eJournals mensch & pferd international 11/1

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2019
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Forum: Das Maultier im therapeutischen Reiten - am Beispiel der beiden Maultiere Barone und Caramella

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2019
Brigitte Berner
In letzter Zeit scheint man sich an das Maultier zurückzuerinnern. Ich stelle ein immer größer werdendes Interesse fest. Maultiere werden auf Freizeitreiter-Turnieren vorgestellt, für Wanderritte und Ausritte eingesetzt; sie werden aus Spanien und Frankreich importiert, weil das Interesse inzwischen größer als der Bestand in Deutschland ist. Aber Maultiere sind keine Pferde mit längeren Ohren! Das Maultier ist eine eigenständige Equidenart und muss dementsprechend behandelt werden. Es ist sehr schlau, hat einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, möchte gut behandelt werden und hat am liebsten einen einzigen Besitzer in seinem Leben. [...]
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36 | mup 1|2019|36-44|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2019.art05d Forum Das Maultier im therapeutischen Reiten - am Beispiel der beiden Maultiere Barone und Caramella Brigitte Berner In letzter Zeit scheint man sich an das Maultier zurückzuerinnern. Ich stelle ein immer größer werdendes Interesse fest. Maultiere werden auf Freizeitreiter-Turnieren vorgestellt, für Wanderritte und Ausritte eingesetzt; sie werden aus Spanien und Frankreich importiert, weil das Interesse inzwischen größer als der Bestand in Deutschland ist. Aber Maultiere sind keine Pferde mit längeren Ohren! Das Maultier ist eine eigenständige Equidenart und muss dementsprechend behandelt werden. Es ist sehr schlau, hat einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, möchte gut behandelt werden und hat am liebsten einen einzigen Besitzer in seinem Leben. Wer sich auf die Eigenheiten des Maultieres einlässt, bekommt einen absolut zuverlässigen, anspruchsvollen Partner, der gerne mitarbeitet. Im folgenden Artikel berichte ich von meinen Erfahrungen im therapeutischen Reiten mit meinem Maultier Barone, der mich 25 Jahre lang begleitete. Kurz werde ich auch von den Erfahrungen mit Maultierstute Caramella berichten. Barone Barone ist ein Maultier-Wallach, geboren 1989. Die Mutter von Barone war eine Maremmaner-Stute, eine italienische Pferderasse welche vor allem in den Küstenzonen der Toskana und im Latium verbreitet ist. Ein Hengst der Eselrasse Amiatino, ebenfalls eine typisch italienische Eselrasse, verbreitet in der Toskana und nicht allzu groß, war der bedeckende Hengst. Barone war ein Zufallsprodukt und wurde als Brauner geboren, schimmelte jedoch aus und erreichte ein Stockmaß von 142 cm. Er hatte eine gute umfassende Grundausbildung, sodass ich ihn für Ausritte, Wanderritte, als Packmuli, für kleine Sprünge, zum Handpferdereiten, am langen Zügel, an der Longe, an der Doppellonge und sogar angespannt einsetzten konnte. Seine Lieblingsdisziplin war der Trail (Westernreiten). Im Jahr 1998 wurden wir italienische Meister in einer Trail-Horse Pro. Danach ritt ich keine Turniere mehr mit ihm, sondern setzte ihn unter anderem auch im therapeutischen Reiten ein. Abb. 1: Maultier Barone mit Autorin Brigitte Berner Forum: Berner - Das Maultier im therapeutischen Reiten mup 1|2019 | 37 Brigitte Berner Vorteile von Maultier Barone: Er war relativ klein, aber trotzdem fähig, Gewicht zu tragen. Dadurch war es für die HelferInnen kein Problem, Kinder oder unsichere ReiterInnen vom Boden aus zu unterstützen. Es war dadurch auch möglich, zu zweit mit ihm zu reiten. In der Nierengegend war er absolut stabil und unempfindlich. Es gefiel ihm, wenn er im Mittelpunkt stand. Je mehr Menschen ihm Aufmerksamkeit schenkten, umso besser! Er verfügte über gute, weiche Gänge: Sein sehr guter Schritt war raumgreifend, im Rhythmus eines Großpferdes. Er hatte einen absolut weichen Trab und konnte einen kräftigen versammelten Galopp - fast in Schrittgeschwindigkeit - springen, und verfügte über eine sehr gute dressurmäßige Grundausbildung: A - L Niveau. Er lernte sehr schnell, ihm reichte es, eine Situation nur einmal erlebt und schon daraus gelernt zu haben. Das kann Vorteile und Nachteile haben. Ich versuchte, die Vorteile zu nutzen: Er machte nur einmal die Erfahrung, dass ein Rollstuhl kein gefährlicher Gegenstand ist - und scheute nie mehr vor einem solchen. Aufstiegshilfen waren für ihn überhaupt kein Problem. An der Aufstiegsrampe blieb er still stehen, sodass die Person, die gerade aufsteigen wollte, sich so viel Zeit nehmen konnte wie sie brauchte, um sicher aufsteigen zu können. Er war sehr personenbezogen und absolut zuverlässig in der Zusammenarbeit mit mir. Wenn er von mir geführt wurde, konnten die Menschen, die auf ihm ritten, alles machen: ■ Rhythmuswechsel über Stangen am Boden mit kleineren oder größeren Abständen ■ Hoch und runter auf der Brücke ■ Richtungsänderung bei Schlangenlinien ■ Zielgerichtete Koordination beim akustischen Reiz (Glocke anschlagen) Unterschiedliche Geschwindigkeiten bei Schritt und Trab ■ Rückwärts gehen ■ Voltigierübungen jeder Art ■ Klatschen, Singen und auch Schreien ■ Gegenstände von einem Ort zum anderen bringen ■ Kleidungsstücke an- und ausziehen Er hielt auf Kommando sofort an, sodass ich ängstlichen ReiterInnen versichern konnte, dass Barone nur fünf Schritte machen werde, und es waren dann auch wirklich nur fünf! Menschen, die Angst beim Reiten hatten, beeindruckten ihn nicht, solange ich ihm durch meine ruhige Art signalisierte, dass alles in Ordnung war. Nachteile von Maultier Barone Er war Fremden gegenüber eher gleichgültig und ließ sich nicht gerne von jemand putzen, den er nicht kannte. Er war sehr verschmust, aber nur mit mir. Von Kindern war er vom Boden aus nicht sehr begeistert. Personen, die ihm nicht sympathisch waren, wurden erstmal mit dem Schweif geschlagen und mit angelegten Ohren böse angeguckt. Da das Schweifschlagen doch recht unangenehm ist, wandten sich die Kinder meist von selbst an mich um sich zu beklagen. Ich lasse Kinder, die zu mir kommen, nie mit den Pferden alleine. So konnte ich auch bei Barone sofort einschreiten, wenn ich sah, dass er etwas nicht wollte. Die Kinder waren dann zufrieden, wenn sie ein anderes Pferd putzten konnten, das ihre Liebe erwiderte. Besonderheiten im Umgang Barone quittierte Grob- und Rohheiten sofort. Dabei hat er niemals jemandem wirklich wehgetan. Er täuschte nur vor zu beißen oder zu treten und jagte den betroffenen Personen damit Angst ein. Mit PatientInen, die eine offensichtlich hohe Dosis von Beruhigungsmitteln oder Psychopharmaka verabreicht bekommen hatten, wollte Barone nichts zu tun haben. Er war ein sehr guter Indikator, ab wann es für eine Person nicht mehr gut war zu reiten. In solchen Fällen wich er diesen Menschen aus, stand beim Aufsteigen nicht still 38 | mup 1|2019 Forum: Berner - Das Maultier im therapeutischen Reiten (was sonst absolut kein Problem war), schlug vermehrt mit dem Schweif, legte die Ohren an und tat alles, um uns seinen Unmut mitzuteilen. An dieser Stelle möchte ich noch präzisieren, dass Barone nicht nur ausschließlich mit mir arbeitete. In unserem Zentrum hatte eine Freundin von mir, Angelika, ihr Pferd in Pension. Sie war jeden Tag bei uns im Zentrum und half mir bei allen Arbeiten mit. Mit Barone kam sie sehr gut zurecht und Barone seinerseits mochte Angelika auch. Sie half regelmäßig beim therapeutischen Reiten. In Situationen, in denen ich beispielsweise mit einem Kind auf Barone saß, führte Angelika. Ich konnte mich voll auf sie verlassen und auch Barone machte seine Arbeit wie immer gut. Barone wurde im Bereich des therapeutischen Reitens bei folgenden KlientInnen eingesetzt: ■ Gruppen mit ehemaligen Drogenabhängigen in Fivizzano (MS) ■ Verschiedene Gruppen von psychisch kranken Erwachsenen in Fivizzano (MS) ■ Verschiedene Gruppen von Kindern mit diversen Problemen in Fivizzano (MS) Barone beim therapeutischen Reiten mit Menschen mit ehemaligem Abhängigkeitssyndrom in Fivizzano Die Gruppe: 5 junge männliche Teilnehmer mit Abhängigkeitssyndrom in der Vergangenheit im Alter zwischen 16 und 20 Jahren; keiner der Teilnehmer hatte vorher Erfahrung mit Pferden. - 1-mal wöchentlich Voltigier-Unterricht mit einer Dauer von circa 2 Stunden über einen Zeitraum von etwa sechs Monaten Lerneinheiten: Barone putzen und fertig machen, aufwärmen (Gymnastik und Holzpferd), Voltigieren mit Barone Die jungen Menschen nahmen das Programm sehr gerne an. Weil sie ansonsten wenig Gelegenheit bekamen, das Drogenzentrum zu verlassen, waren die Stunden mit Barone eine willkommene Abwechslung. Da Barone Gewichtsträger war, konnten bis zu zwei Voltigierer gleichzeitig auf ihm reiten. Wir arbeiteten in allen drei Gangarten. Jedoch: Je sicherer die Teilnehmer wurden, desto mehr wollten sie galoppieren. Dies war mit Barone aber nicht möglich, da er sich nach etwa eineinhalb Runden im Galopp ausruhen wollte. Barone liebte die Abwechslung. Deshalb gefiel ihm die Western-Disziplin Trail-Horse so gut. Ich konnte alle Hindernisse so kombinieren, dass es ihm nie langweilig wurde. Er hasste es aber, Runde um Runde auf dem Zirkel laufen zu müssen, wie etwa beim Voltigieren. Nach der zweiten Runde hatte ich den Eindruck, dass er mich anguckte, als wollte er mir sagen: „Hier war ich doch eben schon mal! “ Eine besondere Herausforderung in der Arbeit mit diesen jungen Männern war, dass sie Schwierigkeiten hatten Grenzen zu akzeptieren. Im Setting mit Barone äußerte sich das so, dass sie Barones körperliche Grenzen nicht akzeptieren wollten: weder seine begrenzte Kapazität Gewicht zu tragen, noch seine Unfähigkeit, lange auf dem Zirkel zu galoppieren. Barone war, wie viele Maultiere, sehr auf sein eigenes Wohl bedacht. Niemand konnte ihn dazu bringen etwas zu tun, was ihm geschadet hätte. Er spürte, dass ihm von Seiten dieser jungen Menschen nicht viel Rücksicht entgegen gebracht wurde, was er damit quittierte, deutlich seinen Unwillen zu zeigen: Er drohte ihnen, indem er sich mit der Hinterhand gegen sie drehte, schlug vermehrt und gezielt mit dem Schweif und deutete Beißen an. Eine weitere Schwierigkeit war, dass die Gruppenteilnehmer keine Gefahren kannten. Sie waren sehr risikofreudig, was mich an meine Grenzen brachte. Sie wollten zum Beispiel nach kurzen Proben des Galopps sofort im Stehen galoppieren! Dieses Projekt war von Anfang an auf sechs Monate ausgelegt mit der Möglichkeit zu verlän- Forum: Berner - Das Maultier im therapeutischen Reiten mup 1|2019 | 39 gern, falls die Teilnehmer es wünschten. Von Seiten der Verantwortlichen des Drogenzentrums sollte dieses Projekt eine Freizeitbereicherung sein, bei der die Teilnehmer die Möglichkeit hatten, sich körperlich auszuagieren. Die Klienten zeigten jedoch kein Interesse, die in diesem Projekt auftretenden Probleme therapeutisch aufzuarbeiten. Deshalb lief es nach sechs Monaten in gegenseitigem Einvernehmen aus. Gruppe von psychisch kranken Erwachsenen der „Casa Cardinal Maffi“ in Fivizzano Ich bot diesem Wohnheim für psychisch kranke Erwachsene an, einmal wöchentlich zu einer 2-stündigen Aktivität mit Pferden in unser Zentrum zu kommen. Die Durchführung das ganze Jahr über war garantiert: Bei schlechtem Wetter hatten wir einen Raum, in dem Gymnastik oder andere Aktivitäten möglich waren. Gruppengröße: von drei bis sieben Personen Die Problematiken der verschiedenen Personen waren sehr different: Essstörungen, Personen mit geistiger Beeinträchtigung, Menschen mit Psychosen oder Schizophrenie. Die TeilnehmerInnen kamen sehr gerne, da es für sie eine der wenigen Möglichkeiten war, aus dem geschlossenen Heim für ein paar Stunden zu „entfliehen“. Alle zeigten sich dem Maultier gegenüber sehr aufgeschlossen und fühlten sich zu ihm sehr hingezogen; die Möglichkeiten der KlientInnen waren dabei aber sehr unterschiedlich. Einige waren fähig, alleine Reiten zu lernen, während andere über nur wenig Autonomie verfügten und geführt wurden. Mit Barone war es nicht einfach, alleine zu reiten. Er wollte Klarheit in der Hilfengebung und keine „Doppelbotschaften“. Deshalb setzte ich ihn nicht für KlientInnen ein, die selbständig reiten konnten, sondern nahm ihn für Menschen, die geführt werden mussten. Wir arbeiteten mit ihnen viel an der Wahrnehmung: schnell gehen - langsam gehen (Schritt); Unterschied Schritt - Trab (wenn es die körperlichen Konditionen des Reiters zuließen); Anhalten - Bewegung; geradeaus - Richtungsänderung; auf und ab (Brücke). Sie sollten die Körperwärme von Barone erleben, indem sie sich auf seinen Hals legten und seine Wärme nicht nur mit den Händen, sondern mit dem ganzen Körper spürten. Barone arbeitete bei diesen TeilnehmerInnen im Allgemeinen sehr gerne mit. Er genoss es, viel Aufmerksamkeit und Zuwendung zu bekommen; es war für ihn keine harte körperliche Arbeit. Er reagierte sehr willig auf das Kommando „Whoo“ um anzuhalten und war sichtlich zufrieden, wenn er für seine Folgsamkeit gelobt wurde. Durch seine weichen Gangarten empfanden diese KlientInnen das Reiten auf ihm als sehr angenehm. Ab und zu kam es vor, dass ein Reiter mit psychischen Störungen in seine „eigene, innere Welt“ entfliehen wollte und dann für uns nicht mehr ansprechbar war. Mit Barone war es leicht, diese Menschen in der Gegenwart zu behalten, da er sehr folgsam war. Wir führten Barone dann beispielsweise in enge Kurven, die der Reiter mit Gewichtsverlagerung ausgleichen musste. Barone half uns bei diesen Übungen, indem er unter den Schwerpunkt des Reiters trat, falls dieser aus dem Gleichgewicht geriet. Für die Westernspezialität Trail-Horse hatte ich Barone so ausgebildet, dass er meinen Gewichtshilfen ganz leicht folgte. Um ehrlich zu sein, er hatte von Anfang an nie Probleme damit, mit dem Reiter auf seinem Rücken im Gleichgewicht zu sein. So musste ich diesen natürlichen Gleichgewichtssinn nur weiterentwickeln. Dies konnte ich in solchen Situationen sehr gut nutzen. Oder wir begannen mit diesen ReiterInnen, ein paar Schritte im Trab von Barone zu fordern. Da es nur kurze Trabreprisen waren, machte Barone das gerne. Mit einem Mann dieser Gruppe, der sehr pferdebegeistert war und sogar gelernt hatte, ein Pferd alleine zu kontrollieren, machten wir kleine Ausritte. Dabei ritt ich Barone und 40 | mup 1|2019 Forum: Berner - Das Maultier im therapeutischen Reiten nahm das Pferd, auf dem dieser Mann saß, als Handpferd. Mit Barone hatte ich jahrelang Übung, andere Pferde als Handpferde neben ihm zu führen. Er kannte seine Aufgabe sehr gut und kontrollierte selbständig, dass das Handpferd ihn nicht überholte oder zu sehr zurückblieb. Auf diese Weise konnte ich mich bei diesen kleinen Ausritten ganz um die Bedürfnisse des Reiters kümmern. Nachdem diese Menschen an unseren anderen Pferden gelernt hatten, wie man sie putzt, war es auch möglich, dass sie Barone putzten. Ich musste dafür aber die Personen aussuchen, denen Barone sympathisch war, da er keine unsicheren Menschen um sich duldete. Auch nervöse oder hyperaktive Leute gefielen ihm nicht. Für ihn musste ich Personen aussuchen, die an diesem Tag ausgeglichen und ruhig waren. Es war wichtig, dass seine Pfleger nicht zu viel mit sich selbst beschäftigt waren, sondern dass sie ihre Aufmerksamkeit Barone schenken konnten. Zum großen Bedauern der TeilnehmerInnen mussten wir dieses Projekt einstellen, als wir unser Zentrum in Fivizzano schlossen. Drei Gruppen von psychisch kranken Erwachsenen des Tagesheimes der Gesundheitsorganisation von Fivizzano Gruppen: Fünf bis zehn Personen aus drei verschiedenen Tagesheimen für Erwachsene mit verschiedenen psychischen oder physischen Behinderungen der Umgebung Die drei Gruppen kamen jeweils ein Mal wöchentlich das ganze Jahr über. Die Schwierigkeiten der TeilnehmerInnen waren sehr unterschiedlich, angefangen bei leichten geistigen Behinderungen bis hin zu schweren psychischen Störungen. Auch hier setzte ich Barone ähnlich ein wie im vorigen Projekt: Er war der ideale Partner für ReiterInnen, die geführt werden mussten. Die psychischen Störungen einiger PatientInnen waren allerdings schwerwiegender; so kam es einige Male vor, dass TeilnehmerInnen dieser Gruppe kaum ansprechbar waren, da sie mit Medikamenten ruhiggestellt worden waren. Barone war ein sehr guter Indikator um zu entscheiden, ob eine Person in der Lage war, am Reiten teilzunehmen oder nicht. Er wollte diese Personen nicht aufsteigen lassen, schlug mit dem Schweif gegen sie und täuschte vor zu beißen. Da wir KlientInnen normalerweise auf Barone reiten ließen, war es für mich einfach den BetreuerInnen klar zu machen, dass es leider nicht möglich war, die betreffende Person an diesem Tag aufsteigen zu lassen. Es war leider nicht möglich, mit den BetreuerInnen über den Gebrauch von Psychopharmaka zu diskutieren, da richtigerweise nur die ÄrztInnen diese Medikamente verschrieben. Die BetreuerInnen bevorzugten allerdings ruhig gestellte GruppenteilnehmerInnen, auch wenn die Dosis m. E. dabei oft an die Grenze des Vertretbaren hinausging. Barone war dabei aber unbestechlich und half mir die richtigen Entscheidungen zu treffen, ohne mich auf unfruchtbare Diskussionen einlassen zu müssen. Mit einigen TeilnehmerInnen dieser drei Gruppen nahmen wir auch an einem Turnier für behinderte ReiterInnen teil, das in unserem Zentrum stattfand. Es war nicht möglich, Barone in den Kategorien einzusetzen, bei denen die ReiterInnen selbständig reiten müssen. Er war zu sehr auf mich fixiert und machte ohne meine Präsenz nur das, was ihm gefiel. Aber er war sehr zuverlässig in den Kategorien für geführte ReiterInnen, solange er von mir geführt wurde. Mit mir ging er vorbildlich im Schritt und Trab, hielt auf kleinste Hilfen an und ließ sich gut lenken. Die BesucherInnen dieses Tagesheimes kamen sehr gerne zu unseren „Reitstunden“, da dadurch die übliche Eintönigkeit des Tagesheimalltages unterbrochen wurde. Leider mussten wir dieses Projekt abbrechen, weil der italienische Staat nach etwa einem Jahr die Gelder, die für Menschen mit Behinderungen zur Verfügung standen, stark reduzierte. Forum: Berner - Das Maultier im therapeutischen Reiten mup 1|2019 | 41 Eine Gruppe von Kindern mit diversen Problemen des Vereins „Amici di Elsa“ Dieser Verein war von der engagierten Mutter eines schwer behinderten Kindes gegründet worden. Da die italienische Gesundheitsorganisation nicht sehr viele therapeutische Möglichkeiten zur Förderung behinderter Kinder anbot, engagierte sich diese Mutter, um mit diesem Verein diese Lücke zu füllen. Sie hatte zuvor schon Privatstunden für ihre Tochter bei uns mit Barone genommen und wollte dieses Angebot nun auch den Mitgliedern dieses Vereins ermöglichen Bei den Einheiten mit diesen Kindern war ein ganz anderes Klima spürbar als bei den bisher beschriebenen Projekten. Die Eltern dieser Kinder wünschten nicht nur eine weitere Freizeitbeschäftigung, sondern sie wollten ihre Kinder fördern. Sie waren sehr engagiert, interessierten sich für die Fortschritte, die ihre Kinder machten und auch für die Rolle, die das Pferd / Maultier in diesem Setting spielte. Barone spürte dieses Interesse und war begeistert von seiner Aufgabe. Das wiederum spürten die Kinder. Als eines dieser Kinder etwa zwei Jahre nach Ende des Projektes einen Mitarbeiter sah, der regelmäßig mitgeholfen hatte, war das erste Wort: „Barone? “ An den Namen dieses Betreuers konnte das Kind sich nicht mehr erinnern, aber Barone war fest in der Erinnerung: Das Maultier Barone hatte wohl einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Es kamen einmal wöchentlich etwa zehn Kinder im Alter zwischen 3 und 15 Jahren. Diese Kinder hatten verschiedenste Problematiken: drei Kinder mit Down-Syndrom unterschiedlicher Beeinträchtigungsgrade, zwei Kinder mit einer Autismusspektrumsstörung, mehrere Kinder mit Lern- und Verhaltensauffälligkeiten, Kinder mit geistiger Entwicklungsverzögerung und Kinder mit körperlichen Problemen (Spastiken, Hemiparesen, muskuläre Dystrophie). Die gesunden Geschwister dieser Kinder hatten die Möglichkeit, an den Aktivitäten mit den Pferden / Maultier teilzunehmen. Mit den Kindern, die selbständig laufen konnten, begannen wir mit dem Voltigieren. Erste Übungen erlernten die Kinder auf dem Holzpferd, und dann war Barone wieder gefragt. Die ersten Erfahrungen auf Barone ließ ich die Kinder machen, indem ich ihn ganz normal führte. Nach und nach vergrößerte ich den Abstand zwischen Barone und mir, bis ich mich in der Mitte des Longierzirkels befand und Barone um mich herum seine Kreise zog. Das Voltigieren mit diesen Kindern machte Barone offensichtlich Spaß. Die meiste Zeit ging es im Schritt, ab und zu mal etwas Trab und selten ein paar Galoppsprünge. Wir machten auch Übungen zu zweit und zu dritt, da die Kinder mehrheitlich sehr leicht waren. Bei den individuellen Übungen stand im Vordergrund, die körperliche Geschicklichkeit, die Koordination und das Gleichgewicht zu schulen. Vielen Kindern fiel es anfangs schwer, sich auf den gleichmäßigen Rhythmus der Schrittbewegung einzulassen und diese harmonisch mitzumachen. Im Trab war ein immer wiederkehrendes Thema die Angst: Angst zugeben, Angst akzeptieren und unter bestimmten Bedingungen Angst auch überwinden. Bei Übungen mit zwei Kindern auf Barone ging es dann viel mehr um die Interaktion der beiden Kinder: Sich einigen auf den Ablauf der Übung, sich gegenseitig vertrauen, sich gegenseitig helfen, Antipathien überwinden waren einige der anfallenden Themen. Höhepunkt für diese Voltigierkinder war der Auftritt auf der kleinen Pferdemesse in Commano (MS). Jedes Kind durfte sich eine Voltigierübung aussuchen, die es vorführen wollte. Es war ein großes Erlebnis für diese Kinder, die sonst meist am Rande der Gesellschaft standen oder die von den anderen oft nur bemitleidet wurden, jetzt im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen und von den Zuschauern bewundert zu werden. Bei den Kindern mit schweren Behinderungen arbeiteten wir mit drei Mitarbeitern, während das Kind auf Barone saß. Ich führte Barone und schlug die Übungen vor, zwei weitere Mitarbeiter 42 | mup 1|2019 Forum: Berner - Das Maultier im therapeutischen Reiten sicherten das Kind rechts und links von Barone. Diese Kinder stiegen von der Aufstiegsrampe aus auf. Barone war an diese Rampe gewöhnt und stand dort geduldig, bis ich ihm das Kommando zum Loslaufen gab. Da das Holzpferd für die Kinder oft nicht attraktiv war, war es schwierig, sie dort auf neue Übungen vorzubereiten. Mit Barone war das anders: Er zog die Kinder an. Wenn sie von der Rampe aus begannen Barone zu streicheln, spürten sie seine Wärme und merkten auch, dass er reagierte. Ich erwähnte schon mehrmals, dass sich Barone nicht gerne von anderen putzen ließ. Neben der Aufsteigerampe war das anscheinend für Barone eine andere Situation. Die Kinder durften ihn streicheln und er genoss das sogar. Um Barone ihre Zuneigung zu zeigen, gaben sie ihm Küsschen auf den Hals - und er war zufrieden. Ein kleines Kind wollte Barone unbedingt auch oral erfahren und lutschte immer wieder an seiner Mähne, was für ihn anscheinend normal war. Mit ängstlichen Kinder, oder bei Kindern mit Gleichgewichtsproblemen oder anderen Schwierigkeiten, sich aufrecht halten zu können, ritt auch ein Erwachsener mit. Dabei kam entweder ein Elternteil in Frage oder, wenn das nicht möglich war, setzte ich mich mit dem Kind auf Barone und Angelika führte, sodass ich mich ganz dem Kind zuwenden konnte. Falls ein Elternteil mit dem Kind auf Barone reiten sollte, bereiteten wir dieses Unternehmen so vor, dass Vater oder Mutter vorher ohne Kind auf Barone üben durften. Dann entschieden wir, ob der Elternteil beim gemeinsamen Reiten dem Kind genügend Sicherheit bieten konnte. Barone arbeitete dabei sehr gut mit. Einsatz der Maultierstute Caramella im Cugnanello (Drogenrehabilitationszentrum) in Radicondoli (SI) Ich habe nicht nur Erfahrungen mit meinem Maultierwallach Barone im therapeutischen Reiten gemacht, sondern hatte außerdem die Möglichkeit, den Einsatz der Maultierstute Caramella im Drogenrehabilitationszentrum Cugnanello mit zu verfolgen. Dieses Zentrum gehörte zu der Schweizer Organisation Pro Juventute und organisierte die Langzeittherapie für junge Schweizer. Diese jungen Menschen hatten zuvor den körperlichen Entzug in einer Klinik gemacht und lernten dann im Cugnanello in der Toskana, weitab ihres bisherigen Umfeldes, mit Hilfe von verschiedenen Therapieprogrammen ein Leben ohne Drogen zu führen. Ein wichtiger Bereich war der Einsatz der Pferde in der Therapie. Auf der einen Seite sollten die Pferde den jungen Menschen helfen, über den Umweg Pferd wieder in Kontakt zu sich selbst zu treten, sich zu akzeptiere und sich zu Abb. 2: Voltigierkinder bei einem Auftritt mit Maultier Barone Abb. 3: Voltigierkinder bei einem Auftritt mit Maultier Barone Forum: Berner - Das Maultier im therapeutischen Reiten mup 1|2019 | 43 spüren. Der zweite große Programmpunkt waren die Wanderritte, die in kleinen Gruppen mit KlientInnen, die schon einige Zeit im Zentrum waren, zweimal im Jahr durchgeführt wurden. Als Vorbereitung darauf wurden vorher zwei Monate lang regelmäßig längere und kürzere Ausritte organisiert. Ich hatte drei Jahre lang in diesem Drogenzentrum im Pferdebereich gearbeitet und sprang nach meinem Ausscheiden bei Mitarbeitermangel ab und zu als Aushilfe ein. Caramella wurde angeschafft, als ich schon nicht mehr im Zentrum arbeitete. Sie kam von einem Händler, der schon mehrmals gute Pferde an das Drogenzentrum verkauft hatte. Kurz nachdem Caramella im Zentrum angekommen war, gab es einen Mitarbeiter- Engpass, sodass ich für zwei Monate als Aushilfe dort arbeitete. Da bekannt war, dass ich schon mit Barone Erfahrungen im Umgang mit Maultieren gesammelt hatte, wurde beschlossen, dass ich mich in diesen zwei Monaten unter anderem um Caramella kümmern sollte und ihr eine Einführung in ihr neues Arbeitsfeld geben sollte. Von den fest angestellten MitarbeiterInnen im Pferdebereich hatte niemand Erfahrungen mit Maultieren. Caramella erwies sich bei unserer ersten Begegnung als etwas schüchterne und verängstige wunderschöne Maultierstute. In den nächsten Tagen gewann sie allerdings schnell Vertrauen zu mir. Die ersten Schwierigkeiten kamen, als ich probierte die Hinterhufe auszukratzen. Anscheinend hatte das noch nie jemand versucht. Bei Berührungen vom Sprunggelenk abwärts schlug sie instinktmäßig aus. Es brauchte einige Zeit, bis sie sich daran gewöhnt hatte, sich überall an der Hinterhand berühren zu lassen und die Hufe zu geben. Beim Reiten hatte sie weniger Probleme. Ihr gefielen die Ausritte gemeinsam mit anderen Pferde, alleine zu arbeiten fiel ihr schwerer, sie wurde aber immer besser und war nach den zwei Monaten sehr zuverlässig geworden. Ein junger ehemaliger Drogenabhängiger bekam sie jetzt als „Pflegepferd“. Zum Therapieprogramm gehörte, dass die jungen Menschen in ihrer mittleren Therapiephase ein Pflegepferd bekamen, für das sie verantwortlich waren, das sie hauptsächlich ritten und mit dem sie dann auf Wanderritt gingen. Da ich weiterhin Kontakt zu einigen MitarbeiterInnen hatte, konnte ich die Weiterentwicklung von Caramella verfolgen. Anfangs ging es ganz gut. Nachdem sie aber mehrmals anderen Personen als „Pflegepferd“ gegeben worden war, wurde sie zunehmend unwillig. Sie wurde schwierig im Umgang und manchmal sogar gefährlich. Sie fing wieder an, beim Hufe auskratzen auszuschlagen, probierte immer wieder beim Putzen zu beißen und ließ sich nicht mehr satteln. Nach zwei Jahren beschlossen die Mitarbeiter, Caramella zu verkaufen. Damit sie nicht zum Schlachter kam, wollte die pferdebegeisterte Mitarbeiterin Ines sie kaufen. Bevor sie aber den Kaufvertrag unterschrieb, nahm sie Kontakt zu mir auf. Sie fragte mich, ob ich mir Caramella ansehen könne, um mir ein Urteil zu bilden, ob es möglich wäre, sie wieder zu korrigieren und wieder zu einem zuverlässigen Maultier zu machen. Außerdem fragte mich Ines, ob ich Zeit und Lust hätte, die Korrektur zu machen. Für mich war das eine Herausforderung, die ich gerne annahm. Aber ich wollte mir erst einen Eindruck über den aktuellen Zustand von Caramella verschaffen. Bei unserem Treffen begegnete mir eine sehr selbstbewusste Maultierstute, Abb. 4: Maultierstute Caramella 44 | mup 1|2019 Forum: Berner - Das Maultier im therapeutischen Reiten die mir neugierig entgegen kam, meine Streicheleinheiten genoss und sich gerne Leckerlis geben ließ. Ich hatte den Eindruck, dass es mir gelingen würde, Caramella wieder zu einem guten Freizeitpartner zu erziehen. Kurze Zeit später ließ Ines Caramella zu mir bringen und ich begann mit der Korrektur. Etwa zweibis dreimal die Woche kam auch Ines, anfangs nur um zu zusehen. Später fing sie an unter meiner Anleitung Caramella zu putzen, zu satteln und zu reiten. Die Korrektur von Caramella ging problemlos. Sie reagierte eben wie ein Maultier, das feste Bezugspersonen brauchte, das logische, klare Hilfen wollte, das klare Anweisungen benötigte und mit Konsequenz behandelt werden wollte. Ines war sehr lernbereit und offen, alle Besonderheiten der Maultiere zu kennen. Nach etwa 2-monatiger Ausbildung bei mir nahm Ines Caramella wieder zu sich. Einige Zeit später kehrte Ines in die Schweiz zurück und nahm Caramella mit. Es schien, dass beide glücklich miteinander waren. Die Probleme, die Caramella im Drogenzentrum hatte, waren meiner Meinung die folgenden: Niemand der PferdebetreuerInnen hatte sich Zeit genommen, sich mit den Besonderheiten der Maultiere auseinanderzusetzen. Caramella wurde behandelt wie ein Pferd. Das geht aber im Allgemeinen nicht gut. Maultiere brauchen meiner Erfahrung nach eine feste Bezugsperson, die ihnen Sicherheit gibt, die ihnen Grenzen setzt, ohne dabei gewalttätig zu werden, und die nicht ständig wechselt. Wenn man ein Maultier im therapeutischen Reiten einsetzten möchte, ist es nach meinen Erfahrungen sehr wichtig, dem Tier eine feste Bezugsperson über Jahre hinweg zu geben, die sich auf seine Besonderheiten einlässt, die sich mit der Andersartigkeit des Maultieres auseinandergesetzt hat und ihm die nötige Orientierung gibt. Weiterhin wäre es wichtig, auf die natürlichen Begabungen und Vorlieben des Maultieres einzugehen. Das Maultier möchte als Partner mitarbeiten, nicht als Untergebener. Wenn man aber auf seine Eigenheiten eingeht, bekommt man einen zuverlässigen Mitarbeiter, den alle schätzen werden. Die Autorin Brigitte Berner diplomierte Sozialpädagogin, Fachkraft für therapeutisches Reiten ANIRE Anschrift Brigitte Berner · Via Fratelli Bandiera, 137 I-53034 Colle Val d’Elsa (Siena) Anahid Klotz