eJournals mensch & pferd international 10/2

mensch & pferd international
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2018
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Forum: Ein Qualitätslabel für Therapieställe - sinnvoll oder nur ein Modetrend?

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Lotty Wohlwend
Wo Qualität gefordert wird, ist die Frage nach einem Gütesiegel nicht weit, vor allem dort, wo Mensch und Tier im Zentrum stehen: zum Beispiel in der pferdgestützten Therapie.
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84 | mup 2|2018|84-88|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2018.art11d Forum Ein Qualitätslabel für Therapieställe - sinnvoll oder nur ein Modetrend? Ein Schweizer Qualitätslabel für Pferdebetriebe im Dienste von Menschen mit Handicap Lotty Wohlwend Wo Qualität gefordert wird, ist die Frage nach einem Gütesiegel nicht weit, vor allem dort, wo Mensch und Tier im Zentrum stehen: zum Beispiel in der pferdgestützten Therapie. Türe auf, Blick rein! 2009 wurde in der Schweiz erstmals ein Pferdestall mit der Qualitätsplakette der „Pferdegestützten Therapie Schweiz PT-CH“ ausgezeichnet: der Stall von Gaby Bertolaso in Wil / St. Gallen. Am Beispiel dieses Stalls lässt sich sehr schön illustrieren, was Qualität im Therapeutischen Reiten bedeutet. Warum wurde ausgerechnet dieser Stall ausgezeichnet? Was macht ihn qualitativ so besonders? Welche Normen müssen erfüllt sein? „Es ist ein strenges Verfahren“, gibt Gaby Bertolaso zu, „aber für einen sorgfältig geführten Betrieb sind die Anforderungen gut erreichbar.“ Das Zertifizierungsverfahren ist gleichbedeutend mit einer eingehenden Beurteilung des Betriebs. „Es wird nicht nur bewertet, der Stallbetreiber hat im Vorfeld auch die Möglichkeit, dort wo nötig Korrekturen und Änderungen anzubringen. Die Betriebsblindheit macht schließlich auch vor einem Pferdebetrieb nicht halt“, schmunzelt sie. Braucht es das wirklich? Therapeutisches Reiten, heilpädagogisches Reiten oder die pferdgestützte Therapie sind Bezeichnungen für Interventionen mit dem Pferd, die stetig beliebter werden. In einer zunehmend digitalisierten Welt wächst der Hunger nach dem Natürlichen. Noch vor Jahren nahezu unbekannt und wenigen Pionieren vorbehalten, öffnen immer mehr Stallbesitzer ihre Türen für pferdgestützte Therapien. Abb. 1: Durchblicke befriedigen die Neugier und machen den Stall interessant. Der Verein Pferdegestützte Therapie Schweiz PT-CH führt auf Antrag die Prüfung, Anerkennung und Auszeichnung von Pferdebetrieben im Dienste von Menschen mit Beeinträchtigungen durch. Wer die Standards erfüllt, wird mit der „Qualitätsplakette PT-CH“ ausgezeichnet. Forum: Wohlwend - Ein Qualitätslabel für Therapieställe - sinnvoll oder nur ein Modetrend? mup 2|2018 | 85 Und wo die Möglichkeit besteht, leisten sich größere Wohnheime und soziale Institutionen sogar eigene Tiere und Therapeuten, um ihren zumeist beeinträchtigten Bewohnern den regelmäßigen Zugang zum Tier und zum Reiten zu ermöglichen. Dieses vermehrte Angebot hat dazu geführt, dass vielfältig ausgebildete Anbieter sich einen doch recht limitierten Markt aufteilen. Zuweisende Instanzen, Eltern von beeinträchtigten Kindern, Sonderschulen, Behinderteninstitutionen und Privatklienten sind aber sehr oft nicht in der Lage, ein Angebot im Hinblick auf dessen Qualität zu überprüfen. Ihnen fehlt das spezifische Fachwissen. Da ist die Qualitätsplakette ein Wegweiser. Therapieställe mit diesem Label wurden von unabhängigen Instanzen bezüglich Infrastruktur, Sicherheit, Pferdehaltung und Betriebsführung überprüft. Dazu gehört auch der Nachweis einer anerkannten Ausbildung. Der Betriebsblindheit vorbeugen Gaby Bertolaso ist Vorstandsmitglied in der Vereinigung „Pferdegestützte Therapie Schweiz“. Sie leitet die Kommission, welche auf Antrag die Prüfung, Anerkennung und Auszeichnung von Pferdebetrieben mit therapeutischem oder heilpädagogischem Angebot durchführt. Es gibt viele Ställe in der Schweiz, die mit einem spannenden Konzept für Mensch und Tier arbeiten, doch nur wenige Stallbesitzer lassen gerne so freimütig hinter ihre Stalltüre blicken. Ebenso gibt es Pferdebetriebe, die wohl nie zertifiziert werden. Die Krux liegt oft im Detail, weiß Gaby Bertolaso. Häufigste Kritikpunkte „Das Label verlangt nicht mehr, als das schweizerische Tierschutzgesetz ohnehin vorgibt und was wir Tierhalter allgemein unter ethischer und moralischer Tierhaltung verstehen“, präzisiert Gaby Bertolaso. „Hinzu kommen spezifisch therapeutische Anforderungen. Basics, die jeder Stall erfüllen sollte, vor allem aber jener mit therapeutischem Anspruch. Als zusätzliche Auflage wird ein Bewegungsjournal für die Pferde verlangt. Denn Therapiepferde haben Anspruch auf Ausgleichsarbeit. In jeder seriösen Ausbildung werden diese Anforderungen gefordert. In der Praxis zeigt sich leider oft, dass der hektische Alltag manchmal zu Abstrichen zwingt. Das Wissen um das Bestmögliche und Wünschenswerte wird verdrängt. Hier kann das Qualitätslabel unterstützend Hand bieten: Wenn der Therapiestall bezüglich Struktur, Arbeitsabläufen, Abb. 2: Eine artgerechte Pferdehaltung ist die Voraussetzung für nervenstarke Therapiepferde. — die Pferdehaltung, kontrolliert durch die HAFL, Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmitteltechnologie in Zollikofen, Spezialisierung Pferdewissenschaften; — die Infrastruktur und die Sicherheitsaspekte, kontrolliert durch die BUL, Beratungsstelle für Unfallverhütung in der Landwirtschaft, sowie — das Betriebskonzept und die therapeutischen Belange, kontrolliert durch die PT-CH. Die Qualitätsplakette PT-CH zertifiziert drei Bereiche: 86 | mup 2|2018 Forum: Wohlwend - Ein Qualitätslabel für Therapieställe - sinnvoll oder nur ein Modetrend? Betriebskonzept, Versicherungen, Mitarbeiterverträgen und anderem mehr erstmal auf einen guten Standard gebracht worden ist, zeigt sich, dass diese Basis die gute Arbeit im Alltag enorm erleichtert.“ Gaby Bertolaso machte die Erfahrung, dass die häufigsten Kritikpunkte in der Beurteilung von Stall und Haltung bei der Ordnung und damit bei der Übersichtlichkeit zu finden sind. Für den Stallbesitzer und sein Team mögen die Strukturen klar sein, in vielen Fällen aber nicht für die Besucher und Klienten sowie teilweise auch nicht für die Tiere. Übersicht heißt folgerichtig auch klare Gestaltung, einfache Abläufe und das Vermeiden von Doppelspurigkeiten. Ziel ist es, gerade bei alltäglichen Verrichtungen wie zum Beispiel beim Ausmisten und Füttern sowie der Pflege der Pferde die Tätigkeiten optimal aufeinander abzustimmen und überflüssige Arbeitswege zu eliminieren. Das bedeutet Zeit, Ruhe und damit einen stress- und gefahrenfreien Umgang zwischen Mensch und Tier. Das Zertifizierungsverfahren bietet Gelegenheit, Gewohnheiten zu überprüfen, neue Gesichtspunkte zuzulassen. Ein häufiger Stolperstein in der Pferdehaltung liegt oft in den zu engen Platzverhältnissen. Oft kann den Pferden die gesetzlich vorgeschriebene Liegefläche nicht angeboten werden. Das Gütesiegelverfahren bringt solche Mängel unerbittlich an den Tag. Rein, raus! Ein Aspekt, welcher im Wiler Stall auf den ersten Blick auch für den Laien bestechend ist, ist die Bewegungsfreiheit der Tiere im Stall. Genau wie draußen im Freien, zirkulieren sie auch hier nach Belieben - wie es ihnen gefällt. Dadurch können die Tiere zum einen ihren natürlichen Bewegungsdrang und zum anderen die angeborene Neugierde befriedigen. Sie sind auch nicht gezwungen, mit dem Besucher in Kontakt zu treten, nur weil die räumliche Enge es nicht anders zulässt. Aber sie dürfen Kontakt aufnehmen, dann nämlich, wenn sie es wollen. Das ist Lebensqualität für die Tiere und einer von vielen Punkten, die diesen Stall so speziell machen. Besonders anregender Stall Wechselnde Bodenbeläge von weich bis hart, von natürlicher Einstreu über Hartboden oder Verbundsteinboden mit eingebauten Hindernissen, Sand oder Holzschnitzel, verbunden mit Treppen und Schwellen, lassen die Pferde trittsicher werden. Gaby Bertolaso und ihr Lebenspartner Andreas Schneider zeigen auf einen offenen, weiten Raum, der von zwei Seiten her frei zugänglich ist, der Boden ist besonders weich. „Dauereinstreuboden ist eine Art natürlicher Matratze“, wie Andreas Schneider erklärt, „tiefe Einstreu, welche nie gewechselt werden muss. Sorgfältig gepflegt und spärlich abgetragen, ähnelt diese Unterlage dem Waldboden. Diese Unterlage mögen die Pferde und sie wälzen sich mit großer Vorliebe darauf.“ Türe auf, Türe zu Der Stall ist in verschiedene Zonen eingeteilt. Besucher, die unsicher sind und vor den großen Tieren Angst haben, bewegen sich in jener Zone, zu denen die Tiere keinen freien Zutritt haben. Die Pferdegestützte Therapie Schweiz PT-CH bietet vor den Zertifizierungsbesuchen interessierten StallbetreiberInnen einen Abklärungsbesuch an. Bei diesem ersten Treffen auf dem Hof wird gemeinsam festgestellt, wo sich Verbesserungen zum Wohl von Mensch und Tier anbieten, wo Arbeitsabläufe optimiert und Sicherheitsmängel behoben werden können, was noch ergänzt werden muss bis zur Zertifikatsreife. Diese Abklärungsbesuche werden sehr geschätzt. Die Erfahrung zeigt, dass im gemeinsamen kollegialen Austausch oft ganz neue und faszinierende Lösungen erarbeitet werden können. Die genauen Anforderungen für die Zertifizierung sind zu finden unter www.pt-ch / qualitätsplakette.ch. Abklärungsbesuche sind sehr gefragt Forum: Wohlwend - Ein Qualitätslabel für Therapieställe - sinnvoll oder nur ein Modetrend? mup 2|2018 | 87 Dieses Abtrennen geschieht durch die Therapeuten. An verschiedenen Orten im Stall sind Ruhezonen für den Menschen eingerichtet. Sitzecken, aus denen heraus die Tiere beobachtet werden können, so genannte reizarme Time-out- Zonen. Mit wenigen Handgriffen kann der Freiraum der Tiere vergrößert oder enger gestaltet werden, können die Besucher oder Klienten näher an das Tier herangeführt werden oder auf Abstand gehen. Ordnung bringt Ruhe „Alles ist so gestaltet“, erzählt Gaby Bertolaso, „dass auch Fremde rasch Übersicht über die Abläufe haben.“ Auch Menschen mit einer schweren körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung werden nicht aufs Zuschauen reduziert, sondern können viele Verrichtungen selber ausführen. Klare Strukturen helfen, sich in der ungewohnten Umgebung zurechtzufinden, Werkzeuge und Materialien haben ihren festen Platz, Piktogramme und Farben sind Orientierungshilfen, sichere Aufsteigehilfen, Handläufe und gute Beleuchtung ermöglichen gefahrloses Arbeiten. Arbeitserleichternde Geräte sind sicher und handlich. Eine der Schubkarren beispielsweise wird nicht nur über ein Rad, sondern über zwei Räder geführt und kann dadurch nicht kippen, eine andere hat verlängerte Holme, damit eine Hilfestellung über eine Zweitperson möglich wird. „Ganz wichtig“, betont Gaby Bertolaso. „ist dabei die Ordnung. Hof und Stall müssen aufgeräumt sein, der Abfall weggeräumt, die Gerätschaften versorgt oder übersichtlich platziert sein; dies hilft Unfälle zu vermeiden, bei Mensch und Tier.“ Keine Sackgassen, keine Boxen Jeder Stall lässt sich grundsätzlich mit wenigen Handgriffen zu einem für Mensch und Tier hochwertigen Erlebnisraum umgestalten, machten Gaby Bertolaso und Andreas Schneider die Erfahrung. Der Wiler Stall, gut 60 Jahre alt, war ursprünglich klassisch mit einem Gang, an welchem sich die Boxen aneinanderreihten, gebaut. Die herkömmliche Infrastruktur war eng und wäre heute nicht mehr zeitgemäß. Im Laufe der 33 Jahre, in denen er bereits als Therapiestall genutzt wird, wurde mit Phantasie und viel Eigenleistung ein äußerst funktionaler Freilaufstall daraus. Vorlage dafür waren der Alltag und die persönliche Erfahrung. Das Beispiel zeigt, dass auch alte und kleine Ställe mit minimalem Betrieb die Möglichkeit haben, dieses Label zu erhalten. Abb. 3: Breite Treppenstufen lassen die Pferde trittsicher gehen und werden gerne als Aussichtsplattform genutzt. Abb. 4: Sichtschutzwände verringern Spannungen innerhalb der Herde. 88 | mup 2|2018 Forum: Wohlwend - Ein Qualitätslabel für Therapieställe - sinnvoll oder nur ein Modetrend? Magic Moments Während die Pferde mit langen Hälsen darauf warten, dass sich die Weidetore endlich öffnen, lehnen Gaby Bertolaso und Andreas Schneider noch einen kurzen Moment am Zaun und philosophieren über den Alltag im Therapiestall, die Freude an der Arbeit und den vielen Begebenheiten mit Mensch und Tier, die mit „Magic Moments“ umschrieben werden könnten. Es sind Momente, die in keinem Handbuch zu finden sind, die nirgendwo geplant werden können, weil sie einfach da sind und sich ergeben, dann vielleicht, wenn man sie am wenigsten erwartet. Und es braucht genau diese Momente, damit die schönste Arbeit der Welt auch weiterhin eine Zukunft haben wird … Die Autorin Lotty Wohlwend Anschrift Atelier Wohlwend Kupper Mühlestrasse 25 CH-9532 Rickenbach bei Wil, www.lotty-wohlwend.ch wohlwend@lotty-wohlwend.ch Abb. 5: Ältere Stallungen haben ihren ganz eigenen Charme. Je mehr Fachkräfte ihre Verantwortung wahrnehmen und die Arbeit durch die Qualitätsplakette ausweisen lassen, desto eher wird das Label zu einem anerkannten Gütesiegel werden. Die nachweisliche Qualität des Angebots kann Geldgeber wie Krankenkassen, Institutionen und Stiftungen dazu veranlassen, überprüfbare Qualität entsprechend dem Aufwand zu entschädigen. Dass wohl stets eine Portion Idealismus und Freude an der Arbeit unbezahlt geleistet werden muss, ist und bleibt Realität. Die Professionalisierung dieses Berufes aber wird mithelfen, dass für die hochwertige Arbeit ansatzweise eine marktgerechte Entlohnung verlangt werden kann. Zukunftsszenario