mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Praxistipp: Das "Ich-Reit-Buch"
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Jennifer Glitza
Ohne Sprache, ohne Wörter auskommen zu müssen, stellt Menschen vor eine große Herausforderung. Keine verbale Sprache zur Verfügung zu haben, lässt Menschen vereinsamen und sich zurückziehen. Viele Situationen im Kontakt mit anderen Menschen gestalten sich schwierig. Nicht dieselbe Sprache zu sprechen ist oftmals eine große Barriere und lässt eigene Handlungsspielräume kleiner werden. Sich als Fachkraft auf den Weg zu machen und gemeinsam mit dem Menschen herauszufinden, wie er durch individuelle Kommunikationsformen mehr Teilhabe in der Gesellschaft erreichen und sich ausdrücken kann, ist eine verantwortungsvolle und auch bereichernde Aufgabe.
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138 | mup 3|2018|138-141|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2018.art19d Jennifer Glitza Praxistipp Das „Ich-Reit-Buch“ Ohne Sprache, ohne Wörter auskommen zu müssen, stellt Menschen vor eine große Herausforderung. Keine verbale Sprache zur Verfügung zu haben, lässt Menschen vereinsamen und sich zurückziehen. Viele Situationen im Kontakt mit anderen Menschen gestalten sich schwierig. Nicht dieselbe Sprache zu sprechen ist oftmals eine große Barriere und lässt eigene Handlungsspielräume kleiner werden. Sich als Fachkraft auf den Weg zu machen und gemeinsam mit dem Menschen herauszufinden, wie er durch individuelle Kommunikationsformen mehr Teilhabe in der Gesellschaft erreichen und sich ausdrücken kann, ist eine verantwortungsvolle und auch bereichernde Aufgabe. „Man kann nicht nicht kommunizieren.” (Watzlawick 1969, 53) Dies stellte Paul Watzlawick in seinem bekannten ersten Axiom fest. Dieses Axiom entspricht meiner pädagogischen Haltung und meinem Menschenbild. Danach hat jeder Mensch das Bedürfnis, das Recht und die Fähigkeit zu kommunizieren, egal auf welche Art und Weise. Kommunikation ermöglicht Menschen die Teilhabe am Leben, den Aufbau von sozialen Beziehungen, ein selbstbestimmtes Leben, die Möglichkeit zur kognitiven Entwicklung und Identitätsfindung. Mit Kommunikation werden alle Verhaltensweisen und Ausdrucksformen bezeichnet, mit denen wir mit anderen Menschen bewusst oder unbewusst in Beziehung treten. Kommunikation umfasst damit viel mehr als nur die verbale Sprache (Wilken 2014, 10). Kommunikation ist das Recht jedes Menschen. Allerdings stellte schon Rapport fest, dass ein Recht ohne Ressourcen ein grausamer Scherz ist (Rapport 1985). In diesem Beitrag wird das „Ich-Buch” als Hilfsmittel aus dem Bereich der Unterstützten Kommunikation vorgestellt. Ziel des Beitrags ist es, weitere Fachkräfte für das Thema zu sensibilisieren und ihnen ein konkretes Hilfsmittel an die Hand zu geben. Nur so lässt sich ein Schritt in Richtung Inklusion gehen, denn Kommunikation ist nie einseitig. Unterstützte Kommunikation Unterstützte Kommunikation (Abkürzung „UK”) ist ein Oberbegriff für Hilfen und Hilfsmittel, die Personen mit Einschränkungen im Bereich der Kommunikation angeboten bekommen. UK bezieht sich auf ein humanistisches Menschenbild und auf das Recht eines jeden Menschen auf Selbstbestimmung und Partizipation (Gesellschaft für Unterstützte Kommunikation e. V). Man unterscheidet zwischen verschiedenen Kommunikationsformen: ■ Körpereigene Kommunikationsformen ■ Komplexere körpereigene Kommunikationsformen ■ Nichtelektronische Kommunikationshilfen ■ Elektronische Kommunikationshilfen Praxistipp: Glitza - Das „Ich-Reit-Buch“ mup 3|2018 | 139 Die Ziele von UK sind vielfältig. Kommunikation gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Sie spielt eine wesentliche Rolle im sozialen Miteinander und ist die Grundvoraussetzung für die Teilhabe an der Gesellschaft. Ein konkretes Ziel wäre, ein Kommunikationssystem zu etablieren, welches es der Person ermöglicht, mit anderen Menschen zu kommunizieren. Ebenso soll es anderen Personen ermöglicht werden, mit der UK-nutzenden Person zu kommunizieren. Weitere Ziele sind ■ das Kommunikationsbedürfnis zu erkennen und soweit wie möglich zu erfüllen, ■ individuelle Kommunikationssysteme zu entwickeln, ■ körpereigene Kommunikationsformen des Menschen aufzugreifen und weiterzuentwickeln, ■ gesprochene Sprache zu ergänzen und zu unterstützen, ■ eine effektive und befriedigende Verständigung zu ermöglichen, ■ soziale Interaktion zu erleichtern und ■ Verhaltensauffälligkeiten aufgrund unbefriedigender Kommunikationsmöglichkeiten zu reduzieren. Um diese Ziele zu erreichen, können Rituale einen sozialen Rahmen bieten, der zur Kommunikation anregt und motiviert. Durch den Einsatz von Gebärden, Objekten, grafischen Symbolen oder technischen Hilfen kann die Kommunikation im Alltag intensiviert und verbessert werden. Gerade in der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd gibt es viele Möglichkeiten und Chancen, diese Methodik sinnvoll für den einzelnen Teilnehmer einzusetzen und Ideen zu entwickeln, die auch außerhalb der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd umgesetzt werden können. Das Ich-Buch Das „Ich-Buch” ist in dem Bereich der Unterstützten Kommunikation im klassischen Sinne ein individuelles nicht-elektronisches Kommunikationshilfsmittel (Birchler, 17). Mittlerweile sind aber auch einige „Ich-Bücher” in elektronischer Form auf einem iPad oder ähnlichem in Verwendung. Somit wäre das „Ich-Buch” dann ein elektronisches Hilfsmittel. Das „Ich-Buch” ist sehr umfassend und beschreibt alle Lebensbereiche des Besitzers. Die wichtigsten Informationen des Besitzers werden in schriftlicher (z. B. Leichte Sprache) und grafischer Form (z. B. Symbole der Firma META- COM) festgehalten. Das Buch sollte immer aktuell sein und Veränderungen müssen umgehend in das Buch übernommen werden, da es sonst seine Attraktivität und seinen Nutzen für den Besitzer verliert. In Form eines Projektes habe ich ein „Ich- Reit-Buch” mit TeilnehmerInnen der HFP entworfen und hergestellt - ein abgewandeltes „Ich-Buch”, speziell für die HFP. Dieses Projekt und meine Idee zum „Ich-Reit-Buch” möchte ich nun vorstellen. Das Ich-Reit-Buch Das „Ich- Reit-Buch” ist wie das Original ein individuelles nicht-elektronisches UK- Mittel. Es enthält wichtige Angaben zur unterstützt kommunizierenden Person. Das können beispielsweise folgende Angaben sein: ■ „Das bin ich” So heiße ich, so sehe ich aus, dann habe ich Geburtstag, ... ■ „Hier wohne ich” Meine Adresse, meine Telefonnummer, so fahre ich nach Hause, ... ■ „Meine Familie” ■ „Meine Freunde” ■ „Meine wichtigsten Bezugspersonen” ■ „Das habe ich bisher erlebt” Kindergarten, Schule, Arbeit, … Umzüge, Krankheit ... ■ „Meine Kommunikation” So kommuniziere ich, so zeige ich, was mir gefällt/ nicht gefällt, am besten kannst du mich so fragen, … ■ „Medizinische Daten über mich, die du wissen solltest” Allergie, Medikamente, Epilepsie,… ■ „Das sind meine Hilfsmittel” Brille, Orthesen, Cochlea-Implantat, ... ■ „Meine Stärken” ■ „Das mag ich” ■ „Das mag ich nicht” Idealerweise lassen sich diese Punkte gemeinsam mit der TeilnehmerIn bearbeiten. Ist das nicht möglich, erarbeiten Eltern/ Bezugspersonen/ persönliche Assistenten diese Punkte. Nun könnte man spezifischer für die heilpädagogische Förderung mit 140 | mup 3|2018 Praxistipp: Glitza - Das „Ich-Reit-Buch“ dem Pferd werden. Folgende Punkte habe ich in dem „Ich-Reit-Buch” genutzt: ■ Hier reite ich Adresse des Hofes ■ So heißen die Pferde auf dem Hof So sehen sie aus, Stute, Wallach, ... ■ So heißen die Menschen auf dem Hof Personen, die im Kontakt stehen mit dem Buchbesitzer, eventuell auch andere Hofbewohner: Katzen, Hunde ... ■ Mein Pferd Beschreibung des Pferdes, wichtige Merkmale am Pferd für den Buchbesitzer ■ Das mag ich besonders an meinen Pferd weiches Fell, … ■ Das essen die Pferde ■ Beim Reiten gefällt mir am besten ■ Davor habe ich Angst ■ Dabei brauche ich noch Hilfe ■ Diese Sachen übe ich gerade Sinnvoll ist es, im Ich-Reit-Buch mit Symbolen zu arbeiten, die dem Kind bekannt sind. Selbstverständlich können auch Fotos genutzt werden. Der Wiedererkennungswert beim Kind muss in jedem Fall gegeben sein. Wie auf den Abbildungen zu sehen, wurden hier sowohl Fotos und Symbole von METACOM verwendet (METACOM ist ein speziell für Unterstützte Kommunikation gestaltetes Symbolsystem) sowie mit Gebärden und Text in leichter Sprache gearbeitet. Um sich das Buch noch konkreter Das Fell von Dreamer • Dreamer hat braunes Fell • Das Fell ist weich • Ich mag Dreamer gerne streicheln • Dreamer mag gestreichelt werden Putzplatz sauber machen • Am Schluss wird der Putzplatz sauber gemacht • Es gibt einen Besen und eine Schubkarre • Ich mag fegen • Beim Fegen brauche ich keine Hilfe Dies ist mein ICH-REIT-BUCH Dieses Buch hilft dir, mich und mein Hobby besser kennenzulernen. Bitte schaue es dir mit mir zusammen an, damit wir dabei ins Gespräch kommen können. Schreien ist verboten • Bei den Pferden muss man leise sein • Das ist eine Regel • Pferde hören besser als Menschen • Den Pferden ist es zu laut wenn ich schreie • Ich probiere mir die Regel zu merken So kann ich entscheiden • Um besser entscheiden zu können, können mir Bildkarten helfen • Bitte zeige mir nicht mehr als vier Bildkarten • Ich mag rote und blaue Stangen Das ist Dreamer • Auf Dreamer reite ich • Dreamer ist ein Wallach • Das bedeutet, er ist ein Junge • Dreamer hat am 31.03.2007 Geburtstag • Dreamer ist 148 cm groß Abb.1-6: Beispielhafte Seiten (METACOM-Symbole: Annette Kitzinger) Praxistipp: Glitza - Das „Ich-Reit-Buch“ mup 3|2018 | 141 vorstellen zu können, habe ich einige exemplarische Seiten hier bereitgestellt. Das Buch ermöglicht es der Person, besser verstanden zu werden und sich während der HFP sowie im Alltag effektiver mitzuteilen. Es bietet viele Kommunikationsanlässe und lässt die Klienten eigenständig agieren. Wenn es aktiv genutzt wird, kann es die Einheiten positiv begleiten und die Kommunikation zwischen TeilnehmerIn und Fachkraft erleichtern. Wöchentlich können neue Seiten im Buch dazu kommen und das Buch kann so erweitert werden. Individuelle Interessen und Themen können je nach Nutzen und Wert für den Buchbesitzer hinzugefügt werden. Bei der Herstellung eines „Ich-Reit- Buches” sollte man sich überlegen, welchen Nutzen das Buch haben soll: Sollen es Lerngeschichten werden, die reflektierend beschrieben werden oder soll es eine Kommunikationshilfe darstellen? In meinem Projekt vermischten sich diese beiden Methoden, sodass auf zusätzlichen Seiten besondere Einheiten, wie zum Beispiel ein Ausritt mit anschließendem Picknick, als Art Lerngeschichte formuliert wurden. Ein Beispiel für den Nutzen von Lerngeschichten: Bei meinen TeilnehmerInnen der HFP gibt es oftmals Erzählrunden in der Schule. In diesen konnten sie häufig aufgrund ihrer eingeschränkten expressiven Sprache nichts erzählen oder wurden nicht oder missverstanden. Durch ihr „Ich-Reit-Buch” wurde dies erleichtert. Dadurch, dass sie ihr Buch mit in die Schule genommen haben, konnten sie aktiv an dieser Erzählrunde teilnehmen. Somit hat diese UK-Methode die Mitbestimmung und Partizipation im Alltag bei beiden erheblich gesteigert. Durch dieses Buch wurde die Einheit reflektiert und eine weitere Kommunikationsmöglichkeit geschaffen. Den Teilnehmern war dieser Teil der HFP ausgesprochen wichtig, mit dem Buch wurde sorgfältig umgegangen und es wurde kein einziges Mal zu Hause vergessen. In der Schule sowie auch in anderen Lebensbereichen wurde die Kommunikation mit anderen Menschen erleichtert und dadurch die Lebensqualität ein Stück weit erhöht. Nicht ihre Eltern mussten für sie erzählen, was sie beispielsweise mit dem Pferd erlebt haben, sondern sie konnten eigenständig mit Hilfe des Buches in die Kommunikation gehen. Meiner Meinung nach gibt es nicht das eine „Ich-Reit-Buch”, jedes Buch ist individuell, genau wie sein Besitzer. Literatur ■ Rappaport, J. (1981): In praise of paradox. A social policy of empowerment over prevention. In: American Journal of Community Psychology 9 (1), 1-25, Originaltext: „Having rights but no resources and no services available is a cruel joke.“ https: / / doi.org/ 10.1007/ BF00896357 ■ Watzlawick, P. (1969): Menschliche Kommunikation. Hans Huber, Wien/ Bern/ Stuttgart ■ Wilken, E. (2014): Unterstützte Kommunikation: Eine Einführung in Theorie und Praxis. 4. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart ■ Gesellschaft Unterstützte Kommunikation. In: www.gesellschaft-uk.de/ index.php/ unterstuetzte-kommunikation, 22.12.2017 ■ Birchler, K. (2009): Ich-Buch. In: www.karinbirchler.ch/ attachments/ File/ KarinBirchler_BachelorThesis.pdf, 22.12.2017 Die Autorin Jennifer Glitza Staatl. anerkannte Heilerziehungspflegerin, Trainer C (Basissport), Voltigieren (FN), staatlich geprüfte Fachkraft in der heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd (DKThR) Anschrift Jennifer Glitza · Hudtwalckertwiete 10 · D-22299 Hamburg
