eJournals mensch & pferd international 10/2

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2018
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Pferd und Stimme

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2018
Lisa Schütt
Körperhaltung, Körperspannung und Selbstwahrnehmung (Propriozeption) sind nicht nur Bereiche der physiotherapeutischen Arbeit mit dem Pferd (Hippotherapie), sie haben auch Einfluss auf die Stimmgebung und sind daher für die Therapie funktioneller Stimmstörungen von grundlegender Bedeutung. Darüber hinaus wird sowohl in der Stimmtherapie als auch in der Hippotherapie auf der personalen oder emotionalen Ebene gearbeitet, sodass sich hier ebenfalls Synergien finden lassen. Es ist jedoch zu beachten, dass die Übungen nur von stimmtherapeutisch geschulten Therapeutinnen angeleitet werden und nicht jede Klientin für jedes Pferd geeignet ist.
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48 | mup 2|2018|48-63|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2018.art08d Lisa Schütt Schlüsselbegriffe: Stimme, Stimmfunktion, Funktionelle Stimmtherapie, Stimmstörungen Körperhaltung, Körperspannung und Selbstwahrnehmung (Propriozeption) sind nicht nur Bereiche der physiotherapeutischen Arbeit mit dem Pferd (Hippotherapie), sie haben auch Einfluss auf die Stimmgebung und sind daher für die Therapie funktioneller Stimmstörungen von grundlegender Bedeutung. Darüber hinaus wird sowohl in der Stimmtherapie als auch in der Hippotherapie auf der personalen oder emotionalen Ebene gearbeitet, sodass sich hier ebenfalls Synergien finden lassen. Es ist jedoch zu beachten, dass die Übungen nur von stimmtherapeutisch geschulten Therapeutinnen angeleitet werden und nicht jede Klientin für jedes Pferd geeignet ist. Physiotherapeutisches Reiten zur Unterstützung der Behandlung von funktionellen Stimmstörungen Pferd und Stimme Schütt - Pferd und Stimme mup 2|2018 | 49 Für eine gesunde Stimme, die klar und voll klingt und uns in keiner Kommunikationssituation im Stich lässt, bedarf es einer guten Körperhaltung, einer angepassten Muskelspannung und im Idealfall auch einer guten Körperwahrnehmung. Betrachtet man diese physiologischen Aspekte, lässt sich ein gemeinsamer Konsens zwischen der Stimmtherapie und der Physiotherapie auf dem Pferd (Hippotherapie) finden. Besonders sinnvoll erscheint hierbei die Kombination von Hippotherapie und der Therapie bei funktionellen Stimmstörungen, da diese Störungen der Stimmgebung oftmals in ungünstigen Spannungsverhältnissen des Körpers begründet sind (Böhme 2003, 191 ff). Im Folgenden werden die Übereinstimmungen zwischen Stimmtherapie und Hippotherapie im Zusammenhang mit Anatomie, Physiologie und Pathologie der Stimme insbesondere auch unter Einbeziehung der personalen Ebene und der Wahrnehmung herausgearbeitet. Hierbei soll nicht zu detailliert auf einzelne Aspekte der Stimmgebung eingegangen werden, sondern vielmehr ein allgemeines Verständnis für die Prozesse geschaffen werden, die bei der Bildung von Stimme von Bedeutung sind. Abschließend werden mögliche Übungen auf dem Pferd vorgestellt, die von Stimmtherapeutinnen für eine Stimmtherapie vorgesehen werden könnten. Stimmgebung - Faktoren, die auf die Stimmgebung einwirken Laut Nawka und Wirth (2008, 116) ist die gesunde Stimme „frei von Nebengeräuschen, Druck, Dauer-, Fehl- und Überspannungen. Ihre Dynamik ist in jeder Höhe beliebig kräftig oder leise, der Klang weittragend, resonanzreich, weich und anstrengungslos.“ Wie der Stimmklang einer Person ist, hängt dabei von mehreren Faktoren ab, die wechselseitig aufeinander einwirken: ■ Anatomische Verhältnisse des Kehlkopfes und die Form des Ansatzrohres, Funktion von Atmung, Gehör und die Spannungsverhältnisse im Körper. ■ Situation: Lebenssituation, Empfindungen und Gefühle, Sprechabsicht, aus der heraus gesprochen wird, und der Gesprächspartnerin. ■ Persönlichkeit: Übernahme von Vorbildern, Veranlagung in der Persönlichkeit und bisherige Lebenserfahrungen, Erziehung, Traditionen. Diese drei Bereiche sind maßgeblich an der Entwicklung und Veränderung der Stimmgebung einer Person beteiligt (Siegmüller / Bartels 2017, 354 f). Stimmstörungen (Pathologie) Es gibt eine ganze Reihe von Störungen der Stimmfunktion, die meist in die Kategorien der organischen, funktionellen oder psychogenen Stimmstörungen eingeordnet werden. Die Ursachen für Stimmstörungen sind sehr vielfältig und es bedarf immer einer genauen Anamnese und Diagnostik, um eine geeignete Therapieform auszuwählen. Hier sollen nur die funktionellen Stimmstörungen betrachtet werden, da die Kombination der Hippotherapie mit der Stimmtherapie bei dieser Art der Stimmstörungen besonders nutzbringend erscheint. Als Beispiele lassen sich z. B. die ganzheitliche Therapiemethode der Personalen Stimmtherapie nach Stengel und Strauch oder die körpertherapeutisch orientierte Methode der Progressiven Muskelentspannung (PME) nach Jacobsen anführen, die ähnliche grundlegende Therapieschwerpunkte vorweisen wie die Hippotherapie. Funktionelle Stimmstörungen (Funktionelle Dysphonie) Bei funktionellen Stimmstörungen handelt es sich um „Erkrankungen der Stimme, die charakterisiert sind durch Klang- und Effizienzstörungen ohne erkennbare strukturell-organische Veränderung“ (Böhme 2003, 191). Funktionelle Stimmstörungen werden in hyperfunktionelle Dysphonien (zu viel Muskelspannung) und hypofunktionelle Dysphonien (zu wenig Muskelspannung) eingeteilt, wobei es 50 | mup 2|2018 Schütt - Pferd und Stimme oftmals auch zu Mischformen kommt. Die Ausprägung der Beeinträchtigung der Stimmqualität nimmt bei funktionellen Stimmstörungen bei anhaltender Belastung im Verlauf des Tages meist zu. Hierdurch lassen sie sich von psychogenen Stimmstörungen abgrenzen, da diese meist einen inkonstanten Verlauf oder eine Abschwächung der Symptomatik trotz anhaltender Belastung aufzeigen (Böhme 2003, 191 ff). Funktionelle Stimmstörungen haben zumeist ein multifaktorielles Ursachengefüge, welches aus konstitutionellen Faktoren (z. B. Schwerhörigkeit), habituellen Faktoren (z. B. ungünstiges Vorbild), phonogenen Faktoren (z. B. Stimmüberlastung), organischen Faktoren (z. B. Erkrankungen des Stimmapparates) und psychogenen Faktoren (z. B. Depression) zusammengesetzt sein kann (Siegmüller / Bartels 2017, 361). Die Hyperfunktionellen Stimmstörungen entstehen meist aus gewohnheits-, berufs- oder temperamentbedingter Überlastung des Stimmapparates, wobei eine zu hohe Spannung im Kehlkopf die Schwingung der Stimmlippen beeinträchtigt und somit auch den Stimmklang. Symptome sind z. B. zunehmende Heiserkeit, Rauheit der Stimme, Räusperzwang oder Abbrechen der Stimme bei hoher Stimmbelastung. Die Hypofunktionellen Stimmstörungen sind eher selten und haben zumeist organische Ursachen oder sie deuten auf eine Stimmermüdung aufgrund einer ehemals hyperfunktionellen Stimmstörung hin. Hypofunktionelle Stimmstörungen können aber auch aufgrund einer gesamtkörperlichen Hypotonie auftreten oder ein Sekundärsymptom einer psychischen Erkrankung sein. Symptome der hypofunktionellen Stimmstörungen sind u. a. eine behauchte, leise Stimmgebung, oftmals auch heiser, da durch mangelnde Muskelspannung kein kompletter Stimmlippenschluss erzeugt wird. Eine eindeutige Zuordnung zu einer der Erscheinungsformen gelingt in der Praxis nur selten, da sich Hypo- und Hyperfunktionelle Störungen auch sekundär ausbilden können. Oftmals treten gemischte Formen der funktionellen Stimmstörungen auf, die individuelle Symptomausprägungen aufzeigen (Siegmüller / Bartels 2017, 361 f). Unter funktionellen Stimmstörungen leiden oftmals Personen aus Berufen, in denen viel gesprochen wird, wie z. B. Lehrerinnen, Kindergärtnerinnen, Callcenter-Agentinnen, Verkäuferinnen etc. Im Vergleich zu Sängerinnen, Schauspielerinnen oder Moderatorinnen, werden diese Berufsgruppen nicht auf die stimmliche Belastung vorbereitet, was oftmals zu einem unökonomischen Stimmgebrauch führt (Hammann 2011, 10 f). Therapie - Behandlung funktioneller Stimmstörungen Die therapeutischen Interventionen in der Stimmtherapie richten sich nach den Symptomen und den Bedürfnissen der Klientinnen und haben als Ziel die „Optimierung der Effizienz des Phonationsvorgangs“ (Siegmüller / Bartels 2017, 371). Mit geringstmöglichem Krafteinsatz soll das bestmögliche Stimmergebnis erreicht werden. Dabei ist in der Stimmtherapie nicht nur die Arbeit auf der funktionalen Ebene von Bedeutung, ebenso wichtig ist die Arbeit auf der personalen Ebene. Auf der funktionalen Ebene soll mithilfe von Wahrnehmungs-, Körper-, Atem- und Stimmübungen eine Ökonomisierung der Organe, die an der Stimmgebung beteiligt sind, erfolgen. Auf der personalen Ebene geht es darum, den Ursachen einer funktionellen Stimmstörung auf den Grund zu gehen und durch Verhaltensmodifikation die Stimmgebung positiv zu beeinflussen (Siegmüller / Bartels 2017, 371 f). Als grundlegende Voraussetzung, um an der Stimme arbeiten zu können, muss die Eigenwahrnehmung geschult werden, wobei der Schwerpunkt auf den im Körper vorherrschenden Spannungszuständen und dem Gehör für die eigene Stimme liegt (Tesche 2012, 27). Je nach individueller Zielsetzung kann mit unterschiedlichen Therapiekonzepten gearbeitet werden. Zu den klassischen Verfahren in der Stimmtherapie gehören z. B. die Atem-, Sprech- und Schütt - Pferd und Stimme mup 2|2018 | 51 Stimmtherapie nach Schlaffhorst/ Andersen oder die Kaumethode nach Fröschels. Liegt der Schwerpunkt der Therapie auf der Reorganisation der Sprechatmung, so könnten Übungen aus dem Konzept der Atemrhythmisch Angepassten Phonation (AAP) nach Coblenzer/ Muhar oder der Akzentmethode nach Smith durchgeführt werden. Methoden, die ganzheitlich arbeiten, sind z. B. die Personale Stimmtherapie nach Stengel/ Strauch und die Interaktive und Interaktionale Stimmtherapie nach Spiecker-Henke. Andere Methoden wie z. B. das Funktionale Stimmtraining nach Rohmert/ Rabine/ Heptner/ Kruse, die Tonale Stimmtherapie nach Herrmann-Röttgen/ Miethe oder die Manuelle Stimmtherapie nach Münch sind eher funktionsbezogen. Als körpertherapeutisch orientierte Methoden gelten die Progressive Muskelentspannung (PMR) nach E. Jacobsen und die Feldenkraismethode (Siegmüller/ Bartels 2017, 374f). Physiologische und psycho-mentale Aspekte der Stimmtherapie Im Folgenden werden die physiologischen und psycho-mentalen Aspekte der Stimmtherapie beschrieben. Im Vordergrund stehen dabei die Haltung und Körperspannung, die in der Arbeit auf dem Pferd angesprochen werden. Auf die Bereiche Atmung (Respiration), Stimme (Phonation) und Lautbildung (Artikulation) soll nicht eingegangen werden, da sich von diesen Aspekten der Stimmtherapie keine direkte Verknüpfung zur Hippotherapie herstellen lässt. Haltung Physiologisch : Eine gebeugte Haltung erschwert die Atmung und verhindert eine vollständige Klangentfaltung der Stimme. Ist der Rumpf aufgerichtet, können sich der Bauch- und Brustraum während der Atmung ohne Einschränkung ausdehnen und der Atem kann ungehindert fließen. Da sich die Spannungsverhältnisse im Kehlkopf an die körperliche Gesamtspannung anpassen und diese durch die Haltung beeinflusst wird, ist auch die Stimmgebung erheblich von unserer Körperhaltung abhängig. Ziel in der Stimmtherapie ist eine physiologisch aufgerichtete Körperhaltung (Spiecker-Henke 2014, 159 ff). Psycho-mental: Die äußere Haltung einer Person spiegelt oftmals auch ihre innere Haltung und ihr Empfinden in einer Situation oder einer Person gegenüber wider. So zeigt sich ein Teil der Persönlichkeit allein schon durch unsere Körperhaltung, die wir im Gespräch einnehmen (Stengel / Strauch 2005, 78 f). Körperspannung (Tonus) Physiologisch : Abgesehen vom Einfluss der Körperhaltung hängt unsere Stimmgebung auch von unserer Körperspannung ab. Ist die muskuläre Grundspannung des Körpers zu gering (Hypotonie), so kann im Bereich des Kehlkopfes nicht die notwendige Spannung zur Stimmgebung erzeugt werden. Ist die Körperspannung allerdings zu hoch (Hypertonie), so verkrampft sich die Kehlkopfmuskulatur und die Stimmlippen können nicht frei schwingen. Ziel ist eine sog. „eutone“ Spannung, bei der die muskuläre Spannung an die jeweilige körperliche Tätigkeit angepasst ist. Dieser Spannungszustand begünstigt auch die Stimmgebung (Spieker-Henke, 165 ff). Psycho-mental : Eine Spannungsveränderung lässt sich nicht nur durch z. B. Dehn- oder Lockerungsübungen erzielen, eine optimale Nutzspannung kann auch durch Intention, wie z. B. die Handlungsabsicht vor und während des Sprechaktes, hergestellt werden. In personenzentrierten Therapieansätzen liegt ein Schwerpunkt darin, dass unbewusste muskuläre Aktivitäten bewusstgemacht werden sollen, um sie anschließend für die Stimmbildung bewusst einsetzen zu können (Stengel / Strauch 2005, 77 ff). Bewegungsübertragung in der Hippotherapie - Bezug zur Stimmtherapie Es sind v. a. die Haltung und die Körperspannung, über die ein Bezug zur Hippotherapie hergestellt werden 52 | mup 2|2018 Schütt - Pferd und Stimme kann. Der Schwerpunkt der therapeutischen Interventionen liegt dabei auf dem „Motorischen Lernen“, welches laut Debuse (2015a, 40 f) sowohl eine physiologische als auch eine emotionale Ebene umfasst. Debuse (2015a, 41) verdeutlicht, dass sowohl physiologische als auch emotionale Faktoren und Prozesse durch Freude, Motivation und Aufmerksamkeit, aber auch durch das Feedback und die Aufgabenbezogenheit begünstigt werden. Zudem wird dargestellt, dass durch Übungen und Wiederholungen neu erlernte Muster verinnerlicht werden können. Daraus lässt sich schließen, dass sowohl auf funktionaler als auch auf personaler Ebene vergleichbare Aspekte der Stimmtherapie durch Übungen auf dem Pferd gefördert werden können. In den folgenden Ausführungen soll sich vorrangig auf die Gangart Schritt bezogen werden, da diese zumeist in der Hippotherapie ihre Anwendung findet (Adorf et al. 2015, 50). Die Beckenbewegung des Menschen ist während des Reitens im Schritt ähnlich wie die menschliche Bewegungsstruktur beim Gehen (Debuse 2015a, 45 f). Dies liegt daran, dass Pferde Kreuzgänger sind und die schräg gegenüberliegenden Extremitäten, also z. B. linkes Vorderbein und rechtes Hinterbein, beim Fortbewegen etwa gleichzeitig angehoben und wieder aufgesetzt werden (Strauß 2007). Wie in der Abb. 1 dargestellt, erfährt die Klientin bei der Hippotherapie eine Vielzahl von Bewegungsimpulsen (Adorf et al. 2015, 53 f): ■ Hoch-Tief-Bewegung entlang der Körperlängsachse durch die Flexions- und Extensionsbewegungen der Wirbelsäule des Pferdes; ■ Vor- und Zurückbewegung (ventral-dorsal) durch die Schub- und Bremskraft beim Ab- und Auffußen der Hinterhand des Pferdes; ■ Alternierendes Absinken des Beckens nach rechts und links (Lateralflexion) durch die Rumpfrotation des Pferdes; ■ Rotationsbewegung um die Körperlängsachse. Durch den Schub der Hinterhand des Pferdes wird das Becken des Menschen im Wechsel rechts und links nach vorne geschoben; ■ Hüftbewegung auf allen Ebenen, durch die Kontakterhaltung von Pferd und Becken; ■ Unterschenkelpendel entsteht trägheitsbedingt infolge der Hüftbewegung; ■ Bewegung des Schultergürtels, resultierend aus der Rumpfbewegung; ■ Armbewegung entsteht trägheitsbedingt und wird in einer Pendelbewegung sichtbar. Durch den Aufwärtsimpuls, den der Mensch beim Reiten im Schritt durch die Bewegungsübertragung vom Pferd erfährt, kann Spannung im Rumpf aufgebaut werden, welche die Aufrichtung der Wirbelsäule unterstützt (Debuse 2015a, 45). Wie oben beschrieben, ist die richtige Körperhaltung eine wichtige Grundlage. Um effektiv an der Stimmgebung arbeiten zu können, bedarf es ebenfalls einer aufgerichteten Körperhaltung und einer elastischen Nutzspannung (Stengel / Strauch 2005), sodass vorstellbar ist, dass allein durch die Bewegungsübertragung in diesem Bereich bereits ein Nutzen für die Stimmtherapie entsteht. Abb. 1: Bewegungsübertragung in der Hippotherapie (digitalisiertes Foto in Anlehnung an Strauß 2007, 4) Schütt - Pferd und Stimme mup 2|2018 | 53 Die mehrdimensionale Bewegungsübertragung kann sowohl hypertone Muskelaktivität reduzieren als auch hypotone Muskelgruppen aktivieren. Wichtig ist hierbei die Sitzposition auf dem Rücken des Pferdes, die nicht zu entspannt, aber auch nicht zu angespannt sein sollte (Strauß 2007). Die Klientin sollte nicht aktiv auf das Pferd einwirken, sondern sich reaktiv der Bewegung des Pferdes anpassen. Durch die Anpassung an die Bewegung des Pferdes können übermäßige Spannung abgebaut und dabei dennoch eine gewisse Grundspannung gehalten werden, die erforderlich ist, um die Balance auf dem Pferderücken zu halten (Adorf et al. 2015, 52 f). Die so entstandene Nutzspannung (Stengel/ Strauch 2005) kann für die stimmtherapeutischen Übungen bei funktionellen Stimmstörungen genutzt werden. Eine weitere Gemeinsamkeit von Hippotherapie und der Therapie bei funktionellen Stimmstörungen ist die Zentrierung. In der Hippotherapie stellt die Funktionseinheit von Becken und Lendenwirbelsäule das Zentrum des Körpers dar (Adorf et al. 2015). Ebenso geht es auch in der Stimmtherapie darum, die Konzentration auf die Körpermitte zu lenken, was ermöglicht, dass das Zwerchfell herabgesenkt wird, die Atmung vertieft werden kann, der Kehlkopf durch die Senkung des Zwerchfells heruntergezogen wird und dadurch die Stimmlippen entspannt werden. Durch die physiologische Körperhaltung mit dem Becken in Mittelstellung, aufgerichtetem Oberkörper und Brustbereich sowie angepasster Kopf- und Schulterstellung (Strauß 2007) werden zudem der Schwerpunkt verlagert und der Schulter-Nacken-Kehlkopfbereich entlastet (Stengel/ Strauch, 43 f). Neben der Haltungsanpassung und der Spannungsregulierung werden laut Debuse (2015a, 43) durch die Hippotherapie auch eine Vielzahl von Sinnen, u. a. die Oberflächen- und Tiefensensibilität und die Propriozeption angesprochen, die in der Stimmtherapie ebenfalls eine große Rolle spielen (Stengel / Strauch 2005). Positiven Einfluss auf die Stimmtherapie haben sicherlich auch die Anregung des Vestibularsystems, das durch die Fortbewegung im Raum angesprochen wird, und die Schulung des Hörsinns sowie anderer Sinneswahrnehmungen, welche durch das Reiten trainiert werden. Propriozeption - körperliche Eigenwahrnehmung in der Stimmtherapie und der Hippotherapie Die Selbstwahrnehmung / Selbsterfahrung von Stimme ist die Grundlage sowohl für die funktionale als auch für die personale Ebene der Stimmtherapie, um eine bewusste Änderung von Verhaltensweisen zu ermöglichen. Laut Stengel / Strauch (2005,40) ist „das Training der körperlichen Selbstwahrnehmung, der Propriozeption, […] die Basis, auf der alle Arbeit an Atem- und Stimmfunktion aufbaut“. Dabei wird unter Propriozeption zum einen die Fähigkeit verstanden, sich selbst und die eigene Position im Raum wahrzunehmen, zum anderen die Fähigkeit, auf diese wahrgenommenen Aspekte des Körpers zu reagieren (Stengel / Strauch, 36 ff). In der Stimmtherapie ist die körperliche Selbstwahrnehmung deshalb von besonderer Bedeutung, da die auditive Kontrolle des eigenen Stimmklangs, besonders in lauter Umgebung, oftmals erschwert ist. Zudem nehmen Klientinnen ihre Stimme anders wahr, als es die Umgebung tut, da die Schallwellen der Stimme auch über die Knochen geleitet werden, was den Klang im Innenohr verändert. Durch die Schulung der kinästhetischen Wahrnehmung können Klientinnen lernen, ihre Stimme unabhängig von der auditiven Wahrnehmung zu kontrollieren (Stengel / Strauch, 42 ff). Wie auch in der funktionellen Stimmtherapie ist in der Hippotherapie die Eigenwahrnehmung von entscheidender Bedeutung, da eine Klientin nur etwas verändern kann, wenn sie den Ist-Zustand erspüren und für sich reflektieren kann. Nur dann können neue Bewegungs- und Handlungsmuster erlernt werden (Adorf/ Debuse 2015, 147 f). Wie Adorf/ Debuse (2015) herausstellen, wird in der Hippotherapie häufig mit „mentalen Bil- 54 | mup 2|2018 Schütt - Pferd und Stimme dern“ gearbeitet, die bei Erarbeitung und Einhaltung von bestimmten Haltungsmustern als Vorstellungshilfe genutzt werden. Ebensolche Vorstellungshilfen werden auch in der funktionellen Stimmtherapie zur Unterstützung genutzt. Über mentale Bilder können sowohl Körperhaltungen als auch emotionale Haltungen evoziert werden, was für die Stimmtherapie von großem Nutzen ist. Auch ein Übertrag von Haltungs- und Bewegungsmustern in den Alltag wird mithilfe von mentalen Bildern erleichtert, da die Klientin die Bilder als mentale Unterstützung nutzen kann, um sich das gewünschte Verhalten wieder ins Gedächtnis zu rufen. Personale Ebene - innere Haltung und Motivation in der Stimmtherapie und der Hippotherapie Für eine funktionierende Stimmgebung ist nicht nur die Funktion der Organe, welche zur Stimmgebung benötigt werden, von Bedeutung. Zusätzlich weist jede Person eine personale Ebene auf, die die Funktionalität der Stimme unterstützen, aber auch beeinträchtigen kann (Stengel/ Strauch 2005, 14 f). Die Stimme ist das Medium, mit dem eine Person für ihre Umgebung akustisch wahrnehmbar wird. Dabei ist sie nicht nur dazu da, um Informationen inhaltlich auszutauschen, sie „spiegelt unsere Persönlichkeit, und sie spiegelt unsere Befindlichkeit in der jeweiligen Sprechsituation“ (Stengel/ Strauch 2005, 20). In der Therapie von Stimmstörungen wird nicht pauschal für jede Person und jedes Symptom gleich vorgegangen, es werden gemeinsam mit den Klientinnen die individuellen Bedeutungen der belastenden Symptome betrachtet. Ausschlaggebend für das therapeutische Vorgehen sind dabei immer die Bedürfnisse und Ziele der Klientinnen. Die Zielvorgaben der Therapeutin sind eher als „Angebote“ zu verstehen, die sich an der Entwicklung einer physiologischen Stimmgebung orientieren. Nur wenn Klientinnen eine Veränderung der Stimmgebung wirklich anstreben, ist diese auch möglich (Stengel/ Strauch 2005, 28 ff). Personale Faktoren, die die Stimmfunktion beeinträchtigen können und sich aus der derzeitigen Lebenssituation einer Klientin ableiten lassen, sind z. B. viel Stress oder Aufregung, ausgeprägte Stimmungsschwankungen oder Veränderungen der emotionalen Befindlichkeit, aber auch situations- oder personengebundene Stimmveränderungen (Stengel/ Strauch 2005, 31 ff). Als besonders wichtigen Aspekt zur Anregung von Veränderungen sowohl für die Stimmtherapie als auch für die Hippotherapie soll hier die Motivation und Freude hervorgehoben werden, da „Menschen am besten lernen, wenn sie an einer Sache interessiert sind“ (Debuse 2015a, 47). Die für eine Stimmtherapie erforderliche Motivation zur Verhaltensmodifikation und zur Durchführung von stimmtherapeutischen Übungen ist im Therapiealltag nicht immer vorhanden, jedoch dringend erforderlich, um langfristig einen Erfolg verzeichnen zu können. Oftmals sind Klientinnen ambivalent bezüglich ihrer Motivation, da zwar ein Leidensdruck besteht, dieser aber nicht immer groß genug ist, als dass die entsprechenden Verhaltensänderungen kontinuierlich umgesetzt würden (Hammer / Teufel-Dietrich 2017, 250). Allein der Umgang mit dem Pferd kann für viele Klientinnen bereits eine Motivationssteigerung bedeuten. Besonders für diese Klientinnen führt die Verbesserung der bislang eingeschränkten Funktionalität dazu, dass immer wieder Erfolgserlebnisse wahrgenommen werden, wodurch das Selbstwertgefühl gesteigert wird (Debuse et al. 2009). Für diese Personen ist die Durchführung von Übungen auf dem Pferd zur Unterstützung der Therapie von funktionellen Stimmstörungen daher sehr wertvoll. Übungen Bevor Beispiele zu den unterschiedlichen Übungsbereichen beschrieben werden, müssen zunächst die Voraussetzungen für die Durchführung der Übungen geklärt werden. 1. Therapeutin: Die Übungen sollten ausschließlich von Fachkräften mit stimmtherapeutischer Ausbildung, wie z. B. Logopädinnen, Schütt - Pferd und Stimme mup 2|2018 | 55 Sprachtherapeutinnen oder Atem-, Sprech- und Stimmlehrerinnen angeleitet werden, die bereits Erfahrungen und Grundkenntnisse aus dem Bereich der Hippotherapie mitbringen. Alternativ können die Übungen auch gemeinsam mit einer Hippotherapeutin durchgeführt werden. Neben der Auswahl des Pferdes und der Therapieumgebung ist die Therapeutin dafür zuständig, der Klientin klare und gut verständliche Bewegungsinstruktionen zu geben und die Klientin zur Eigenverantwortung bei der Durchführung von Übungen zu animieren. Dabei sollte die Therapeutin die individuellen Körpergefühle und Emotionen der Klientin erfragen, keine wertenden Äußerungen verwenden und motivationsfördernde Aussagen wählen (Adorf/ Debuse 2015, 146 ff). 2. Klientin: Nicht nur die Therapeutin, auch die Klientin sollte sich im Umgang mit dem Pferd sicher fühlen und generelles Interesse an der Arbeit mit Pferden haben. Es ist außerdem zu beachten, dass die Klientinnen sich auf dem Pferd sicher fühlen sollten, da die Übungen sonst zu ungünstigem Anspannen der Muskulatur führen können, die die Stimmentwicklung negativ beeinflussen. Auch ist zu beachten, dass es eine Reihe von Kontraindikationen für die Hippotherapie gibt (Debuse 2015b, 66 f), welche gleichsam für die unterstützenden Übungen zur Stimmtherapie gelten. Für die Durchführung der Übungen ist es wichtig, dass die Klientin sich bei den Übungen wohl fühlt und sich nicht zu stark festhält, da sonst die physiologische Bewegungsübertragung vom Pferd auf den Menschen beeinträchtigt wird (Adorf et al. 2015, 54). 3. Pferd: Bei der Auswahl des Pferdes sollte nach den Maßstäben der Hippotherapie (Debuse / Tetzner 2015, 139 ff) entschieden werden, was eine weitreichende Kenntnis der Bewegungsabläufe des Pferdes und fachliche Kenntnis im Bereich der Hippotherapie voraussetzt. Um das Pferd nicht zu überlasten und die Klientin bezüglich der Bewegungsabläufe nicht zu überfordern, ist es wichtig, genau abzuwägen, wie groß und breit das Pferd sein muss, um die Übungen optimal durchführen zu können. Zudem ist zu beachten, dass das Pferd, auf dem die Übungen durchgeführt werden, ein ruhiges Gemüt haben und nicht schreckhaft auf Geräusche der Umgebung reagieren sollte, da bei einigen Übungen Laute produziert werden, die das Pferd unbeachtet lassen sollte. Die Übungen sollten vorzugsweise ohne Sattel, wie auf Abbildung 7 zu sehen, oder mit einer rutschfesten Auflage (Pad) durchgeführt werden. Um der Klientin Sicherheit zu geben, sollte in jedem Fall ein Gurt (Voltigiergurt) verwendet werden. 4. Tempo: Für die Übungen sollte - ebenso wie in der Hippotherapie - maximal die Gangart „Schritt“ gewählt werden. Die Schrittbewegungen des Pferdes dürfen nicht zu groß sein, da sonst eine Tonuserhöhung, besonders bei hypertonen Klientinnen, zu ungünstigen Spannungsverhältnissen und Muskelverkrampfungen führen können (Debuse / Tetzner 2015, 141). Viele der Übungen können im Stand durchgeführt werden, da allein die natürlichen Bewegungen des Pferdes, wie Atmung und gelegentliche Beinentlastung, bereits Auswirkungen auf unseren Abb. 2: Nachgestellte Therapiesituation mit Therapeutin und Klientin auf dem geführten Pferd 56 | mup 2|2018 Schütt - Pferd und Stimme Körper haben. Auch die Grundspannung, die zum Halten des Gleichgewichts auf dem Pferderücken aufgebaut wird, wirkt sich bereits positiv auf die Stimmgebung aus. 5. Pferdeführung: Wie auf den bildlichen Darstellungen ersichtlich, ist es möglich, dass die anleitende Therapeutin die Führung des Pferdes übernimmt, es empfiehlt sich jedoch, eine begleitende Person (Pferdeführer) mit Erfahrung im Bereich der Hippotherapie mit der Führung des Pferdes zu betrauen, damit die Therapeutin die stimmtherapeutischen Übungen bei Bedarf ohne Einschränkung vormachen kann. Die folgenden Übungen sind aus dem Übungsbuch von Eberhart/ Hinderer (2014) abgeleitet und für die Durchführung auf dem Pferd angepasst worden. Körperhaltung Die folgenden Übungen können zur Spannungsregulation, Haltungsarbeit oder Wahrnehmungsschulung unterstützend in eine Stimmtherapie integriert werden. 1. Übung zur aufrechten Sitzhaltung (Grundhaltung): Das Pferd bleibt im Stand. Die Klientin soll sich auf den Pferderücken setzen und einen Augenblick innehalten, um die eingenommene Sitzposition auf dem Pferderücken wahrzunehmen (s. Abb. 3). Unter Anleitung der Therapeutin soll die Klientin die Haltung des Rumpfes und des Kopfes wahrnehmen und die Auflageflächen der Beine und Hände auf dem Pferd erspüren. (Auf diese Sitzposition wird in den folgenden Übungen Bezug genommen.) Anschließend soll die Klientin dazu angeleitet werden, mit der Sitzposition zu experimentieren. Nacheinander sollen Beine, Becken, Rücken, Schultern und Kopf in eine maximale Streckung und Beugung gebracht werden, um anschließend eine angenehme Mittelposition zu finden. Während all dieser Bewegungen und Haltungsveränderungen soll die Therapeutin die Klientin dazu anleiten, die Unterschiede wahrzunehmen und zu reflektieren. Als Erstes sollen die Beine lang ausgestreckt und dann herangezogenen werden. Danach soll die Klientin die Beine in einer angenehmen und entspannten mittleren Position an den Seiten des Pferdes herabhängen lassen. Anschließend wird das Becken ganz weit nach vorne und dann nach hinten gekippt, um auch hier eine Position in der Mitte zu finden, in der die Klientin sich wohl fühlt. 2. Übung zur aufrechten Grundhaltung (Äpfelpflücken): Die Klientin soll nun ihre Arme über ihren Kopf nach oben strecken und über sich in die Luft greifen, als wäre ein Zweig mit einem Apfel über ihr, nach dem sie sich strecken würde. Um die Wirbelsäule noch weiter in eine Streckung zu bringen, soll die Klientin versuchen, abwechselnd mit der linken und rechten Hand immer noch ein kleines Stück höher zu kommen, um den Apfel zu erreichen (Abb. 4). Als Gegenbewegung soll die Klientin nun die Arme langsam sinken lassen und ihren Rücken krumm machen, wie eine Katze, die Abb. 3: Grundhaltung Schütt - Pferd und Stimme mup 2|2018 | 57 einen „Katzenbuckel“ macht. Im Anschluss soll die Klientin ihre Wirbelsäule langsam wieder aufrichten, Wirbel für Wirbel, bis sie eine aufrechte Position erreicht hat. Als Nächstes soll die Klientin ihre Schultern langsam zuerst nach vorne und dann nach hinten ziehen und auch hier eine Position finden, die für sie angenehm ist. Die Schultern sollten nach Möglichkeit nicht verspannt sein, jedoch auch nicht nach vorne fallengelassen werden. Nun soll die Klientin ihre Hände im Nacken falten und ihren Kopf so weit nach hinten legen, wie es ihr möglich ist. Dann soll sie ihren Kopf langsam wieder nach vorne in Richtung Schlüsselbein bewegen. Dabei soll die Klientin ein „ah“ oder „oh“ tönen und wahrnehmen, in welcher Position des Kopfes der Stimmklang sich am besten entfalten kann. Die Position, in der ein entspanntes Tönen möglich ist, sollte abschließend eingenommen werden. Diese Körperhaltung, die unter Anleitung der Therapeutin nun Schritt für Schritt erarbeitet wurde, sollte anschließend noch einmal reflektiert werden und kann als gute Ausgangsposition für Übungen an der Stimme genutzt werden. Wahrnehmung von unterschiedlichen Haltungspositionen und deren Auswirkung auf Atmung und Resonanz Finden einer physiologisch aufgerichteten Sitzposition auf dem Pferd 3. Übung zur Aufrichtung der Sitzhaltung: Das Pferd bleibt im Stand. Die Klientin nimmt die Grundhaltung ein. Die Therapeutin leitet die Klientin an, sich einen dünnen Stab vorzustellen, der am Brustbein befestigt ist. Nun soll die Klientin mit den verschiedenen Positionen des Oberkörpers experimentieren, die durch unterschiedliche Bewegungen des Stabs entstehen könnten. Wird der Stab nach vorne / oben gezogen, so hebt sich das Brustbein sehr stark an, die Schulterblätter gehen zusammen und es entsteht eine „aufgeblasene“ Haltung. Wird das Brustbein durch den Stab nach hinten / unten gedrückt, wirkt der Brustkorb eingefallen, die Schultern gehen nach vorne und der Rücken wird runder. Alle Bewegungen sollten durch die Therapeutin angeleitet und von der Klientin reflektiert werden. Um die Auswirkung der Körperhaltung auf die Stimme wahrnehmbar zu machen, soll die Klientin während der Positionswechsel ein „oh“ tönen. Im Anschluss an die Übung sollte eine aufgerichtete und angenehme Position eingenommen werden. Die Vorstellung, dass der Stab ganz leicht nach vorne / oben gezogen wird, kann bei der Aufrichtung der Wirbelsäule hilfreich sein. Eine zweite Gedankenstütze für eine aufrechte Haltung ist ein unsichtbarer Faden, der am hinteren Oberkopf befestigt ist und diesen seicht ein kleines Stück nach oben zieht. Wahrnehmung von Körperhaltung und deren Auswirkung auf die Stimmgebung Anpassung der Sitzhaltung für eine bessere Entfaltung von Resonanz Abb. 4: „Äpfelpflücken“ 58 | mup 2|2018 Schütt - Pferd und Stimme Körperspannung 1. Übung zur Regulation der Körperspannung (basiert auf dem Konzept der Progressiven Muskelentspannung (PMR) nach Jacobsen): Das Pferd bleibt im Stand. Die Klientin nimmt die Grundhaltung ein. Unter Anleitung der Therapeutin sollen nun nacheinander verschiedene Muskelgruppen so stark wie möglich angespannt werden. Die Anspannung soll über 10 Sekunden gehalten und danach plötzlich losgelassen werden. Wichtig ist auch in dieser Übung, dass die Klientin dazu angeleitet wird, sowohl die Anspannung als auch die Entspannung der Muskulatur wahrzunehmen. Es soll wie folgt vorgegangen werden: ■ Füße / Beine: Beine anwinkeln und Fersen so weit wie möglich in Richtung Gesäß ziehen (Abb. 5). Fußspitzen hochziehen und die gesamte Muskulatur in Beinen und Gesäß anspannen. Spannung für 10 Sekunden halten, dann die Beine gerade strecken und entspannt an den Seiten des Pferderückens hängenlassen. ■ Hände / Arme: Arme nach vorne ausstrecken, Hände zu Fäusten ballen, Arme anwinkeln, Fäuste in Richtung Schultern ziehen und Ellenbogen so kräftig wie möglich an den Brustkorb pressen (Abb. 6). 10 Sekunden in dieser Anspannung verharren. Danach die Anspannung loslassen. Arme und Hände entspannt hängenlassen oder sie auf dem Rücken des Pferdes ablegen. Die Spannungsunterschiede wahrnehmen. ■ Schultern / Nacken: Schultern so hoch wie möglich in Richtung Ohren ziehen (Abb. 7), Arme dabei möglichst entspannt hängenlassen. Anspannung über 10 Sekunden halten und die Schultern dann (nicht zu ruckartig) wieder fallen lassen. Den Unterschied zwischen Anspannung und Entspannung fühlen. ■ Gesicht: Stirn runzeln, Augen fest zukneifen, Nase rümpfen, Zähne zusammenbeißen, Lippen aufeinanderpressen und die Mundwinkel zur Seite ziehen. Das Kinn etwas in Richtung Brust- Abb. 5: PME 1 Abb. 6: PME 2 Abb. 7: PME 3 Schütt - Pferd und Stimme mup 2|2018 | 59 bein und den Kopf nach hinten oben ziehen. Die Anspannung 10 Sekunden halten. Danach langsam ausatmen und die Verkrampfungen lösen, indem alle Muskeln gleichzeitig gelockert werden. Wahrnehmung körperlicher Anspannung und Entspannung Abbau von übermäßiger Anspannung als Grundlage für eine physiologische Phonation 2. Übung zur orofacialen Spannungsregulation: Das Pferd bleibt im Stand oder geht im Schritt. Die Klientin nimmt die Grundhaltung ein. Die Therapeutin leitet die Klientin an, einige Male langsam und kraftvoll mit den Handinnenflächen von den Schläfen ausgehend über die Seiten des Gesichtes bis zum Kinn zu streichen. Der Unterkiefer soll dabei ganz locker und entspannt fallengelassen werden. Die Klientin soll mit weit geöffnetem Mund gähnen. Sollte die Klientin nicht auf Anhieb gähnen können, so hilft es manchmal, wenn der Unterkiefer leicht nach vorne geschoben wird und die Klientin sich vorstellt, dass sich im Mund eine kleine Kugel befindet, die sich zunehmend ausdehnt. Diese Vorstellungshilfe kann den Reflex des Gähnens auslösen (Abb. 8). Die Klientin soll das Gähnen zulassen und sich währenddessen mit Armen und Händen ausgiebig in alle Richtungen recken und strecken (Abb. 9). Abschließend soll die Klientin die Stimme mitklingen lassen, indem diese bei der Ausatmung in einem Klangbogen von der Kopfstimme in die Bruststimme gleiten soll, ähnlich wie bei einem langgezogenen Seufzer. Weitung des Ansatzrohres für eine bessere Resonanz Ungünstige Anspannungen werden gelöst 3. Übung zur orofacialen Spannungsregulation (basiert auf der Kaumethode nach Fröschels): Das Pferd bleibt im Stand oder geht im Schritt. Die Klientin nimmt die Grundhaltung ein. Die Klientin soll sich vorstellen, eine köstliche Speise zu essen. Unter Anleitung der Therapeutin soll die Klientin lustvoll kauen, während sie auf/ m / summt. Die Klientin soll sich dabei immer wieder vorstellen, wie lecker das ist, was sie gerade kaut. Mehrfach hintereinander soll die Klientin nun kauend die Lautfolge / mnjom / in einer entspannten Tonlage artikulieren und dabei möglichst große Kieferbewegungen machen. Weitung des Ansatzrohres für eine bessere Klangentfaltung der Stimme (Resonanz) Tiefsetzung des Kehlkopfes für eine entspannte Phonation Vorverlagerung des Stimmklangs Indifferenzlage / Mittlere Sprechstimmlage finden Abb. 8: Gähnen Abb. 9: Strecken 60 | mup 2|2018 Schütt - Pferd und Stimme Wahrnehmung 1. Übung zur Körperwahrnehmung: Das Pferd bleibt im Stand oder geht im Schritt. Die Klientin nimmt die Grundhaltung ein. Die Beine sollen locker hängengelassen, die Hände entspannt auf dem Gurt abgelegt werden. Die Klientin sollte sich nur so stark wie nötig festhalten, sodass sie sich auf dem Pferd sicher fühlt. Es sollen nun die Berührungspunkte zwischen Pferd und Reiter wahrgenommen werden. Die Therapeutin sollte genau anleiten, von den Füßen ausgehend, auf welchen Teil des Körpers sich die Klientin mit ihrer Wahrnehmung konzentrieren soll. Nacheinander soll die Auflagefläche der Füße, Unterschenkel, Oberschenkel bis zum Gesäß wahrgenommen werden. Die Klientin soll dabei auch genau auf die Bewegungen des Pferdes achten und die Übertragung der Bewegungen auf den eigenen Körper erspüren. Dabei soll sich die Klientin genügend Zeit lassen und ruhig und entspannt weiteratmen. Beruhigt sowohl die Klientin als auch das Pferd und schult die Körperwahrnehmung Herabsetzung des gesamtkörperlichen Tonus, Anspannungen können sich lösen Aufbau einer elastischen Nutzspannung, welche für die Phonation erforderlich ist 2. Übung zur Wahrnehmung der Atmung: Das Pferd kann sich in unterschiedlichen Tempi bewegen (Ausnahme! ). Die Klientin nimmt die Grundhaltung ein. ■ Zuerst im Stand. Die Klientin sollte eine Hand nacheinander auf verschiedene Bereiche des eigenen Körpers (Bauch, Brustbein, Taille / Flanke) legen und versuchen, die Bewegungen, welche durch die Ein- und Ausatmung entstehen, zu erfühlen. Dabei sie soll ruhig weiteratmen. Die Klientin soll erspüren, wie sich die Regionen mit der Atmung heben und senken sowie fühlen, wie ihr Atem ein- und wieder ausströmt. Die Klientin soll nun versuchen, die Atempause nach der Ausatmung wahrzunehmen und zu warten, bis das Gehirn dem Zwerchfell den Impuls zum Einatmen gibt. ■ Tempo: Schritt. Die Klientin soll sich auf die Atmung und die Veränderungen der Atemfrequenz und Atemtiefe konzentrieren. Dabei braucht die Hand jetzt nicht mehr auf den Körper gelegt werden, die Klientin soll stattdessen versuchen, die Gedanken zu den einzelnen Körperregionen wandern zu lassen. ■ Tempo: Trab und Galopp, wenn möglich. Auch diese Gangarten des Pferdes werden Veränderungen der Atmung hervorrufen. Die Klientin soll die Unterschiede, aber auch die Gemeinsamkeiten wahrnehmen und versuchen, die Wahrnehmungen zu verbalisieren. ■ Abschließend sollte die Klientin die Atmung erneut im Stand erspüren, um einen Vergleich ziehen zu können. Um eine gute Eigenwahrnehmung zu entwickeln, sollte die Klientin sich für die Übung viel Zeit lassen. Wahrnehmung der Atmung und der Atemräume Wahrnehmung der Veränderungen der Atmung in Bewegung 3. Übung zur Wahrnehmung der Reflektorischen Atemergänzung (RAE): Das Pferd bleibt im Stand. Die Klientin nimmt die Grundhaltung ein. Unter Anleitung der Therapeutin soll die Klientin ihre Hände seitlich an die Flanken unterhalb der Rippen legen. Die Finger sollten hierbei nach vorne und die Daumen nach hinten zeigen. Dabei sollte über die Hände kein Druck ausgeübt werden, da es in dieser Übung nur um die Wahrnehmung geht (Abb. 10). Als Vorstellungshilfe kann sich die Klientin z. B. Hühner vorstellen, die vor dem Pferd auf der Straße sitzen. Mit mehrfachem / ksch / soll sie nun versuchen, die Hühner zu verscheuchen. Wichtig ist hierbei, darauf zu achten, dass sich das Pferd durch das Geräusch nicht irritieren lässt. Die Klientin soll bei der Schütt - Pferd und Stimme mup 2|2018 | 61 Übung erspüren, wie sich die Bauchdecke nach innen zieht und nach dem / ksch / wieder löst. Die Übung sollte mehrfach wiederholt und die Anspannung und Entspannung des Zwerchfells genau wahrgenommen werden. Die Klientin soll fühlen, wie die Luft aus der Lunge gedrückt wird und wie sie im Anschluss wieder von allein einströmt. Die Übung lässt sich auch gut mit kurzen Wörtern durchführen, die auf einem Plosivlaut ( / p, b, t, d, k, g / ) enden. Wahrnehmung der Reflektorischen Atemergänzung 4. Übung zur Wahrnehmung der Stützen (inspiratorische Gegenspannung): Das Pferd bleibt im Stand. Die Klientin nimmt die Grundhaltung ein. Für diese Übung sollte die Klientin ihre Handflächen vor sich auf den Hals des Pferdes legen, ihre Ellenbogen leicht beugen und sich in Richtung Pferderücken fallenlassen (Abb. 11). Dann soll sie sich mit etwas Druck auf die Handflächen vom Pferd abstoßen und dabei ein lang gedehntes / sch / machen (Abb. 12). Die Klientin soll dabei erspüren, wie sich Bauch und unterer Rippenbereich anspannen. Dieser Widerstand, der während des / sch / spürbar wird, kann für eine kraftvolle Stimmgebung trainiert werden. Wahrnehmung des Widerstands der Atem- oder Stimmstütze Fazit Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Übungen auf dem Pferd zur Unterstützung der Stimmtherapie durchaus sinnvoll sein können. Durch die Bewegungs- und Haltungsübertragung vom Pferd auf den Menschen lassen sich Spannungsverhältnisse leichter erspüren und regulieren, was sich positiv auf die Stimmgebung auswirken kann. Voraussetzung ist, dass sich die reitende Person auf dem Pferd sicher fühlt, um sich während der Übungen nicht zu verspannen. Wichtig ist auch, dass die Übun- Abb. 10: RAE Abb. 11: Stütze 1 Abb. 12: Stütze 2 62 | mup 2|2018 Schütt - Pferd und Stimme Die Autorin Lisa Schütt Seit 2012 staatlich anerk. Logopädin, seit Oktober 2015 Studentin BA Bildungswissenschaften Sonderpädagogik u. Deutsch an der Europa-Universität Flensburg. Anschrift Lisa Schütt · Schulze-Delitzsch-Straße 18 D-24943 Flensburg · schuett.lisa@web.de gen nur unter Anleitung von stimmtherapeutisch geschulten Personen durchgeführt werden, die auch im Bereich der Hippotherapie Grundkenntnisse haben, um eine individuelle Anpassung der Übungen an die Bedürfnisse der Klientin zu ermöglichen. Durch Motivation, Freude und Erhöhung der Aufmerksamkeit wird das motorische Lernen begünstigt. Die Erfolge auf der funktionalen Ebene wiederum erhöhen folglich die Motivation und stärken somit auch die personale Ebene. Der Mensch wird durch die Hippotherapie nicht nur physisch, sondern auch „psychisch, sensorisch und […] emotional“ bewegt (Debuse 2015a, 48), was ebenso als Grundlage für die Stimmtherapie bei funktionellen Stimmstörungen gilt. Dies lässt vermuten, dass Übungen auf dem Pferd, die sich an der Hippotherapie orientieren, durchaus zur Unterstützung bei funktionellen Stimmstörungen geeignet sind. Auch wenn in der Stimmtherapie überwiegend mit „klassischen“ Methoden aus dem stimmtherapeutischen Bereich gearbeitet werden sollte, könnte die Umsetzung von einzelnen Übungen zur Wahrnehmung, Haltung und Spannung die Motivation für die Stimmtherapie erheblich steigern und so den Therapieerfolg positiv beeinflussen. Die Wirksamkeit der aufgeführten Übungsvorschläge ist nicht wissenschaftlich belegt. Derzeit fehlt es noch an wissenschaftlichen Ergebnissen, die einen Nachweis über die Wirksamkeit von Übungen auf dem Pferd bezüglich funktioneller Stimmstörungen erbringen. Um Aussagen über den Effekt des Reitens auf die Stimmfunktion treffen zu können, bedarf es weiterführender Forschung in diesem Fachgebiet. Literatur ■ Adorf, U., Debuse, D. (2015): Einwirkung des Therapeuten in der Hippotherapie. In: Debuse, D. (Hrsg.): Hippotherapie. Grundlagen und Praxis. Ernst Reinhardt, München / Basel, 146-155 ■ Adorf, U., Debuse, D., Krämer, C. (2015): Analyse der Pferdebewegung und der Reaktion des Menschen auf die Pferdebewegung. In: Debuse, D. (Hrsg.): Hippotherapie. Grundlagen und Praxis. Ernst Reinhardt, München / Basel, 50-63 ■ Böhme, G. (2003): Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen, Band 1: Klinik. 4. Aufl. Urban & Fischer, München / Jena ■ Böhme, G. (2006): Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen: Band 2: Therapie. 4. Aufl. Urban & Fischer, München / Jena ■ Coblenzer, H., Muhar, F. (1993): Atem und Stimme. 12. Aufl. Österreichischer Bundesverlag, Wien ■ Debuse, D. (2015a): Die Einzigartigkeit der Hippotherapie aus der Perspektive des Motorischen Lernens. In: Debuse, D. (Hrsg.): Hippotherapie. Grundlagen und Praxis. Ernst Reinhardt, München / Basel, 40-49 ■ Debuse, D. (2015b): Indikationen und Kontraindikationen. In: Debuse, D. (Hrsg.): Hippotherapie. Grundlagen und Praxis. Ernst Reinhardt, München / Basel, 64-67 ■ Debuse, D., Gibb, C., Chandler, C. (2009): Effects of hippotherapy on people with cerebral palsy from the users’ perspective: a qualitative study. Physiotherapy Theory and Practice 25 (3), 174-192 ■ Debuse, D., Tetzner, S. (2015): Auswahl von Pferd, Tempi und Lektionen in der Hippotherapie. In: Debuse, D. (Hrsg.): Hippotherapie. Grundlagen und Praxis. Ernst Reinhardt, München / Basel, 139-145 Übungen auf dem Pferd können die Motivation für die Stimmtherapie erheblich steigern. Schütt - Pferd und Stimme mup 2|2018 | 63 ■ Eberhart, S., Hinderer, M. (2014): Stimm- und Sprechtraining für den Unterricht. Ein Übungsbuch. Schöningh, Paderborn ■ Hammann, C. (2011): Bei Stimme bleiben. Ein Ratgeber für Lehrer und Berufssprecher. Ratgeber für Angehörige, Betroffene und Fachleute. Schulz-Kirchner, Idstein ■ Hammer, S. S., Teufel-Dietrich, A. (2017): Stimmtherapie mit Erwachsenen. Was Stimmtherapeuten wissen sollten. Praxiswissen Logopädie. 6. Aufl. Springer, Heidelberg ■ Hofmann, E. (2012): Progressive Muskelentspannung. Ein Trainingsprogramm. 3. Aufl. Hogrefe, Göttingen ■ Nawka, T., Wirth, G. (2008): Stimmstörungen. Deutscher Ärzteverlag, Köln ■ Schindelmeiser, J. (2008): Anatomie und Physiologie für Sprachtherapeuten. 1. Aufl. Urban & Fischer, München / Jena ■ Siegmüller, J., Bartels, H. (2017): Leitfaden Sprache Sprechen Stimme Schlucken: Mit Zugang zur Medizinwelt. 5. Aufl. Urban & Fischer, München / Jena ■ Spiecker-Henke, M. (2014). Leitlinien der Stimmtherapie. 2. Aufl. Thieme, Stuttgart ■ Stengel, I., Strauch, T. (2005): Stimme und Person. 5. Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart ■ Strauß, I. 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