen, die einmal zu Belohnungen geführt haben, wiederholt, und solche, die Unlust oder Schmerz zur Folge hatten, auch in der Zukunft vermieden werden sollten“ (Roth / Strüber 2014, 147 f). Ben nimmt auf der unbewussten Ebene sofort wahr, dass die Pädagogin „nett und freundlich“ ist. In Bens Gehirn werden durch die positiven Bindungserfahrungen mit seinen Eltern immer wieder Opioide ausgeschüttet und so feste neuronale Verbindungen aufgebaut. Diese Verbindungen enthalten das „Wissen“, dass der Kontakt zu „freundlich reagierenden“ Erwachsenen angenehm ist und das Bedürfnis nach Bindung und Lust befriedigt. „Interaktionen mit Bezugspersonen werden auf der Grundlage ihres emotionalen Belohnungswertes analysiert und das Ergebnis wird dann unbewusst auf künftige Situationen übertragen“ (Cozolino 2007, 155). Schon nach den ersten Augenblicken des Kontakts mit der Pädagogin schüttet sein Gehirn Dopamin aus, weil er aufgrund seiner Vorerfahrungen die Erwartung hat, dass ihm der Kontakt gut tun und er erneut belohnt wird. Seine Autonomiebestrebungen werden ebenfalls durch die Ausschüttung von Dopamin begleitet. Ben hat aufgrund seiner Vorerfahrungen - seine Eltern loben ihn viel und lassen ihn vieles ausprobieren - die Erwartung aufgebaut, dass er Dinge aus eigener Kraft schafft. Ben erzählt der Pädagogin immer wieder, was er gut macht. Auch hier hat sein Gehirn frühere Erfahrungen in neuronale Verbindungen umgesetzt und schüttet jetzt schon vor Bens Verhalten Dopamin aus, so dass er das Annäherungsverhalten an eine Aufgabe automatisiert und ohne große Anstrengung abrufen kann. Bens Gehirn befindet sich durch die Ausschüttung von Dopamin sozusagen im Zustand eines Flows, einer hohen motivationalen Bereitschaft, sich auf eine Aufgabe einzulassen. Ben meistert eine Herausforderung; sein Gehirn speichert diese Erfahrung; bei der nächsten Herausforderung baut sich eine positive Erwartung auf, die Herausforderung zu meistern; es wird Dopamin ausgeschüttet. Ben zeigt Annäherungsverhalten, wendet sich der Aufgabe neugierig und zuversichtlich zu. Sein Selbstvertrauen und sein Selbstwertgefühl werden positiv unterstützt und er wird immer erfolgszuversichtlicher. Diesen Flow-Zustand, die beständige Ausschüttung Erfahrungen, die eine hohe emotionale Beteiligung auslösen, werden intensiv neuronal gespeichert. 8 | mup 1|2017 Urmoneit - Die Bedeutung neurobiologischer Erkenntnisse für die Interventionsgestaltung … von Dopamin und die dadurch ausgelöste Annäherung an eine Aufgabe bezeichnen wir auch als intrinsische Motivation. Ben ist nicht darauf ausgerichtet, eine materielle Belohnung für die Erledigung der Aufgabe zu erhalten, um sich dann von der Aufgabe abzuwenden und mit der Belohnung zufrieden zu sein. Er wird durch die erfolgreiche Bewältigung der Aufgabe und die damit verbundene Befriedigung seiner psychischen Grundbedürfnisse immer wieder für die nächste Herausforderung motiviert. Die Ausschüttung von Dopamin und das dadurch ausgelöste Annäherungsverhalten ist eine wichtige Grundvoraussetzung für den Aufbau psychischer Gesundheit. Grawe führt dazu aus: „Das Erleben und Verhalten eines Menschen wird unmittelbar von seinen motivationalen Schemata bestimmt. Wächst ein Mensch in einer Umgebung auf, die ganz auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse eingestellt ist, wird er hauptsächlich annähernde motivationale Ziele entwickeln und erwirbt viel Erfahrung mit ihrer positiven Befriedigung. Dazu gehören entsprechende Erwartungen und ein differenziertes Verhaltensrepertoire zur Realisierung der Ziele unter verschiedenen Bedingungen“ (Grawe 2004, 188). Wie kommt es, dass Ben trotz dieser hohen Ausschüttung von Dopamin und dem deutlich beobachtbaren Annäherungsverhalten Schwierigkeiten im sozialen Kontakt mit anderen Kindern hat? Bilden sich diese Schwierigkeiten ebenfalls in den neurobiologischen Abläufen in seinem Gehirn ab? Schauen wir uns dafür eine weitere Beobachtung aus der ersten Stunde genauer an. Auf die Frage, wer die Hufe auskratzen möchte, meldet sich Ben sofort zu Wort. Aber auch Paul äußert den Wunsch, diese Aufgabe zu übernehmen. Die Pädagogin fordert die beiden Kinder auf, sich zu einigen, wer anfängt. Ben ruft sofort, dass er anfangen würde. Paul besteht ebenfalls darauf, der Erste zu sein. Die Pädagogin teilt den Kindern mit, dass nicht beide anfangen können und sie sich einigen müssen, bevor es losgehen kann. Paul geht einen Schritt auf Ben zu und will gerade anfangen mit ihm zu reden, als Ben sich umdreht. Er nimmt der Pädagogin den Hufkratzer aus der Hand und fragt, was er jetzt machen soll. Sie erwidert ihm, dass er sich erst mit Paul einigen müsse, sie könne ihm dabei helfen. Ben wirkt hilflos und unsicher, bleibt aber bei der Pädagogin stehen. Auf den erneuten Kontaktversuch von Paul reagiert er nicht. Aufgrund der noch nicht gefestigten Beziehung zu den Kindern entscheidet sich die Pädagogin, die Situation direktiv zu lösen. Sie bittet Paul, einen Moment zu warten. Sie würde erst mit Ben zwei Hufe auskratzen und dann sei er dran. Ben folgt der Aufforderung der Pädagogin, sich gemeinsam dem Auskratzen der Hufe zuzuwenden. Er entspannt sich, fragt wieder nach, was er machen muss, sucht den Blickkontakt und lächelt. Als er fertig ist, lobt sie Ben, indem sie ihm sehr genau beschreibt, was er gut gemacht hat. Da Paul nicht zugesehen hatte, bittet sie Ben, Paul zu beschreiben, was er machen muss, wenn sie jetzt mit Paul die beiden anderen Hufe säubert. Ben zögert etwas, aber als er merkt, dass die Pädagogin Paul nah zu sich holt und Paul ihn nicht anschaut, beginnt er zu erzählen, was gemacht werden muss. Als alle vier Hufe sauber sind, meldet die Pädagogin beiden Kindern zurück, dass sie vier ein gutes Team waren. Motivationale neurobiologische Schemata sind nicht starr, sondern bilden sich bezogen auf den Kontext sehr individuell aus. Jeder Mensch hat somit verschiedene motivationale Verhaltensbereitschaften aufgebaut, die er je nach Kontext abrufen kann. Im Kontakt mit seinen Eltern und anderen erwachsenen Bezugspersonen hat Ben eine hohe Bereitschaft aufgebaut, motiviert zu interagieren und sich für Aufgaben zu interessieren. Sobald er eine Aufgabe in Zusammenarbeit mit einem anderen Kind lösen soll, Die erfolgreiche Bewältigung einer herausfordernden Aufgabe erzeugt intrinsische Motivation. Urmoneit - Die Bedeutung neurobiologischer Erkenntnisse für die Interventionsgestaltung … mup 1|2017 | 9 bricht diese Motivation förmlich weg. Ben versucht diese Situation zu umgehen, indem er sich wieder der Pädagogin zuwendet und sie auf der unbewussten Ebene durch sein Verhalten auffordert, dass andere Kind aus der gemeinsamen Interaktion auszuschließen. Sein Gehirn sucht nach einer Möglichkeit, den vertrauten, sich angenehm anfühlenden Zustand wieder herzustellen. In der „neuen“ Situation kann Ben sein Bedürfnis nach Bindung nicht befriedigen, weil ihm keine Kompetenzen zur Verfügung stehen, Kontakt mit dem anderen Kind aufzunehmen. Er kann das Angebot der Pädagogin, ihn zu unterstützen nicht wahrnehmen und auch nicht mehr sagen, was er aus eigener Kraft bewältigen kann. Ihm geht die Kontrolle und somit auch das Gefühl, sich orientieren zu können, verloren. Das Lachen ist aus seinem Gesicht verschwunden, er sieht hilflos und unsicher aus. Dies lässt darauf schließen, dass er kein Gefühl der Lust verspürt. Ben kann auch nicht mehr in Worte fassen, was er kann und was ihm gelingt. In der veränderten Situation ist ihm ein Zugang zu seinem Selbstwert nicht mehr gut möglich und er kann in diesem Zustand auch keine neuen Fähigkeiten aufbauen und verankern. Bens Flow-Erleben und sein intensives Annäherungsverhalten sind zum Erliegen gekommen und er entwickelt jetzt ganz andere neurobiologische Aktivitäten, die dazu führen, die Aufgabe zu vermeiden. Seine Eltern konnten der Pädagogin im Elterngespräch wertvolle Hinweise darauf geben, warum Ben im Kontakt mit anderen Kindern ein starkes Vermeidungsverhalten zeigte. Ben sei mit drei Jahren schwer erkrankt und es sei lange nicht klar gewesen, ob er wieder ganz gesund werden würde. Es habe ein ganzes Jahr gedauert, bis er wieder körperlich belastbar gewesen sei. In dieser Zeit hätten andere Kinder seinen Zustand der Schwäche ausgenutzt und ihn geärgert und ausgeschlossen. Dies habe die Eltern und auch Ben sehr belastet. Um Ben zu unterstützen, hätte er viele Fördermaßnahmen wahrgenommen. Sie hätten darauf geachtet, dass diese nicht in einer Gruppe stattfanden. Auch hätten sie Ben nicht in den Kindergarten geschickt, um ihm die belastenden Erfahrungen zu ersparen. Heute sei Ben wieder ganz gesund, aber die Lehrer melden zurück, dass Ben keinen Anschluss finde, sich absondere und sehr stark den Kontakt zu den Erwachsenen suche. Sie hätten Sorge, dass er aufgrund seines Verhaltens zum Außenseiter werde. Die Pädagogin meldete den Eltern folgendes zurück: „Ich verstehe gut, dass Sie in Ihrer großen Sorge um Ben entschieden haben, alle zusätzlichen Belastungen und Herausforderungen von ihm fern zu halten. Im Kontakt mit Ihnen konnte Ben ganz wichtige Fähigkeiten aufbauen. Er ist sehr motiviert und weiß gut, was er kann. Sie nehmen die Rückmeldung der Lehrer ernst, dass Ben aufgrund der schweren Zeit zu wenige Erfahrungen aufgebaut hat, mit anderen Kindern gut auszukommen. Es ist gut, dass Ben dies jetzt bei mir im geschützten Rahmen lernen kann. Seine vielen von Ihnen unterstützten Fähigkeiten werden ihm dabei helfen, aber es wird auch eine Herausforderung für ihn sein, die ihn vielleicht manchmal traurig, ängstlich oder wütend machen wird. Dies werden sie gemeinsam aushalten müssen, damit Ben lernt, mit Gleichalterigen gut auszukommen.“ Ben hatte im Kontakt mit Gleichalterigen in einer Zeit, in der Kinder Kompetenzen des Sozialverhaltens erlernen, die Erfahrung gemacht, dass ihn das Verhalten der anderen Kinder überfordert. Aufgrund seiner Erkrankung fehlten ihm körperliche Ressourcen im gemeinsamen Spiel und er musste während seiner Aufenthalte im Krankenhaus emotionale Zustände der Angst aushalten, die ihn ebenfalls überforderten. Die Erwachsenen waren in der Lage, sich auf Bens Situation und die Befriedigung seiner psychischen Eltern müssen bei der Begleitung ihrer Kinder lernen, schwierige Emotionen gemeinsam auszuhalten. 10 | mup 1|2017 Urmoneit - Die Bedeutung neurobiologischer Erkenntnisse für die Interventionsgestaltung … Grundbedürfnisse einzustellen und kamen ihm sozusagen mit ihrem Verhalten entgegen. Gleichalterige Kinder besitzen diese Fähigkeit der Anpassung an andere, das emotionale Mitschwingen und die Balance zwischen Bezogenheit und Individualität noch nicht, so dass sie Ben nicht entgegen kommen konnten. Sie stellten eine große Herausforderung für ihn da, die er nicht bewältigen konnte. Bens Gehirn speicherte Situationen mit gleichaltrigen Kindern als bestrafend ab und die unangenehmen Gefühle wurden fest mit den Situationen und Reizen, die von Gleichalterigen ausgehen, gekoppelt. Da seine Eltern ihm ein verlässliches Bindungsangebot machten, zog er sich in Situationen der Überforderung in die Sicherheit gebende Beziehung zurück. Bens Gehirn hatte in Bezug auf den Kontakt mit anderen Kindern ein folgenschweres Muster aufgebaut. Ben kann die Herausforderung „Kontakt zu anderen Kindern“ nicht bewältigen; es stellen sich unangenehme Gefühle ein. Kommt die nächste Herausforderung auf ihn zu, fühlt er sich ängstlich und denkt, dass er es wieder nicht schaffen wird. Um diese negativen Gedanken und Gefühle zu vermeiden, geht er den Herausforderungen aus dem Weg. Er baut immer stärkere Selbstzweifel auf. Seine Eltern schützen ihn vor neuen, auch vor kleinen Herausforderungen und bestätigen so die Kopplung von „Kontakt mit anderen Kindern“ mit Angst und Misserfolgserwartung. Roth und Strüber (2014, 100) beschreiben neuste Forschungsergebnisse, die darauf hinweisen, „dass einige dopaminerge Zellen auch aversive Ereignisse wie Bestrafung oder Belohnungsentzug signalisieren, und zwar über eine langsame und anhaltende Verringerung der Spontanaktivität.“ Die Erwartung einer negativen Erfahrung ist in Bens Gehirn weiterhin an die Ausschüttung von Dopamin gekoppelt, nur löste das Dopamin jetzt einen Rückzug von der Aufgabe und die Annäherung an schützendes Verhalten aus. Könnten wir Bens Gehirn bei der Arbeit zusehen, würden wir jetzt weitere Neurotransmitter finden, die Aktivitäten auslösen, neuronale Verbindungen aktivieren und so intensivieren. Bei einer Stressreaktion, wie Ben sie in dieser Situation erlebt, werden die Stresshormone Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin ausgeschüttet und seine motivationalen Verhaltensbereitschaften richten sich auf den Schutz vor Verletzungen, Strafen oder den Entzug von Belohnung aus. Da der Pädagogin bewusst ist, welche Auswirkungen diese Stressreaktion in Bens Gehirn auf seine Möglichkeiten hat, Herausforderungen zu meistern, unterstützt sie sein Gehirn zunächst dabei, Sicherheit aufzubauen und sich zu beruhigen. Sie konfrontiert ihn nicht damit, dass er die Aufgabe nicht bewältigt hat, sondern löst die überfordernde Aufgabe auf, indem sie direktiv vorgibt, wer als erster dran ist. Da Paul in dieser Situation stabiler wirkt als Ben, entscheidet sie sich, Ben als ersten die Hufe auskratzen zu lassen. So kann sie sicherstellen, dass der Halt gebende Kontakt zum instabileren Kind nicht abbricht. Dadurch hilft sie Bens Gehirn, einen weiteren Neurotransmitter, das Serotonin, das für die innerpsychische Beruhigung wichtig ist, auszuschütten. Da Ben sofort Anzeichen der Entspannung und Beruhigung zeigt, entscheidet sie sich, ihm eine angemessene Herausforderung in der Kontaktaufnahme zu Paul zu stellen. Ben soll Paul beschreiben, was er machen muss, ohne dass er dabei Nähe aufbauen und zulassen muss. Anhand von Bens Verhalten kann sie gut beobachten, wie erneut Stresshormone in seinem Gehirn ausgeschüttet werden. Ben zögert und sein Gesicht wirkt angespannt. Durch die gute pädagogische Rahmung des Prozesses gelingt es der Pädagogin jedoch, Bedingungen zu schaffen, unter denen Ben die Irritation aushalten kann. Er hatte die Pädagogin als schützend erlebt, dadurch baute sein neurobiologisches System die Erwartung auf, dass sie ihn bei Überforderung wieder schützen würde. Die neue Aufgabe ist in ihrer Herausforderung überschaubarer und Paul kommt ihm nicht näher. Er kann in der Distanz bleiben und trotzdem einen Beitrag für die Beziehung leisten. Anschließend erhält er eine Rückmeldung über eine gezeigte Kompetenz in Bezug Urmoneit - Die Bedeutung neurobiologischer Erkenntnisse für die Interventionsgestaltung … mup 1|2017 | 11 auf seine Zusammenarbeit mit Paul. Ben kann so gleich zu Beginn der Maßnahme eine wichtige neue Erfahrung machen: Ich kann Irritationen aushalten und mich einer kleinen Herausforderung stellen - ich habe das geschafft. „Wiederholte Erfahrungen des Übergangs, von regulierten Zuständen zu fehlregulierten Zuständen und wieder zurück zu regulierten Zuständen, werden in den Netzwerken des sensorischen, motorischen und emotionalen Gedächtnisses gespeichert. Wenn Bezugspersonen an diesem Prozess beteiligt sind und dem Säugling oder Kleinkind wiederholt helfen, wieder zu regulierten Zuständen zurückzufinden, so trägt dies zum Aufbau und zur Verstärkung jener Schaltkreise (Anmerkung: Bewältigung von Stress, Aktivierung des Beruhigungssystems) bei“ (Cozolino 2007, 112). Die Pädagogin erhält auf der Basis der Reflexion des neurobiologischen Geschehens schon nach wenigen Minuten wichtige Hinweise, wie sie die nächsten Stunden gestalten muss, um Ben zu unterstützen: ■ Sie knüpft an Bens Ressourcen an, seine psychischen Grundbedürfnisse im Kontakt mit Erwachsenen gut befriedigen zu können. So kann sie die Ausschüttung von Dopamin unterstützen. ■ Sie rahmt Herausforderungen so, dass er nicht überfordert wird. Er darf in ihrer Nähe bleiben und bekommt zunächst nur kleine Interaktionsaufgaben in Bezug auf die anderen Kinder. So kann sie verhindern, dass in Bens Gehirn zu viele Stresshormone ausgeschüttet werden und sie unterstützt so die Ausschüttung von Serotonin. ■ Bei Herausforderungen und Irritationen intensiviert sie ihr Beziehungsangebot, um Einfluss auf seinen Zustand nehmen zu können. So kann Bens Gehirn ein übergeordnetes Muster aufbauen, um von einem nichtregulierten Zustand in einen regulierten Zustand zu kommen. ■ Sie meldet ihm seine zunächst „kleinen“ Kompetenzen in der Interaktion mit den anderen Kindern zurück. So kann sein Gehirn anfangen, seine Ressourcen im Kontakt mit Erwachsenen auf andere Kontexte zu übertragen. ■ Erst wenn Ben einen stabilen Kontakt und Vertrauen zum Pferd aufgebaut hat, wird sie ihn mit kleinen Aufgaben konfrontieren, die er zusammen mit einem anderen Kind auf dem Rücken des Pferdes erledigen muss. Sie nutzt so den Bewegungsdialog und die dadurch entstehende Erfahrung der Rhythmisierung und Einstimmung auf einen anderen (siehe auch Urmoneit 2015, 133 f). Anna eröffnet uns die Möglichkeit, noch einmal genauer hinzuschauen, was im Gehirn passiert, wenn eine Stressreaktion abläuft und nach außen ein deutliches Vermeidungsverhalten sichtbar wird. Anna vermeidet nicht nur den Kontakt mit der Pädagogin. Sie meidet auch den Kontakt zu den anderen Kindern, zum Pferd und zur Aufgabe. Möglich wäre jedoch auch eine andere Beschreibung, die deutlich macht, dass auch Anna sehr wohl ein Annäherungsverhalten zeigt. Anna zeigte eine hohe Motivation sich zu schützen, sich zum Geschehen in Distanz zu bringen und sich einer Situation anzunähern, in der sie sich weniger bedroht fühlt. Grawe führt zur Entwicklung von Vermeidungsverhalten aus: „Wächst ein Mensch dagegen in einer Umgebung auf, in der seine Grundbedürfnisse immer wieder verletzt, bedroht oder enttäuscht werden, entwickelt er Vermeidungsschemata, um sich vor weiteren Verletzungen zu schützen. In einer tatsächlich verletzenden Umgebung kann Vermeidung als angepasstes Verhalten angesehen werden. Stark ausgeprägte Vermeidungsschemata verstellen jedoch später den Weg zur positiven Bedürfnisbefriedigung auch in Situationen, die eigentlich dafür geeignet wären, weil die Situationen eher die besser gebahnten vermeidenden als die annähernden Tendenzen aktivieren“ (Grawe 2004, 188). Was genau passiert auf der neurobiologischen Ebene in Annas Gehirn und wie kann sich die Pädagogin darauf einstellen? 12 | mup 1|2017 Urmoneit - Die Bedeutung neurobiologischer Erkenntnisse für die Interventionsgestaltung … Wird ein eingehender Reiz vom Gehirn als bedrohlich wahrgenommen, da frühere Erfahrungen mit diesem Reiz eng an negative Konsequenzen gekoppelt sind, wird die sogenannte Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA) aktiviert. Die Amygdala, die im limbischen System des Gehirns verortet ist, bewertet eine Situation aufgrund aller im Gehirn auf der bewussten und unbewussten Ebene vorhandenen Informationen. Stellt sie eine Gefahr fest, aktiviert sie den Hypothalamus, der die Information der Bedrohung übersetzt, sodass der Körper darauf reagieren kann. Im Gehirn übernimmt der Hypothalamus damit eine überaus wichtige Funktion, er baut eine Brücke zwischen den „sozialen“ Gehirnarealen und der „körperlichen“ Reaktionsebene des Gehirns (siehe auch Cozolino 2007). Über die Aktivität des Hypothalamus wird die Hypophyse aktiviert, die durch die Produktion des Hormons ACTH (adrenocorticotropes Hormon) die Nebennierenrinde zur Ausschüttung von Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol anregt. Was genau bewirken diese Hormone in unserem Körper und in unserem Gehirn? Adrenalin: Der Körper wird durch die Ausschüttung von Adrenalin in die Lage versetzt, alle Prozesse auf die Sicherung des Überlebens einzustellen. Hierzu zählt die Erhöhung des Herzschlags und des Blutdrucks, eine Verbesserung der Durchblutung der Muskulatur, die Bereitstellung von Energie durch den Abbau von Fett, das Herunterfahren des Stoffwechsels im Verdauungstrakt und die Erweiterung der Bronchien in den Lungen. Noradrenalin: Das Noradrenalin unterstützt die Umstellung der Körperprozesse ähnlich wie das Adrenalin, um das Überleben zu sichern. Aber es kommen noch zwei weitere Wirkungen hinzu. Die Prozesse im Cortex (bewusste Ebene des Nachdenkens) werden gehemmt und automatisierte Flucht- und Kampfreaktionen, die in den unbewussten Strukturen des limbischen Systems gespeichert sind, werden aktiviert. Es wird nicht mehr auf der bewussten Ebene, sondern auf der unbewussten Ebene eine Lösung gestaltet. Außerdem sorgt das Noradrenalin dafür, dass sich das Gehirn auf die Fokussierung des bedrohlichen Reizes einstellt, um eine schnelle Antwort geben zu können. Cortisol: Der normale Cortisolwert im Blut steigt unter der Einwirkung von Stressfaktoren deutlich an. Einerseits mobilisiert diese Reaktion im Körper gespeicherte Energie für eine schnelle und effektive Antwort auf die Bedrohung, andererseits hemmt das Cortisol die Reaktion des Hypothalamus und der Hypophyse. Damit soll eine Überreaktion auf den auslösenden Reiz verhindert werden. So spricht ein dauerhaft erhöhter Cortisolspiegel dafür, dass der Körper ständig versucht, eine Balance zwischen schneller Reaktion zur Sicherung des Überlebens und dem Vermeiden der Überreaktion herzustellen. Die Pädagogin beobachtet sehr genau, dass Anna auf ihre Annäherungen mit Fluchtbewegungen reagiert. Sie wendet sich ab und schaut sie nicht an. Anna zittert leicht und hält den Atem an. Nimmt die Pädagogin keinen Kontakt zu ihr auf, kann sie beobachten, dass Anna ihre Aufmerksamkeit auf das Geschehen richtet, so als würde sie die ganze Zeit prüfen, was als nächstes passieren könnte. „Wenn das Nervensystem reaktiv ist, befindet es sich in einem Reaktionszustand von Kampf, Flucht oder Erstarrung, in dem es fast unmöglich ist, sich in offener und fürsorglicher Weise mit einem anderen Menschen zu verbinden“ (Siegel / Payne Bryson 2016, 171). Auch hier erhält die Pädagogin schon innerhalb der ersten Minuten über die Beobachtung des Verhaltens wichtige Informationen darüber, welche innerpsychischen Prozesse auf der bewussten und unbewussten Ebene bei Anna ablaufen, sodass sie ihre Interventionen darauf einstellen kann. Erst wenn sie einen Weg findet, Anna zu helfen, die in ihr ablaufende Stressreaktion zu beruhigen, wird Urmoneit - Die Bedeutung neurobiologischer Erkenntnisse für die Interventionsgestaltung … mup 1|2017 | 13 Anna damit beginnen können, Motivation für das Geschehen und den Kontakt zu entwickeln. Der Pädagogin ist bewusst, dass ihr dafür die Beziehungsressource, anders als bei Ben, zunächst eher im Wege stehen wird. Anna bringt deutlich zum Ausdruck, dass das „wichtigste pädagogische Werkzeug“, die Beziehung, von ihr als bedrohlich erlebt wird. Ein verstärktes Einfordern des Kontaktes würde dazu führen, dass Anna sich noch stärker zurückzieht. Verbale Erklärung, dass sie es gut mit Anna meint, könnte Anna nicht aufnehmen. So beschränkt die Pädagogin ihre Intervention in der ersten Stunde darauf, Anna zu beobachten und ihr zurückzumelden, dass es in Ordnung ist, wenn sie nicht mitmachen möchte. Ein Gespräch mit den Pflegeeltern eröffnet eine Idee, um Anna zu helfen, die Beziehungsangebote der Pädagogin nicht mehr als so bedrohlich wahrzunehmen. Die Pflegeeltern berichten davon, dass Anna in den ersten sieben Lebensjahren bei ihren Eltern aufgewachsen sei. Dort habe sie schon als kleines Kind ein hohes Maß an körperlicher und emotionaler Verwahrlosung erlebt. Als sie eingeschult wurde, meldete die Lehrerin an das Jugendamt zurück, dass sie in großer Sorge um die Entwicklung von Anna sei. Eine Überprüfung der Lebensbedingungen und der elterlichen Erziehungskompetenzen führte dazu, dass Anna mit sieben Jahren bei ihren jetzigen Pflegeeltern untergebracht wurde. Die ersten Wochen seien sehr schwierig gewesen. Anna hätte Spielangebote abgelehnt und sich abwechselnd zurückgezogen und Wutanfälle bekommen. Siegel und Payne Bryson beschreiben Annas Zustand beim Einzug in die Pflegefamilie treffend, wenn sie ausführen: „Als ein Versuch der Anpassung an die Situation könnten die Netzwerke im Gehirn dieses Kindes, die für Beziehung und Emotion zuständig sind, vollkommen funktionsuntüchtig werden, weil das Kind nicht die Nähe der Verbundenheit bekommt, die es braucht. So schaltet das soziale Gehirn seinen inneren Drang nach Verbundenheit aus, um zu überleben“ (Siegel / Payne Bryson 2016, 168). Der Hund der Familie ließ sich davon wenig beirren. Er suchte Annas Nähe, indem er sich neben sie legte und sie zum Spielen aufforderte. Diesen Kontaktangeboten öffnete sich Anna. Der Pflegevater beschreibt, wie sie dann beschlossen hätten, über den Hund langsam „an Anna heranzukommen“. Jetzt nach sechs Monaten sähen sie erste Erfolge. Anna würde sich in ihrer Nähe aufhalten, mit ihnen reden und Spielangebote annehmen. Da das Jugendamt die Auflage einer heilpädagogischen oder psychotherapeutischen Maßnahme gemacht hätte, hätten sie entschieden, ein Angebot zu suchen, das Annas Freude an Tieren entgegen kam. Annas Pflegeeltern hatten jedoch bereits aus eigener Kraft einen Weg gefunden, ihrer Pflegetochter zu helfen, den „Teufelskreis der Angst vor Beziehung“ und die damit verbundene chronische Stressreaktion zu verlassen. Hier konnte die Pädagogin an eine Ressource anknüpfen. Bereitwillig ließen sich die Pflegeeltern auf die Bitte der Pädagogin ein: „Könnten Sie sich vorstellen in den ersten ca. drei Monaten in den heilpädagogischen Voltigierstunden anwesend zu sein und Anna darin zu unterstützen, ihren innerpsychischen Stress zu regulieren? Sie müssten ihr Nähe anbieten und einfach nur beschreiben, was sie gerade sehen. Dabei ist es besonders wichtig zu beschreiben, wie ich mit dem Pferd und den anderen Kindern umgehe. Anna muss nicht mitmachen und sie müssen sie auch nicht überreden oder ermutigen. Zeigt sie einen Impuls sich zu nähern oder mitmachen zu wollen, bleiben sie an ihrer Seite.“ Eine Beobachtung in der fünften Stunde bestätigt die Pädagogin darin, sich in ihren Interventionen zurückzuhalten und die Aufgabe der „Halt gebenden Beziehung“ zunächst an die Pflegeeltern abzugeben. Anna sitzt während der Traumatisierende Beziehungserfahrungen hemmen den inneren Drang nach Verbundenheit. 14 | mup 1|2017 Urmoneit - Die Bedeutung neurobiologischer Erkenntnisse für die Interventionsgestaltung … Stunde auf der Bank, beobachtet das Geschehen, hört den Beschreibungen der Pflegemutter zu und stellt immer wieder Fragen. Sie beobachtet das Geschehen weiterhin genau, aber ihr Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Sie lächelt zwischendurch, zeigt mit dem Finger auf das Pferd und bringt sich motiviert in den Dialog mit ihrer Pflegemutter ein. Die Pädagogin schließt daraus, dass die Reize jetzt weniger Stress in Anna auslösen. Sie darf zuschauen, muss nicht aktiv werden und hat eine Person an ihrer Seite, zu der sie schon ein wenig Vertrauen aufgebaut hat. Die Beobachtungen lassen zudem darauf schließen, dass in Annas Gehirn Serotonin ausgeschüttet wird, das für Beruhigung und für die Aufhellung der Stimmung sorgt. Anna sucht immer wieder die Nähe zur Pflegemutter, sodass auch davon auszugehen ist, dass das Bindungshormon Oxytocin seine Arbeit verrichtet. Auch Oxytocin wirkt beruhigend auf das Gesamtsystem ein und reduziert den Cortisolgehalt im Blut. Diese Beobachtungen motivieren die Pädagogin, Anna eine neue kleine Herausforderung zu stellen. Am Ende, als das Pferd angebunden und versorgt auf der Stallgasse steht, bittet sie die Pflegemutter darum, kurz auf das Pferd aufzupassen, sie müsse mit den anderen Kindern etwas besprechen. Sie verabschiedet sich draußen von den anderen Kindern und als sie auf die Stallgasse zurückkommt, beobachtet sie, wie Anna von der Pflegemutter im Arm gehalten wird und das Pferd streichelt. Als sie auf der anderen Seite beginnt, das Pferd ebenfalls zu streicheln und zu loben, bricht Anna ihr Streicheln nicht ab. Aufgrund ihrer frühkindlichen Erfahrungen ist davon auszugehen, dass Anna eine frühkindliche Entwicklungstraumatisierung erlebt hatte. Ohne an dieser Stelle auf die neurobiologischen Prozesse eingehen zu können, die einer posttraumatischen Belastungsreaktion zugrunde liegen, ist die Pädagogin durch die bewusst und auf der Basis neurobiologischer Erkenntnisse gestalteten Interventionen auf einem guten Weg, eine wichtige Voraussetzung für die Verarbeitung von traumatischen Erfahrungen zu schaffen. „Für die Verarbeitung von Entwicklungstraumatisierungen ist es aber Voraussetzung, dass genügend Bindungs- und Beziehungsangebote, angstfreie Zeit und positive Bewältigungserfahrungen zur Verfügung stehen“ (Garbe 2016, 83). Für die nächsten Stunden plant die Pädagogin folgendes Vorgehen: ■ Sie wird Anna und ihrer Pflegemutter oder ihrem Pflegevater weiterhin am Ende der Stunde Raum und Zeit mit dem Pferd anbieten und sich selber dabei eher nonverbal einbringen. So kann Anna lernen, dass die Annäherung der Pädagogin nicht bedrohlich gemeint ist. ■ Sie wird beiden einen zweiten Termin von max. 30 Minuten in der Woche als Einzeltermin anbieten. Dabei wird sie mit dem Pferd in der Halle warten und den Pflegeeltern und Anna anbieten, das Pferd gemeinsam zu führen oder gemeinsam auf dem Pferd zu sitzen und sich tragen zu lassen. Sie selber wird sich dann zurückhalten und „nur“ beobachten und Hilfe anbieten. Dadurch eröffnet sie Anna mehr Raum und Zeit für positive Erfahrungen mit ihren Pflegeeltern und dem Pferd, ohne dabei schon die Beziehungsaufnahme zu ihr einzufordern. Anna hat so die Möglichkeit, ihren innerpsychischen Stress zu regulieren und das Bedürfnis nach Bindung und Lust zu befriedigen. ■ Sie wird erst dann damit beginnen, direkt mit Anna zu reden, wenn Anna den ersten Schritt macht. Bis dahin wird sie die Kommunikation über die Pflegeeltern laufen lassen und immer wieder beschreiben, was sie gerade tut. Dadurch bekommt Anna vermittelt, dass die Kontrolle über das Geschehen bei ihr liegt, sodass sie auch dieses Grundbedürfnis vermehrt befriedigen kann. ■ Sobald Anna signalisiert, dass miteinander reden in Ordnung ist, wird sie Anna zurückmelden, was ihr gelingt. So kann sie Anna helfen, das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung zu versorgen. Urmoneit - Die Bedeutung neurobiologischer Erkenntnisse für die Interventionsgestaltung … mup 1|2017 | 15 ■ In der Gruppenstunde darf Anna weiterhin zuschauen und muss nicht mitmachen. Erst wenn Anna in der Einzelsituation beginnt, Annäherungsverhalten zu zeigen, wird sie ihr sagen, dass sie in der Gruppenstunde auch gemeinsam mit der Pflegemutter oder dem Pflegevater auf das Pferd darf, wenn sie dran ist. ■ Das Mitmachen ohne die Pflegeeltern in der Gruppenstunde wird sie erst mit Anna besprechen, wenn sie mindestens drei kleine Irritationen in ihrer Beziehung miteinander bewältigen konnten. In der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd ist die Planung von Interventionen und die Gestaltung der Stunden eng an den Auftrag und die Beschreibung der Entwicklungsziele gekoppelt. Ohne die Berücksichtigung der innerpsychischen Prozesse, die auf der Basis der neuronalen Aktivitäten ablaufen, kann eine Intervention jedoch keine Wirkung entfalten. Die Frage, welche neuronalen Netzwerke im Gehirn durch die Interventionen und das Beziehungsangebot aktiviert, gestärkt oder neu aufgebaut werden, wird die Weiterentwicklung von Pädagogik, Heilpädagogik und Psychotherapie in den nächsten Jahren prägen. Schon nach wenigen Minuten der Beobachtung ist es möglich, Interventionen an die neurobiologischen Prozesse so anzupassen, dass an Ressourcen angeknüpft und Herausforderungen angemessen gestaltet werden können. Dadurch beeinflussen wir die Ausschüttung von Neurotransmittern im Gehirn und machen die neuronale Verknüpfung neuer Erfahrungen möglich. Die Erreichung von Entwicklungszielen und das Anstoßen von Veränderungsprozessen werden wir auf dieser Grundlage „anders denken, verstehen und begleiten“ müssen. Wir werden mehr darüber nachdenken müssen, wie wir das Gehirn unterstützen können, Dopamin, Oxytocin und Serotonin auszuschütten und die Hormonausschüttung beim Entstehen von Stress zu regulieren. Grawe trifft für den Bereich der Neuropsychotherapie eine Feststellung, die auch für die Heilpädagogische Förderung mit dem Pferd zutrifft, wenn er schreibt: „Dem Therapeuten ist klar: so hat es nicht viel Sinn mit der Patientin an ihrem Problemverhalten zu arbeiten. Erst muss er die verkümmerten Hirnteile wieder aufbauen, denn deren leichte Ansprechbarkeit ist erforderlich, damit die Patientin wieder selbstgesteuert positive Ziele verfolgen, Freude und Befriedigung empfinden kann und aufnahmebereit wird für das Verstehen der Zusammenhänge, die ihr klar werden müssten, um sich zukünftig in Beziehungen bewusst anders verhalten zu können“ (Grawe 2004, 31). Literatur ■ Cozolino, L. (2007): Die Neurobiologie menschlicher Beziehungen. VAK, Kirchzarten ■ Garbe, E. (2016): Das kindliche Entwicklungstrauma - verstehen und bewältigen. 2. Aufl. Klett- Cotta, Stuttgart ■ Grawe, K. (2004): Neuropsychotherapie. Hogrefe, Göttingen ■ Kegel, B. (2009): Epigenetik: Wie unsere Erfahrungen vererbt werden. Dumont, Köln ■ Roth, G., Strüber, N. (2015): Wie das Gehirn die Seele macht. 5. Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart ■ Siegel, D., Payne Bryson, T. (2016): Achtsame Kommunikation mit Kindern. 12 revolutionäre Strategien aus der Hirnforschung für die gesunde Entwicklung Ihres Kindes. 3. Aufl. Arbor, Freiburg im Breisgau ■ Urmoneit, I. (2015): Pferdgestützte systemische Pädagogik. 2. Aufl. Ernst Reinhardt, München Imke Urmoneit Dipl. Sozialpädagogin, Systemische Familientherapeutin, Supervisorin, Reit- und Voltigierpädagogin (DKThR), eigene Praxis in Lörrach. Anschrift Imke Urmoneit · Wölbluistr. 48 D-79539 Lörrach · Imke.urmoneit@t-online.de Die Autorin
