eJournals mensch & pferd international 10/1

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mup2018.art05d
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Praxistipp: Kommunikationsförderung auf dem Pferd

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Aisha Kästli
Traudel Simon
Yosan ist ein 11-jähriges Mädchen. Sie lebt mit ihrer aus Eritrea stammenden Familie in der Schweiz, wo sie eine Einrichtung der Behindertenhilfe besucht. Yosan hat eine bilaterale, spastische Cerebralparese. Daher kann sie nur mit einem Rollator gehen und wird bei längeren Strecken mit dem Rollstuhl gefahren. Ihr Muskeltonus ist hyperton, weswegen ihre Gliedmaßen, besonders Arme und Finger, verkrampft und gebeugt sind. Sie konnte keine aktive Lautsprache erlernen und ist deshalb auf andere Kommunikationsmittel angewiesen. Yosan ist ein sehr aufgeschlossenes, fröhliches und kommunikatives Mädchen. Körperliche oder geistige Herausforderungen sind für sie keine Hürden, deshalb lernt sie auch mit Begeisterung Neues. Sie besitzt einen starken Charakter und ist ehrgeizig und zielstrebig.
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mup 1|2018|25-28|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2018.art05d | 25 Aisha Kästli, Traudel Simon Praxistipp Kommunikationsförderung auf dem Pferd Ein Praxisbericht Das Mädchen Yosan Yosan ist ein 11-jähriges Mädchen. Sie lebt mit ihrer aus Eritrea stammenden Familie in der Schweiz, wo sie eine Einrichtung der Behindertenhilfe besucht. Yosan hat eine bilaterale, spastische Cerebralparese. Daher kann sie nur mit einem Rollator gehen und wird bei längeren Strecken mit dem Rollstuhl gefahren. Ihr Muskeltonus ist hyperton, weswegen ihre Gliedmaßen, besonders Arme und Finger, verkrampft und gebeugt sind. Sie konnte keine aktive Lautsprache erlernen und ist deshalb auf andere Kommunikationsmittel angewiesen. Yosan ist ein sehr aufgeschlossenes, fröhliches und kommunikatives Mädchen. Körperliche oder geistige Herausforderungen sind für sie keine Hürden, deshalb lernt sie auch mit Begeisterung Neues. Sie besitzt einen starken Charakter und ist ehrgeizig und zielstrebig. Ziele der Förderung Ergänzend zu den vielfältigen Förderangebote, die Yosan besucht, wurde sie in die Hippotherapie-K aufgenommen, um durch die Bewegungen des Pferdes ihrem Körper einen Zustand der Entspannung und Lockerung zu ermöglichen. Neben der Hippotherapie wurde Yosan mit Logopädie unterstützt, die ihren Fokus auf der Verbesserung der Lautsprache hatte. Die Hippotherapie-K ist eine anerkannte physiotherapeutische Behandlungsmaßnahme für Patienten mit angeborenen oder erworbenen Bewegungsstörungen. Dabei wird die dreidimensionale Bewegung des Pferderückens (Vorwärtsschub, seitliche und rotierende Bewegung) medizinisch genutzt. Diese Therapieform auf und mit einem Pferd wird von einem Arzt verordnet und offiziell von der Krankenkasse und der Invalidenversicherung anerkannt (Künzle, 2000). Die Förderung von Yosans Kommunikationskompetenzen mithilfe von Gebärden war das primäre Ziel der Hippotherapie. Diese Art der Kommunikationsförderung wurde ausgewählt, da Yosan trotz ihrer Einschränkungen körperlich gerne aktiv ist und Freude an der Bewegung zeigt. Man ging davon aus, dass sie durch die Entspannung auf dem Pferd und die positiven emotionalen Erfahrungen beim Reiten Gebärden leichter und nachhaltiger erlernt als in anderen Förderkontexten. Die Gebärdensprache ist eines von vielen Elementen der unterstützten Kommunikation. Durch diese können Menschen, die aufgrund verschiedener Faktoren keine Lautsprache entwickeln konnten, trotzdem Bild 1: Yosan 26 | mup 1|2018 Praxistipp: Kästli, Simon - Kommunikationsförderung auf dem Pferd mit ihrem Umfeld kommunizieren und Bedürfnisse und Wünsche mitteilen. Die Ausrüstung und das Pferd Als Ausrüstung für die Fördereinheiten wurden eigens für Yosan Gebärdenkarten mit Gebärden nach Anita Portmann angefertigt. Diese wurden zunächst ausgedruckt und dann laminiert, um sie zu stabilisieren. Mit Klettverschluss versehen, konnten diese Gebärdenkarten für Yosan gut sichtbar an dem Therapiepad des Pferdes angebracht werden. Die Auswahl der Gebärden erfolgte nach verschiedenen Schwierigkeitsgraden und stand in Zusammenhang mit dem besonderen Setting der Reittherapie: Da die Maßnahme im Freien stattfand, wurden beispielweise Begriffe bezogen auf das Wetter oder abhängig von der Umgebung des Reitplatzes ausgewählt. Ebenfalls wurden Adjektive wie gut, schlecht, langweilig oder stolz verwendet, damit Yosan beschreiben konnte, wie sie sich gerade fühlte. Als Therapiepferd wurde das Pony Spring ausgewählt. Dieses eignete sich aufgrund seines schmalen Brustkorbs und seines langsamen und rhythmischen Schrittes gut für Yosan. Ausgerüstet wurde es mit einem Zweigriffgurt und einem Filzpad, an welchem die Gebärdenkarten mit dem Klettverschluss gut angebracht werden konnten. Konkretes Vorgehen Es wurden 12 Hippotherapie-K Einheiten mit Yosan durchgeführt. Der Schwerpunkt der ersten 10 Minuten lag auf der Körperhaltung und Entspannung des Mädchens. So richtete sich ihr Oberkörper nach wenigen Minuten auf, ihre Spastik löste sich und sie konnte die Bewegungen von Spring besser aufnehmen. In den folgenden 20 Minuten wurden verschiedene Gebärden erlernt und geübt. Die Gestaltung der Karten ist einsehbar über www.anitaportmann.ch. Die Einrichtung, welche die Maßnahme durchführte, verfügte über das Kartenset, aus dem die Auswahl erfolgte. Bild 2: Gebärdenkarten Bild 3: Yosan mit Gebärdenkarten Bild 4: Pony Spring mit Gurt und Filzpad Praxistipp: Kästli, Simon - Kommunikationsförderung auf dem Pferd mup 1|2018 | 27 Dabei wurden jeweils sechs Gebärdenkarten in einer Fördereinheit erarbeitet. Zuerst wurde dem Mädchen gezeigt, wie die Gebärde ausgeführt wird, danach sollte Yosan diese, so gut sie konnte, nachmachen. Wurden alle sechs Gebärden einmal ausgeführt, wurden sie in erweiterten Bedeutungszusammenhängen wiederholt und trainiert, bis die Förderzeit vorüber war: Hatte Yosan beispielsweise Gebärden für gutes Wetter / schlechtes Wetter gelernt, wurde sie gefragt, wie das Wetter heute ist, wie es gestern war und wie sie es vielleicht gerne hätte. Sobald Yosan die Gebärden annähernd korrekt beherrschte, entfernte man die Karten vom Pad, um zu überprüfen, ob sie diese auch ohne Merkhilfe noch wusste. Nach dem Absteigen gab Yosan dem Pferd als Dank eine Karotte und wurde in ihre Klasse gebracht. Das Erlernen und Üben von den sechs eingeführten Gebärden fand insgesamt in drei Einheiten statt. Danach wurden wiederum sechs neue Gebärden mit Yosan erarbeitet. Ergebnisse Durch die Hippotherapie-K wurde der Muskeltonus des Mädchens reguliert und sie konnte deutlich an Stabilität und Sicherheit im Sitz auf dem Pferd gewinnen. Aufgrund der verbesserten Stabilität im Becken waren die Arme weniger verkrampft und konnten bis in die Fingerspitzen gut ausgestreckt und bewegt werden. Unterstützt durch die positiven körperlichen Effekte konnte Yosan während der zwölf Therapieeinheiten 30 Portmann-Gebärden in ihren aktiven Wortschatz einbauen. Schwierigere Gebärden, welche sie anfangs nur ungenau umsetzen konnte, wurden für Yosan von Förderung zu Förderung einfacher in der Durchführung und exakter im Bewegungsfluss. Yosan konnte den aktiven Gebrauch der Gebärden nicht nur in der Hippotherapie-K, sondern auch in der Schule umsetzen. Dort wurden das Erzählen der Erlebnisse auf dem Pferd und das Zeigen der neu erlernten Bild 5: Gebärdenkarten auf dem Pad Bild 6: Aisha und Yosan Gebärde Hase Bild 7: Vergleichsbild Yosan Haltung Anfang Bild 8: Vergleichsbild Yosan Haltung Ende 28 | mup 1|2018 Praxistipp: Kästli, Simon - Kommunikationsförderung auf dem Pferd Gebärden zu einem festen Ritual, nachdem Yosan zurück in die Klasse gebracht worden war. So konnte sie die Gebärden und deren Bewegungsabläufe zusätzlich wiederholen und nachhaltig in ihren aktiven Wortschatz integrieren. Neben den positiven körperlichen Auswirkungen hatte die Förderung auch Einfluss auf die psychosoziale Entwicklung des Mädchens. Durch ihre erweiterten Kommunikationsmöglichkeiten gewann Yosan einen deutlichen Zuwachs an Selbstbewusstsein. So begann sie vermehrt im Klassenverband ihre Meinung zu äußern, ihre Bedürfnisse auszudrücken und sich zu behaupten. Sie konnte sich zunehmend kompetent und selbstwirksam erleben. Die anfangs ein wenig schüchterne Yosan, die gebeugt und etwas zurückhaltend auf dem Pferd saß, konnte sich von Mal zu Mal mehr aufrichten, freier bewegen und ihre gute Laune und Lebensfreude mit viel Gestikulation unterstreichen. Abschließende Gedanken Die Bedeutung der Kommunikationsförderung von nicht lautsprachlich kommunizierenden Kindern ist weitgehend bekannt und wird immer wieder hervorgehoben. Ausreichende Kommunikationskompetenzen sind ein Schutzfaktor in der kindlichen Entwicklung, aber auch die Voraussetzung für Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in allen Facetten. Kommunikationsförderung findet in verschiedenen Settings statt. Innovativ, originell und effektiv ist die Förderung auf dem Pferd, wie der Praxisbericht über Yosan zeigt. Dieser Zugang, über Entspannung und durch die Freude am Reiten Kinder in ihrem kommunikativen Ausdruck zu unterstützen, sollte in jedem Fall vermehrt genutzt und weiter entwickelt werden. Literatur ■ Künzle, U. (2000): Hippotherapie auf den Grundlagen der Funktionellen Bewegungslehre Klein- Vogelbach. Hippotherapie-K. Theorie, praktische Anwendung, Wirksamkeitsnachweis (Rehabilitation und Prävention). Springer Verlag, Berlin Bild 9: Yosan Die Autorinnen Prof. Dr. Traudel Simon approbierte Psychologische Psychotherapeutin / Psychoanalytikerin, Lehrkraft und Dekanin an der Katholischen Hochschule Freiburg (Studiengang Heilpädagogik), Leitung des Masterstudiengangs Klinische Heilpädagogik. Schwerpunkt in Forschung und Lehre ist unter anderem die tiergestützte Förderung und Therapie. Aisha Kästli Hippotherapie-K Assistentin, zuständige Person in Planung, Durchführung und Auswertung beschriebenen Fördereinheiten. Berufliche Ziele sind Tätigkeiten im Gebiet der Sozialpädagogik und der tiergestützten Förderung und Therapie. Anschriften Katholische Hochschule Freiburg · Catholic University of Applied Sciences · Karlstr. 63 · D-79104 Freiburg · Fon +49 761 200-1526 traudel.simon@kh-freiburg.de · aisha.kaestli@yahoo.de