mensch & pferd international
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Forum: Integrative Psychotherapie für Kinder und Jugendliche mit dem "Co-Therapeuten" Pferd
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Nina Bernhart-Preisl
Integrative Psychotherapie für Kinder und Jugendliche arbeitet mit dem Bereitstellen eines Entwicklungsraums, um durch (Re-)Inszenierungen, narrative Interaktionen, kreative Ausdrucksmöglichkeiten sowie funktionales Üben den jungen Patienten beim Umgang mit den Störungen der Selbst- und Interaktionsregulierung (Metzmacher / Zaepfel 2006) zur Seite zu stehen. [...]
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mup 3|2019|115-123|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2019.art14d | 115 Forum Integrative Psychotherapie für Kinder und Jugendliche mit dem „Co-Therapeuten“ Pferd Nina Bernhart-Preisl Integrative Psychotherapie für Kinder und Jugendliche arbeitet mit dem Bereitstellen eines Entwicklungsraums, um durch (Re-)Inszenierungen, narrative Interaktionen, kreative Ausdrucksmöglichkeiten sowie funktionales Üben den jungen Patienten beim Umgang mit den Störungen der Selbst- und Interaktionsregulierung (Metzmacher / Zaepfel 2006) zur Seite zu stehen. Hintenberger (2013) hat für die Integrative Therapie ein breites Spektrum an Interventionsstrategien gesammelt: ■ Kreativer Symbolisierungsraum ■ Aktivierender Ressourcenraum ■ Lustvoller Spielraum ■ Tiefenhermeneutischer Erkundungs- und Erzählraum ■ Safe Place und Beziehungsraum ■ Ko-respondierender Reflexionsraum ■ Funktionaler Übungsraum Nach einer kurzen allgemeinen Einführung werden diese Interventionsstrategien mit den sich bietenden Möglichkeiten mit dem „Co-Therapeuten“ Pferd verknüpft und weiter unten jeweils mit Fallbeispiel dargestellt. Allgemeine Erläuterungen zum Pferd als „Co- Therapeut“ „Der Psychotherapeut verkörpert innerhalb des Interaktionsgeschehens einen Antwortmodus und kommentiert intrapsychische und interaktionelle Phänomene handelnd sowie verbal. So können mit Hilfe kreativer Medien unbewusste, schambesetzte, ‚gefährliche‘ Themen artikuliert, Rollen spielerisch erprobt und szenisch beantwortet werden sowie im Gespräch Rückmeldungen erfolgen“ (Hintenberger 2013, 149). Durch ein leiblich-energetisches „Einschwingen“ begegnen sich Mensch und Pferd und finden, laut Monika Mehlem (2015), eine gemeinsame „Melodie“. In diesem Resonanzraum kann das Pferd unbewusste Anteile des Menschen spiegeln und somit ans Licht bringen. Das Pferd zeigt dem Menschen auch seine Schattenseiten, seine nicht bewussten oder unterdrückten Empfindungen und Botschaften. Es spiegelt sein Innerstes, indem es auf die subtilen leiblichen Reaktionen und Schwingungen des Menschen reagiert. Es kann beispielsweise passieren, dass sich ein Pferd von einer sehr freundlich wirkenden Person nur ungern anfassen lässt, weil es die tieferen Spannungen oder Aggressionen spürt (etwa depressive Anteile). Umgekehrt kann dasselbe Pferd einem scheinbar aggressiven oder angespannten Menschen freundlich begegnen und damit auf dessen tiefe Verunsicherung oder ehrliche Bedürftigkeit antworten. Durch diese spiegelnde „Aufdeckung“ durch das Pferd haben die PatientIn und die TherapeutIn die Chance, diese bisher abgespaltenen, nicht bewussten Anteile zu erkennen und zu bearbeiten. 116 | mup 3|2019 Forum: Bernhart-Preisl - Integrative Psychotherapie für Kinder und Jugendliche Pferde bieten einen wunderbar spielerischen Zugang zu nicht bewussten, verdrängten Themen. Viele Patienten finden den Zugang über die vermeintlichen Schwächen der Pferde und durch das Zur-Sprache-Bringen des Therapeuten zu ihren eigenen. Meist beginnt es bei der Beobachtung von Pferden auf der Weide, z. B. beim Erkennen eines Außenseiters oder der unglaublichen Gier der Pferde, ihrer Aggressivität oder der Frage, wer der „Chef“, bzw. der Niedrigste der Gruppe ist usw. Meist fallen den PatientInnen bei der Beobachtung der freien Pferde auf der Koppel die Dinge auf, die auch in ihrem persönlichen Alltag gerade ein wichtiges Thema sind. Pferde bieten sich so als Projektionsfläche für Konflikte der PatientInnen an (Scheidhacker 1994; Scheidhacker / Strausfeld 1994). Hanneder (2007) beschreibt, dass der Therapeut durch gezieltes Nachfragen über die Vermutungen der Patienten das aktuelle Thema zur Entfaltung bringen kann - wobei die emotionale Beteiligung ansteigt, auch wenn die Patienten vordergründig nur über die Pferde sprechen und nicht über sich selbst. Pferde können bei vielen Menschen Beziehungswünsche und -ängste wecken. Der Wunsch, als besonders wahrgenommen zu werden, aber auch all die Ängste und negativen Erfahrungen aus Beziehungen werden im Kontakt aktiviert. Hanneder schreibt über Patientenaussagen wie zum Beispiel „Das Pferd wird mich sowieso nicht wahrnehmen.“ „Es wird sich mit mir langweilen und sich abwenden.“ „Ich bin ihm eine Last, es wird unter mir zusammenbrechen.“ Wenn die PatientIn im intersubjektiven Kontakt wahrgenommen wird und wir gemeinsam nach Ideen und Vermutungen über Zusammenhänge nachdenken, gewinnen wir ein anschauliches und differenziertes Bild vom Selbst- und Beziehungskonzept unserer Patienten. Tiergestützt umgesetzte Interventionsstrategien der Integrativen Therapie Kreativer Symbolisierungsraum Den Kindern und Jugendlichen soll ermöglicht werden, einen (sinn)verstehenden Zugang zu ihrer Lebensgeschichte und zu problembehafteten Alltagssituationen zu bekommen. Symbolisierungen ermöglichen exzentrische Positionen, einen sogenannten „ExpertInnenblick“ für sich und die eigene Situation zu bekommen. Die Aufgabe der TherapeutIn ist Unterstützung, fragmentiertes Wissen sinnverstehend einzuordnen, bildlich darzustellen und eine gemeinsame Erkundungsreise zu ermöglichen (Hintenberger 2013, 149). Scheidhacker (1995) berichtet in ihrem Vortrag in Haar, dass zum Beziehungsaspekt der psychotherapeutischen Arbeit mit dem Pferd die Gebundenheit an die Gegenwart gehört. Vergangenheit hat für sie nur insoweit Bedeutung, als Abb. 1: Den gemeinsamen Weg beschreiten Forum: Bernhart-Preisl - Integrative Psychotherapie für Kinder und Jugendliche mup 3|2019 | 117 dass sie durch Wiederholung und Konditionierung auf das individuelle Verhalten Einfluss hat. Pferde können nicht intellektuell, im Sinne einer theoretischen Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft lernen. Es existieren nur instinktive Handlungen und Triebe zur Erhaltung der Art, die für die nahe Zukunft Bedeutung haben, wie etwa der Fluchtinstinkt. „Daher reagiert das Pferd in jeder Beziehung situationsgebunden, im Hier und Jetzt, ohne Erwägung der Folgen seines Handelns für die Zukunft. Die unmittelbaren Reaktionen des Pferdes auf das Beziehungsangebot des Menschen können so als Spiegel für die aktuelle emotionale Stimmigkeit des jeweiligen Menschen gesehen werden. Reagiert ein normalerweise freundliches Pferd auf einen Menschen abweisend, kann dies ein Appell für diesen Menschen sein, seine Annäherungsart zu überprüfen. Es kann aber auch für den beobachtenden Therapeuten ein Hinweis sein, dass dieser Mensch sich fassadenhaft und unecht verhält und unterschwellige Aggressionen oder Ängste, die der Therapeut vielleicht noch nicht wahrgenommen hat, im Kontakt eine Rolle spielen. Neben den Erfahrungen für Patienten sind also auch diagnostische Hinweise für den Therapeuten aus den Reaktionen des Pferdes wichtig“ (Scheidhacker 1995, 25). Hierzu kann ich ein Beispiel aus der eigenen Praxis anführen: Eine jugendliche Patientin, die sich selbst als kooperativ, nett, zuvorkommend und niemals aggressiv beschreibt, ging in unseren Offenstall, um mit einem Pferd zu arbeiten. Sie meinte, freundlich und liebevoll auf Celli (Therapiepferd) zugegangen zu sein, und wunderte sich, warum sich das Pferd von ihr abwendete. Sie wiederholte das Beziehungsangebot, was es aber nicht besser machte: Das Pferd drohte an, sie zu treten, falls sie es erneut probieren würde. Das Pferd wollte offensichtlich seine Ruhe haben und die Patientin hatte Cellis Grenzen nicht wahrnehmen wollen. Die Jugendliche wurde sehr wütend und begann, auf das „blöde Pferd“ zu schimpfen. Im anschließenden Gespräch und vielen weiteren Sitzungen wurde deutlich, dass hinter ihrer liebevollen Fassade unglaubliche Aggression steckte, die sie aber nicht wahrhaben wollte. Ihr bisheriges Selbstbild wurde so in einer kurzen Sequenz mit dem Pferd zunichte gemacht und ermöglichte einen Riesenschritt in ihrem weiteren Therapieprozess. Ich übersetze das Pferdeverhalten und kann gemeinsam mit der Patientin Modifikationen ihres Umgangs finden. Durch das In-Worte-Fassen des Erlebten kann dieses Erlebnis auf zwischenmenschliche Situationen und Beziehungen übertragbar werden. In den weiteren Therapiestunden konnte die Patientin, aufbauend auf dieses Erlebnis, eine „Landschaft“ aufbauen. Einen Lebensweg der Er- Abb. 2: Unterstützung erfahren 118 | mup 3|2019 Forum: Bernhart-Preisl - Integrative Psychotherapie für Kinder und Jugendliche lebnisse, der Ereignisse, die sie und ihr Verhalten geprägt hatten. Sie verbaute dazu den großen Reitplatz mit Hindernisstangen, Planen, Hütchen, Reifen, Schwimmschlangen, Klötzen und vielem mehr. Als sie fertig war, holte sie sich eben dieses Pferd - Celli - aus dem Stall und ging mit ihm, ohne Halfter und Strick, durch ihre Welt. Bei jedem Hindernis verharrte sie und ging in Gedanken zu diesem Ereignis. Das Pferd begleitete sie dabei und zeigte derart berührende Anteilnahme, als könnte es mitfühlen, in welchem Schmerz sie gerade steckte. Er legte seinen Kopf auf ihre Schultern, blies in ihr Gesicht, fing bei den Klötzen an zu scharren, als wollte er sie vergraben,… und schlussendlich, als sie nach dem letzten Hindernis verharrte, legte er sich nieder und blieb zu ihren Füßen liegen. Die Patientin setzte sich zu seinem Kopf und so verharrten die beiden eine wunderbare, „gefühlte Ewigkeit“. Ich selbst war so berührt von dieser Sequenz, niemals hätte ich meine Patientin besser auf diesem Weg begleiten können, als es mein Pferd getan hat. Wir bearbeiteten noch viele weitere Stunden ihre in dieser Stunde erfahrenen und gefühlten Erkenntnisse. Niemals wieder zeigte ein Pferd aggressives Verhalten, wenn diese Patientin in den Offenstall kam. Sie war nun authentisch! Zink (2015) vom Verein e-motion weiß, dass Pferde einen sehr starken Bezug zur Gegenwart, zu ihrem Hier und Jetzt haben. Der Therapeut hingegen befasst sich mit methodischen, therapeutischen Überlegungen und muss laufend die Verbindung zur Vergangenheit und zur Zukunft herstellen. Die Interaktionen, die in der Gegenwart der Therapie mit dem Pferd passiert sind, brauchen eine klare Übersetzung und sicheren Transfer in den Alltag der Patienten. „In diesem Spannungsfeld zwischen Natürlichkeit, Selbstverständlichkeit, Körperlichkeit und Zeitlosigkeit des Pferdes und der Raum-Zeit-Sprache-Planungs-Dimension des Menschen gibt es wertvolle Erkenntnisse zu sammeln“ (Zink 2015, 1). Aktivierender Ressourcenraum „Ressourcenaktivierende Methoden dienen in erster Linie dazu, protektive Faktoren verfügbar zu machen, um pathogene Auswirkungen von belastenden Umweltbedingungen abzumildern. Ressourcenorientiertes Arbeiten zielt auf Ich-Stärkung ab und unterstützt dabei die Fähigkeiten zum Selbstmanagement und zur Selbstberuhigung“ (Hintenberger 2013, 150). Im Umgang mit Pferden und beim Reiten / Voltigieren können auch ungeübte Anfänger rasch Erfolge erzielen: Stallarbeiten erledigen, wie Ausmisten, Füttern, Heu und Stroh führen, Pferden das Halfter anlegen, Führen, Putzen, Aufsteigen, Lenken, Vorwärtstreiben, Hände loslassen beim Reiten, Antraben, Pferde durch einen Bodenarbeit-Parcours führen, es gibt unzählige Fertigkeiten, die ganz schnell zu Fähigkeiten ausgebaut werden können und das Selbstwertgefühl enorm steigern können! Ein Beispiel dazu liefert eine jugendliche Patientin aus meiner Praxis. Sie kam vor einem halben Jahr, direkt nach einem dreimonatigem Klinikaufenthalt, mit schwersten Selbstverletzungen und einem extrem negativen Selbstbild zu mir und den Pferden. Sie konnte auf die Frage, was sie gut könne, was sie an sich gut fände, nichts Positives finden. Sie sei nichts wert, schaffe nichts und sei für alle nur eine große Belastung. Zu Beginn kam sie hochfrequent, 2-3 mal pro Woche, nahm auch in den Ferien an einer therapeutischen Ferienwoche teil und konnte Schritt für Schritt, über die riesengroßen Erfolge in ihrer Arbeit mit den Pferden, ihre hohe Sensibilität, ihre Feinfühligkeit, ihre Selbstwirksamkeit sehen und schätzen lernen. Die Akzeptanz und Übertragung auf den Alltag gelang ihr in ganz kleinen Schritten. Zum Beispiel kann sie sich schon immer öfters über ihr enormes Zeichentalent freuen, traut sich trotz der fürchterlichen Wunden auf ihren Armen, ihr langärmliges Shirt auszuziehen und sich im Sommer kurzärmelig zeigen, ist mittlerweile schon richtig stolz, wenn ich ein gutes Foto von ihr auf Forum: Bernhart-Preisl - Integrative Psychotherapie für Kinder und Jugendliche mup 3|2019 | 119 dem Pferd mache und möchte es ausgedruckt haben. Sie ist auf einem wirklich guten Weg, wobei ihr der Umgang mit den Pferden sehr geholfen hat. Lustvoller Spielraum Winnicott sieht Therapie als Übergangs- und Experimentierraum, in dem ergebnisoffen und zweckfrei gespielt werden kann (Heintz, 2008). Die Ich-stärkende, beziehungsorientierte, haltgebende und auf fördernde Umwelten abzielende Arbeitsweise steht hier im Vordergrund. „Spielen“ wird intrinsisch, situationsbezogen, eingesetzt und handelnd und / oder verbal kommentiert. „Das hohe Maß an Selbstbestimmtheit ermöglicht den Ausstieg aus ritualisierten Alltaganforderungen und dockt an die eigene Kreativität und Phantasie an. In der Möglichkeit, den eigenen Handlungsspielraum zu verlassen, ohne die Konsequenzen des eigenen Handelns tragen zu müssen, liegt ein besonderer Reiz des Spiels“ (Hintenberger 2013, 151). Birgit Heintz (2008) stellt in ihrem Vortrag dar, dass „die Arbeit mit dem Pferd in einer Art „Intermediärem Raum“ (nach Winnicott), einem Übergangsraum stattfindet. Es ist der innere und äußere Raum zwischen dem geschützten Beziehungsraum des Therapiezimmers und der „wirklichen“ Welt - noch im Schutz der therapeutischen Beziehung, aber schon außerhalb der Grenzen des Praxiszimmers. In der Arbeit mit dem Pferd befinden wir uns nicht mehr in der „Als-ob-Situation“ und im magisch-symbolischen Raum des Spiels. Das Pferd ist wirklich und es reagiert seiner Natur gemäß als Flucht- und Herdentier“ (Heintz 2008, 1). Dieser geschützte Beziehungs- und Begegnungsraum zwischen der Triade PatientIn, Pferd und PsychotherapeutIn ist geeignet, die zuvor im Spiel neu gewonnenen, zugänglich gewordenen Erkenntnisse und Möglichkeiten von der Potenzialität in die Aktualität, ins Leben zu transferieren. Ein passendes Beispiel hierfür ist der Nebeneffekt der Tiergestützten Therapie, das Reiten / Voltigieren lernen, ins Gelände ausreiten gehen, im Stall arbeiten. Hier rutscht schon ganz einfach, ohne großen Aufwand ein ganz gewaltiges Stück „wirkliche Welt“ in den therapeutisch geschützten Rahmen, die je nach PatientIn, aktuellem Thema und Situation von der TherapeutIn sehr gut dosiert werden kann. Sehr häufig wechseln die PatientInnen, die von der Pferdegestützten Therapie sehr profitiert haben, nach Abschluss der Therapie in das Reiten als Freizeitbeschäftigung bzw. Sport. Eine jugendliche Patientin, die ihre Therapie bereits abgeschlossen hatte, hat mir erzählt, dass sie darin immer noch eine Portion Nachklang empfinden kann, wenn sie in trauter Zweisamkeit innig ihr Pferd herrichtet und abseits vom sportlichen Training die Pferde auf der Weide beobachten kann. Sie nutzt den spielerischen Raum immer noch - jetzt selbstgesteuert! Tiefenhermeneutischer Erkundungs- und Erzählraum Sprache bietet die Möglichkeit, soziales Geschehen als Geschichte und Text einzufangen. Kreativer Ausdruck in Form von Abb. 3: Gemeinsame Zeit 120 | mup 3|2019 Forum: Bernhart-Preisl - Integrative Psychotherapie für Kinder und Jugendliche bildhaften Zeichen, Malen, Tanzen und Bewegung sind weitere Möglichkeiten, die innere und äußere (Erlebens-)Welt zu beschreiben. Petzold / Sieper (1993) versteht unter Narrationen die verbalen und in Szene gesetzten Texte und Geschichten des eigenen Lebens. Die KlientInnen werden so im Fluss der Zeit zu AutorInnen ihrer Lebensgeschichte innerhalb eines gegebenen Kontextes und einer Erzählgemeinschaft. Im geschützten Rahmen der Therapie können Symbolisierungen gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen dechiffriert und in einen neuen Sinnzusammenhang gesetzt werden (Hintenberger 2013, 151). Ein Beispiel aus meiner Praxis: Ein 10-jähriger Bub kommt nahezu jede Woche mit einem Traum in die Stunde. Er verpackt seine Lebensgeschichte, seine Sorgen, Ängste, Aussagen der Eltern oder der Lehrerin in Träume „mit seinem Pferd“ Zwergi. Manchmal stellt er in der Therapieeinheit die Träume mit Hindernismaterialien, Klötzen, Hütchen, Heuballen, Planen etc. dar, geht mit Zwergi real nochmal durch seine Geschichte und erzählt mir dabei alle Einzelheiten seiner Träume. Ein anderes Mal schrieben wir seine Geschichte auf. Während er auf dem blanken Pferderücken lag, diktierte er mir seinen Traum. Daraus entstand eine Art Therapietagebuch. Wir gestalteten das Heft mit Fotos von ihm und Zwergi und er schreibt weiterhin sehr regelmäßig seine Gedanken auf. An manchen Tagen kommt er, setzt sich auf die Koppel und beginnt den Pferden auf der Weide seine letzten Einträge vorzulesen. Safe Place und Beziehungsraum Der therapeutische Schutzraum eröffnet die Möglichkeit, die eigenen Narrationen und Narrative im Spiel konstruktiv umzusetzen, sie zu inszenieren oder auch in Frage zu stellen, ohne zunächst reale Konsequenzen fürchten zu müssen (Katz-Bernstein 2010). Aufgrund bestimmter schwerwiegender Lebensereignisse brauchen einige Kinder und Jugendliche einen besonderen Schutzraum. Ziel des „Safe Place“ ist dabei zunächst einmal ein verlässliches und reales Beziehungssetting: klare, geschützte räumliche und zeitliche Strukturen mit überschaubarer Komplexität. Zuerst wird ein „Raum im Therapieraum“ real aufgebaut. Von diesem „Safe Place“, dem Möglichkeitsraum für gute Erfahrungen, dem „Freiraum der individuellen Weiterentwicklung“ (Katz- Bernstein 2010, 71), der durch gute und erprobte Grenzen umrahmt ist und so Sicherheit bietet, kann die Entdeckungsreise in andere Lebensweltbereiche beginnen (Hintenberger 2013, 152). Der reale, äußere Raum des „Safe Place“ ist im Rahmen der Pferdegestützten Psychotherapie der Stall, der Putzplatz oder der Reitplatz. Er Abb. 4: Safe Place Forum: Bernhart-Preisl - Integrative Psychotherapie für Kinder und Jugendliche mup 3|2019 | 121 ist als Platz der Geborgenheit zu sehen. Es ist das „facilitating environment‘‘ von Winnicott, welches innigen Kontakt, gute Begegnung und echte Beziehung im therapeutischen Prozess mit dem Pferd ermöglicht. Die sogenannte „holding person“ (Petzold / Sieper 1993), die den therapeutischen, auch den reittherapeutischen Prozess voranträgt, ist in diesem Falle die PsychotherapeutIn und ihr „Co-Therapeut“, das Pferd. Es nimmt den Menschen so an, wie er ist, hat keine Vorurteile, reagiert nicht mit Vorwürfen über vergangene Taten … Gerade wenn die PatientIn diesen gebotenen Rahmen als „Safe Place“ nehmen kann, ist ein „Nachnähren“, wie die Integrative Therapie es für so besonders wichtig hält, erst möglich. Marianne Gäng beschreibt in ihrem Vortrag, dass wenn das „Safe Place“ Konzept aufgeht, sehr effektvolles Nachnähren vonstattengehen kann. Nachnähren im Sinne von Getragenwerden, also ein Nacherleben von frühkindlicher Geborgenheit und von Leiblichkeit. „Ich werde getragen, also bin ich“, „Ich fühle, also bin ich.“ Nachnähren, als „Selbst-Erleben“ von Urheberschaft und damit von Selbstbewusstsein. „Ich habe das Pferd gesteuert.“ (Gäng 2013) Des Weiteren passt an dieser Stelle - bezogen auf Winnicott (1969) - das Pferd als „Übergangsobjekt“, bzw. „Übergangsphänomen“. Nach Levinson (1972) können lebende Haustiere über das Streicheln auch zu Übergangsobjekten werden, wenn die PatientIn aufgrund der entsprechenden Bindungserfahrungen in der Mutter-Kind-Beziehung mit warmen, weichen Berührungen ein Gefühl von Sicherheit verbindet. Tiere können hier als Quelle von Sicherheit und angenehmen Empfindungen eine Brücke zwischen Therapie und Außenwelt schlagen (Schubenz et al. 1993). In der Therapie mit dem Pferd ist laut Hanneder (2007) eine ähnliche Stellung des Pferdes in Zusammenhang mit Individuationsprozessen vorstellbar. Voraussetzung ist auch hier zunächst, dass sich eine stabile therapeutische Beziehung zwischen TherapeutIn und PatientIn aufgebaut hat, in der die PatientIn positive Beziehungserfahrungen machen konnte. „Die internalisierten Vorstellungen von Bindungssicherheit können dann von den PatientInnen auf das Pferd übertragen werden - dort finden sie übergangsweise Geborgenheit, Schutz und Nähe. Die Beziehung zwischen der PatientIn und dem Pferd befindet sich hier an der Schwelle zwischen Realität und Phantasie.“ Weiterhin beschreibt Hanneder, dass davon auszugehen ist, dass wenn die TherapeutIn das Pferd sehr wertschätzt, die Funktion eines Übergangsobjektes vom Pferd, sozusagen als „Teil der TherapeutIn“, im Sinne einer emotionalen Verlängerung erfüllen kann. Das „Übergangsobjekt Pferd“ kann also erst durch die gute therapeutische Beziehung wirksam werden. Das kann ich aus meiner Praxis bestätigen. Die jungen Patientinnen und Patienten beschreiben immer wieder auf eindrucksvolle Weise, wie sehr sie sich in Gedanken „ihr“ Pferd holen und es ihnen dann durch schwierige Situationen durchhilft, denn diese nährenden Erlebnisse prägen die Beziehung zu einem erheblichen Faktor! Ko-respondierender Reflexionsraum Nach gut aufgebauter Vertrauensbeziehung genießen Kinder und Jugendliche oft die Möglichkeit, mit einer außenstehenden Person ihre Gedanken- und Gefühlswelt zu teilen, einzuordnen, andere Positionen zu hören, neue Situationsbewertungen vornehmen zu können und ihre eigenen Erfahrungen zu reflektieren (Hintenberger 2013, 153). Ein Beispiel aus meiner Praxis dazu wäre ein 9-jähriger Bub, der seit eineinhalb Jahren regelmäßig zu mir kommt. Wir reiten mittlerweile gemeinsam aus - auf gleicher Augenhöhe, erhöht durch die Größe der Pferde, mit einem sehr hohen leiblichen Wohlbefinden, da wir vom Pferd sicher getragen und geschaukelt werden. Unter sich spürt er das weiche, warme Fell (er reitet am liebsten nur mit einem Gurt, um den blanken Pferderücken unter sich zu spüren), rundum von 122 | mup 3|2019 Forum: Bernhart-Preisl - Integrative Psychotherapie für Kinder und Jugendliche der Natur aufgenommen, wo nicht einmal ein Reh davonläuft, da der Pferdegeruch den menschlichen übertüncht und uns zu einer Einheit mit der Natur werden lässt. Die Zügel fest im Griff, reflektieren wir seine Erlebnisse, schwierige Situationen, seine Handlungen. Wenn ich ihn beim Pferdeholen oder -putzen frage, wie es ihm gehe, über was er heute sprechen möchte, sagt er mit einer Regelmäßigkeit: „Das erzähl ich dir, wenn ich auf Zwergi sitz! “ Er fühlt sich in dieser wohligen, warmen, wiegenden, nährenden Situation um so vieles sicherer und kann so über sich hinauswachsen und reflektierend auf sein Leben schauen. Erstaunlich für einen Neunjährigen! Funktionaler Übungsraum Hintenberger (2013) beschreibt, dass das Üben in einem geschützten Raum von essentieller Wichtigkeit für den Übertrag des Therapieerfolges in den Alltag ist. „Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen dient auch dazu, in einer geschützten Umgebung Neues auszuprobieren und einzuüben. So werden zum Beispiel in Rollenspielen Alltagssituationen vorweggenommen, bei Angststörungen Konfrontationen in vivo und in sensu durchgeführt sowie bewegungstherapeutische Interventionen zur Stärkung der (inneren und äußeren) Standfestigkeit eingesetzt.“ (Hintenberger 2013, 154). Die klar strukturierten Übungsanleitungen geben Halt und Sicherheit. Ein Beispiel dazu aus meiner Praxis: Ein 12-jähriges Mädchen mit selektivem Mutismus kommt regelmäßig zu den Pferden und mir. Den größten Therapieschritt hat sie erreicht, als ich begonnen habe, ihr Bodenarbeit mit den Pferden anzubieten. Das sind sozusagen „Führübungen“, wie etwa das Pferd durch die eigene Körpersprache zu lenken, über oder unter Hindernissen durchzuführen, das Tempo zu verändern etc. Die leibliche Erfahrung, durch den eigenen Einsatz Einfluss nehmen zu können, hinterlässt gewaltige Spuren im Selbstbild. „Schau Nina, Pinki folgt mir, egal wo ich hingehe, er vertraut mir! “ Wenn „Pinki“ zögert, da er vor einem Hindernis offensichtlich Angst hat, schafft es das Mädchen mit so viel Überzeugungskraft und liebevoller Zuwendung, in ihrer Körpersprache so klar zu werden, dass sie das große, 600 kg schwere Tier bewegen kann, trotz Angst, über z. B. eine Plane zu gehen! Das ist gelebte, erfahrene und auf den Alltag übertragbare Selbstwirksamkeit! In der therapeutischen Beobachterrolle kann dem Therapeuten sehr viel über die Interaktion zwischen Patient und Pferd deutlich werden. Projektions- und Identifikationsprozesse geben hier prozessual-diagnostisch immer wieder Aufschluss und können im weiteren Therapieverlauf aufgegriffen werden. In einem später erscheinenden zweiten Teil möchte ich gerne einen kleinen Einblick in das spezifische Krankheitsbild der Zwangsstörung geben und wie ich mit den Pferden als „Co-Therapeuten“ Interventionen setze, um den Heilungsprozess zu unterstützen. Literatur ■ Gäng, M. (2013): Reittherapie - eine andere Art von Kindertherapie? ! In: http: / / www.ponyhofamlauterbach.de/ vortraege/ luxemburg.pdf, 30.7.2015 ■ Hanneder, S. (2007): Psychotherapie mit dem Medium Pferd. In: http: / / pferdeprojekt. weebly.com/ uploads/ 1/ 0/ 4/ 3/ 10430942/ artikel_hanneder_-_pt_mit_dem_medium_pferd.pdf, 15.3.2015 ■ Heintz, B. (2008): Erziehung und Entwicklungsförderung oder Psychotherapie seelischer Erkrankung? Versuch einer wertschätzenden Unterscheidung von heilpädagogischer und psychotherapeutischer Arbeit mit dem Pferd - Überarbeitete Fassung des Vortrags vom 12.04.08 in Wien (Internationaler Kongress „Mensch und Pferd im Dialog“). In: http: / / www.psyche-undpferd.de/ VortragWien.htm, 15.3.2015 ■ Hintenberger, G. (2013): Integrative Therapie mit Jugendlichen. In: Reichel, R.; Hintenberger, G. (Hrsg.): Die Praxis der Integrativen Therapie. Österreichische Perspektiven. Facultas, Wien, 144-155 ■ Katz-Bernstein, N. (2010): Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie. Psychotherapie Forum: Bernhart-Preisl - Integrative Psychotherapie für Kinder und Jugendliche mup 3|2019 | 123 im Spannungsfeld mit Schule und Elternhaus. Vernetzte Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie - Was wird gebraucht? Psychotherapie Forum 18, 67-73, https: / / doi.org/ 10.1007/ s00729-010-0321-2 ■ Levinson, B. (1972): Pets and Human Development. Thomas, Springfield / Illinois ■ Mehlem, M. (2015): Phänomene der Spiegelung und Resonanz in der körperpsychotherapeutischen Arbeit mit Menschen und Pferden. In: Seminarunterlagen zum Lehrgang Körperorientierte Psychotherapie mit Pferden in Linz-Ebelsberg. ■ Metzmacher, B., Zaepfel, H.: (2006): Integrative Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. In: Resch, F.; Schulte-Markwort, M (Hrsg.): Kursbuch für integrative Kinder- und Jugendpsychotherapie. Schwerpunkt: Psyche und Soma. Beltz, Weinheim, 74-82 ■ Petzold, H., Sieper, J. (1993): Integration und Kreation. Bd.1. Junfermann, Paderborn ■ Scheidhacker, M. (1995): Das Pferd - reales Beziehungsobjekt und archetypisches Symbol. In: Deutsches Kuratorium für therapeutisches Reiten (Hrsg.): Freiheit erfahren. Grenzen erkennen. Über die Integration von Polaritäten mit Hilfe des Pferdes, Tagungsband der 3. Interdisziplinären Arbeitstagung des DKThR „Die Arbeit mit dem Pferd in Psychiatrie und Psychotherapie“ Internationale Fachtagung. 12.-13. Oktober 1995 im Bezirkskrankenhaus bei München ■ Scheidhacker, M., Strausfeld, P. (1994): Die Arbeit mit freilaufenden Pferden. In: Deutsches Kuratorium für Therapeutisches Reiten (Hrsg.): Die Bedeutung des Pferdes in den verschiedenen therapeutischen und pädagogischen Schulen. Kompendium der 2. interdisziplinären Arbeitstagung des Deutschen Kuratoriums für Therapeutisches Reiten. 9.-10. September 1994 an der FU Berlin, 61-63 ■ Schubenz, S., Aland, E., Schopp, T. (1993): Das Konzept der Übergangsobjekte und Übergangsphänomene in der Theorie von D. W. Winnicott, seine Weiterentwicklung und Anwendung auf das Pferd als Medium in der psychologischen Therapie mit Kindern. Praxisreport Psychologische Therapie & Psychotherapie 1, 31-44 ■ Winnicott, D. (1969): Übergangsobjekte und Übergangsphänomene, Psyche 23, 666-682 ■ Zink, Roswitha (2015): Pferde sprechen mit! ? Zwischen den Welten von Pferd und Mensch. Einblicke in die Ergebnisse der Verhaltensforschung zum Ausdrucksverhalten von Pferden. In: http: / / www.pferd-emotion.at/ index.php? article_id=52, 30.7.2015 Die Autorin Mag. Dipl.päd. Nina Bernhart-Preisl, MSc Psychotherapeutin (Integrative Therapie), Psychotherapeutin für Kinder & Jugendliche, Sonder- & Heilpädagogin, Sonderschul- und Beratungslehrerin, Therapeutin für Heilpädagogisches Reiten / Voltigieren, Integratives Reiten, Zusatzqualifikation Motopädagogik, -geragogik, Sensorische Integration Anschrift Nina Bernhart-Preisl · Tullnerstraße 18 · A-3424 Zeiselmauer nina.bernhart@aon.at · www.therapie-bernhart.com
