eJournals mensch & pferd international 11/4

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2019
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Sexueller Kindesmissbrauch

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2019
Elsa Gewehr
Marie Merschhemke
Simone Pülschen
Durch das im Rahmen therapeutischer oder pädagogischer Interventionen häufig entstehende Vertrauensverhältnis können Fachkräfte zu wichtigen Ansprechpersonen für Kinder werden, die in ihrem sonstigen sozialen oder familiären Umfeld wenig Unterstützung erfahren. So ist möglich, dass Kinder sich einer Fachkraft anvertrauen und ihr von einem aversiven Ereignis, etwa einem sexuellen Missbrauch, erzählen. Ebenso kann eine Fachkraft einen entsprechenden Vorfall vermuten und diesen in einem Gespräch mit dem Kind abklären wollen. Der vorliegende Beitrag möchte zum Führen solcher Gespräche motivieren und gleichzeitig über die Risiken informieren, die aus einer voreingenommenen Gesprächsführung entstehen können. Für das konkrete Handeln im Verdachtsfall werden die Prinzipien unterstützender, ergebnisoffener Gesprächsführung erläutert sowie über die wichtigsten rechtlichen Rahmenbedingungen informiert.
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162 | mup 4|2019|162-169|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2019.art20d Elsa Gewehr, Marie Merschhemke, Simone Pülschen Durch das im Rahmen therapeutischer oder pädagogischer Interventionen häufig entstehende Vertrauensverhältnis können Fachkräfte zu wichtigen Ansprechpersonen für Kinder werden, die in ihrem sonstigen sozialen oder familiären Umfeld wenig Unterstützung erfahren. So ist möglich, dass Kinder sich einer Fachkraft anvertrauen und ihr von einem aversiven Ereignis, etwa einem sexuellen Missbrauch, erzählen. Ebenso kann eine Fachkraft einen entsprechenden Vorfall vermuten und diesen in einem Gespräch mit dem Kind abklären wollen. Der vorliegende Beitrag möchte zum Führen solcher Gespräche motivieren und gleichzeitig über die Risiken informieren, die aus einer voreingenommenen Gesprächsführung entstehen können. Für das konkrete Handeln im Verdachtsfall werden die Prinzipien unterstützender, ergebnisoffener Gesprächsführung erläutert sowie über die wichtigsten rechtlichen Rahmenbedingungen informiert. Schlüsselbegriffe: sexueller Kindesmissbrauch, sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, Kindeswohlgefährdung, Gesprächsführung Gespräche mit Kindern im Verdachtsfall Sexueller Kindesmissbrauch Gewehr, Merschhemke, Pülschen - Sexueller Kindesmissbrauch mup 4|2019 | 163 Aufbauend auf dem vorangegangenen Beitrag von Merschhemke und Pülschen (2019), in dem Häufigkeiten und Auftretensformen sexuellen Kindesmissbrauchs sowie die Offenbarungsprozesse von Kindern gegenüber Erwachsenen diskutiert wurden, befasst sich der vorliegende Beitrag mit konkreten Handlungsschritten im Verdachtsfall. Wie sollte eine Fachkraft für pferdgestützte Interventionen sich verhalten, wenn sie bei einem Kind einen Vorfall sexuellen Kindesmissbrauchs oder eine andere Kindeswohlgefährdung vermutet? Was darf, kann oder muss sie in einem solchen Verdachtsfall tun und worauf sollte im Gespräch mit einem Kind besonders geachtet werden? Nach einer Einführung in die rechtlichen Rahmenbedingungen werden Empfehlungen für entwicklungs- und situationsgerechte Gespräche mit Kindern zur Abklärung eines solchen Verdachtsfalls erläutert. Obgleich dieser Beitrag sich auf Verdachtsmomente zu sexuellem Kindesmissbrauch bezieht, gelten alle Empfehlungen gleichermaßen für die Abklärung anderer Formen von Kindeswohlgefährdung. Rechtliche Aspekte für das Handeln im Verdachtsfall Die Kenntnis rechtlicher Vorgaben und möglicher Hilfsangebote stellt eine wichtige Voraussetzung für situationsangemessenes Handeln in einem Verdachtsfall sexuellen Missbrauchs dar und sollte notwendiger Bestandteil der Ausbildung pädagogischer Fachkräfte sein. Obwohl dies noch nicht überall der Fall ist, hat das Thema bei der Ausbildung von Berufsgruppen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, an Bedeutung gewonnen (Bienstein et al. 2019, 212). Diese unterliegen nicht selten der beruflichen Schweigepflicht, wodurch Informationen nur mit der Einwilligung des Kindes und der sorgeberechtigten Person weitergegeben werden dürfen. § 34 StGB ermöglicht jedoch den Bruch der Schweigepflicht, wenn die seelische oder körperliche Integrität eines Kindes als gefährdet angesehen wird. Das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz, § 4 KKG, gibt bestimmten staatlich anerkannten Berufsgruppen, die mit Kindern arbeiten, darüber hinaus ein schrittweises Vorgehen bei einem Verdacht auf sexuellen Missbrauch vor. Viele dieser Berufsgruppen sind auch unter Fachkräften pferdgestützter Interventionen zu finden, wie bspw. Ärztinnen oder Ärzte, Angehörige eines anderen Heilberufes, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert, Berufspsychologinnen oder -psychologen mit staatlich anerkannter wissenschaftlicher Abschlussprüfung, staatlich anerkannte Sozialarbeiterinnen oder -arbeiter oder staatlich anerkannte Sozialpädagoginnen oder -pädagogen und auch Lehrerinnen oder Lehrer an öffentlichen und an staatlich anerkannten privaten Schulen. Auch Fachkräften, die nicht zu diesen Berufsgruppen gehören, kann das folgend beschriebene Vorgehen nach § 4 KKG empfohlen werden: Nach § 4 KKG haben die dort unter Absatz 1 genannten Berufsgruppen zur Einschätzung der Kindeswohlgefährdung gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe einen Anspruch auf Beratung durch eine sogenannte „Insoweit erfahrene Fachkraft“. Diese unterstützt und berät bei der Gefährdungseinschätzung und ggf. bei der Auswahl und Überprüfung geeigneter Wege zur Abwehr einer Gefährdung. Auch über die Hilfeportale der Bundesregierung finden Fachkräfte online Ansprechpersonen in ihrer unmittelbaren Nähe (siehe Informationen im Kasten). Zur Einschätzung der Gefährdung dürfen Informationen für eine Beratung weitergegeben werden, allerdings sieht das Gesetz in diesem Fall eine Pseudonymisierung vor. Es ist vorgesehen, dass die Situation zunächst in einem Gespräch mit dem Kind und den sorgeberechtigten Personen Die Abklärung einer Kindeswohlgefährdung beginnt mit einem Gespräch mit dem Kind. 164 | mup 4|2019 Gewehr, Merschhemke, Pülschen - Sexueller Kindesmissbrauch erörtert und auf die Inanspruchnahme von Hilfen hingewirkt werden soll. Dies trifft nicht zu, wenn dadurch der wirksame Schutz des Kindes infrage gestellt wird, beispielsweise wenn sich der Verdacht gegen eine sorgeberechtigte Person richtet. Sollten die oben genannten Schritte erfolglos bleiben oder den wirksamen Schutz des Kindes infrage stellen, befugt das Gesetz zur Weitergabe aller erforderlichen Informationen an das Jugendamt. Zusätzlich zu den gesetzlich vorgegebenen Maßnahmen können Fachkräfte in einem Verdachtsfall von sexuellem Kindesmissbrauch auf verschiedene Weise zu einer professionellen und besonnenen Aufklärung der Situation beitragen. Es ist wichtig zu beachten, dass jeder Fall individuell behandelt werden muss und es keinen festgelegten und allgemein gültigen Ablauf für den Umgang mit einem Verdachtsfall gibt (Allroggen et al. 2018, 44). Fachkräfte, die in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit Hinweise auf einen Fall von sexuellem Kindesmissbrauch wahrnehmen, sollten das Verhalten des Kindes zunächst genau beobachten und Verhaltensauffälligkeiten festhalten. Hierbei ist eine präzise Dokumentation hilfreich. Relevante Aussagen des Kindes sollten, wenn möglich, wortwörtlich dokumentiert werden. Um Verhaltensweisen und / oder Aussagen eines Kindes richtig einordnen zu können, sollte die Dokumentation der Beobachtungen stets mit einer Darstellung des Kontextes und der Situation einhergehen (Goldbeck 2015, 150). Solche Beobachtungen können sowohl in einem Gespräch mit dem Kind als auch für die Angaben gegenüber den Strafverfolgungsbehörden genutzt werden. Bevor weitere Schritte unternommen werden, ist die Beratung mit der sog. insoweit erfahrenen Fachkraft zu empfehlen. Gespräche mit Kindern im Verdachtsfall Verdachtsfälle sexuellen Missbrauchs können am besten im direkten Gespräch mit dem betroffenen Kind abgeklärt werden. Solche Gespräche entstehen prinzipiell in zwei Konstellationen: Ein Kind kann sich von sich aus an eine Fachkraft wenden und von einem Erlebnis berichten oder eine Fachkraft kann zur Abklärung eines eigenen Verdachts ein Gespräch mit einem Kind initiieren (Volbert 2015). In beiden Konstellationen gilt: Ziel des Gesprächs sollte es sein, das Kind darin zu unterstützen, frei berichten zu können, ohne dass dabei Vorgaben oder Erwartungen der Fachkraft den Gesprächsausgang beeinflussen. Um auf eine solche Situation vorbereitet zu sein, ist es hilfreich, sich sowohl mit Techniken zur Unterstützung von Kindern in Offenbarungssituationen als auch mit Techniken zur Vermeidung bewusster oder unbewusster Beeinflussungen - sogenannter suggestiver Prozesse - vertraut zu machen. Beide werden im Folgenden kurz dargestellt. Zusätzliche Besonderheiten von Gesprächen, die durch eine Fachkraft initiiert werden, werden im Anschluss diskutiert. Generell empfiehlt sich in jedem Gespräch über einen potenziellen sexuellen Missbrauch Das Hilfeportal zum Themenbereich sexueller Missbrauch der Bundesregierung ist über die folgende Homepage zu erreichen: https: / / www.hilfeportal-missbrauch.de/ startseite.html Dort finden Fachkräfte auch eine Suchmaske für Ansprechpersonen in ihrer Nähe (z. B. insoweit erfahrene Fachkraft, Jugendamt, Beratungsstellen, Notfallambulanz), ebenso wie Therapieangebote für Betroffene. Das kostenfreie und anonyme Hilfetelefon der Bundesregierung ist über die Telefonnummer 0800 22 55 530 zu erreichen. Auch auf der Homepage des Unabhängigen Beauftragen für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) der Bundesregierung finden Fachkräfte Informationen und haben die Möglichkeit, Informationsmaterialien zu bestellen: https: / / beauftragter-missbrauch.de/ Informationen und Ansprechpersonen: Gewehr, Merschhemke, Pülschen - Sexueller Kindesmissbrauch mup 4|2019 | 165 eine wertschätzende, freundlich zugewandte und interessierte, aber bezüglich der berichteten Ereignisse neutrale und ergebnisoffene Haltung (Johnson et al. 2016, 185; Niehaus et al. 2017, 25, 56). Wertschätzung und Zugewandtheit können durch uneingeschränkte Aufmerksamkeit für das Kind sowie durch Techniken des aktiven Zuhörens signalisiert werden. Vor allem bei angespannten Kindern ist es hilfreich, selbst Entspanntheit auszustrahlen, z. B. durch ruhige und langsame Sprache. Ablenkungen oder Unterbrechungen während des Gesprächs sollten vermieden werden (Niehaus et al. 2017, 65, 70; Volbert 2015, 188). Unterstützend wirken auch Aussagen, die Verständnis für das Kind signalisieren, z. B. „Das kann ich gut verstehen“, wenn das Kind berichtet, etwas als unangenehm empfunden zu haben (Lemaigre et al. 2017, 49). Eine in der Sache neutrale Haltung zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass die Angaben des Kindes weder durch eigene Anmerkungen (z. B. „Das ist aber schlimm! “), noch durch eigene emotionale Beteiligung (z. B. Weinen oder Seufzen) bewertet werden. Ein solches Einbringen der eigenen Perspektive kann die bis dato durch das Kind vorgenommene Bewertung stark beeinflussen. Mögliche Folgen sind, dass potenziell betroffene Kinder sich nicht weiter offenbaren möchten, weil ihnen die erwachsene Person emotional nicht stabil genug erscheint, dass sich das Belastungserleben eines Kindes verstärkt oder dass die Erinnerung des Kindes beeinflusst wird (Niehaus et al. 2017, 69 f). Die ebenso wichtige ergebnisoffene Haltung meint das Gewahrsein über die Tatsache, dass bisweilen auch Kinder von sexuellem Missbrauch berichten, die einen solchen nicht tatsächlich erlebt haben. Etwa können gerade Kinder durch suggestive Prozesse fälschlicherweise in den Glauben kommen, einen Vorfall erlebt zu haben, obwohl dieser nicht tatsächlich stattgefunden hat, oder sogar lebhafte Erinnerungen an ein nicht stattgefundenes Ereignis entwickeln (für eine detaillierte Beschreibung suggestiver Prozesse siehe Volbert 2014). Zudem besteht die Möglichkeit, dass absichtlich eine falsche Beschuldigung erhoben wird, auch wenn dies bei jüngeren Kindern unwahrscheinlicher ist als bei älteren (Volbert 2015, 189). Da anhand der ersten Äußerung eines Kindes nicht mit Sicherheit festgestellt werden kann, ob den Angaben ein entsprechendes Erlebnis zugrunde liegt, und um zu vermeiden, dass die eigene Perspektive die Aussage und die Erinnerung eines Kindes beeinflusst, sollte ein Gespräch möglichst unabhängig von der eigenen Voreinstellung zu einem möglichen Vorfall geführt werden. Ein solch ergebnisoffenes Gespräch lässt sich am besten realisieren, indem die Fachkraft ihren Gesprächsanteil so weit wie möglich auf offene Fragen und Erzählaufforderungen beschränkt (z. B. „Kannst du mir mehr davon erzählen? “, „Und dann? “, „Ist noch mehr passiert? “). Kurze Pausen, Nicken, Laute, die Zuhören signalisieren (z. B. „Hm“) oder Paraphrasieren des bereits Gesagten können ein Kind ebenfalls dazu animieren, weiter zu berichten, ohne dass spezielle Nachfragen gestellt werden müssen. Verständnisfragen sollten, wenn nötig, in einem W-Frage-Format gestellt werden (z. B. „Wer hat das gemacht? “ oder „Wo ist das passiert? “). Im Anschluss sollte jeweils zu einer offenen Erzählaufforderung zurückgekehrt werden. Vermieden werden sollten insbesondere geschlossene Fragen, die Informationen beinhalten, welche das Kind bisher nicht erwähnt hat (z. B. „Hat er dich am Po berührt? “ oder „Hat dein Onkel so etwas nicht auch bei dir gemacht? “, wenn das Kind diese Informationen nicht selbst erwähnt hat). Eine Erwartungshaltung kann sich jedoch auch unabhängig vom Frageformat vermitteln, etwa durch selektive Verstärkung, indem Antworten, die den eigenen Erwartungen entspre- Gute Gesprächsführung basiert auf Wertschätzung, Interesse und inhaltlicher Ergebnisoffenheit. 166 | mup 4|2019 Gewehr, Merschhemke, Pülschen - Sexueller Kindesmissbrauch chen, Interesse und Lob beigemessen wird, während gegenteilige Antworten eher ignoriert oder angezweifelt werden. Auch um dies zu vermeiden, ist es hilfreich, sich eine bezüglich des Gesprächsausgangs offene innere Haltung zu bewahren und keine bestimmten inhaltlichen Ziele zu verfolgen. Ebenfalls sollte darauf verzichtet werden, eine Frage wiederholt zu stellen, nachdem ein Kind diese bereits verneint hat (Brown / Lamb 2015, 251 ff; Earhart et al. 2014, 258 f; La Rooy et al. 2015, 77 ff). Die Fachkraft sollte sich in einem Erstgespräch zudem bewusst machen, dass sie lediglich grobe Informationen benötigt, um einzuschätzen, ob dringender Handlungsbedarf besteht. So sollte etwa in Erfahrung gebracht werden, ob es sich bei dem Bericht eines Kindes um einen Vorfall aus der Vergangenheit handelt oder ob Betroffene dem potenziellen Täter weiterhin ausgesetzt sind und somit womöglich eine Wiederholungsgefahr besteht (Volbert 2015). Hingegen liegt es nicht in der Verantwortung der Fachkraft, alle Details eines potenziellen Missbrauchs zu erfragen - diese Aufgabe wird bei einer Erhärtung des Verdachts später von den zuständigen Strafverfolgungsbehörden übernommen. Gespräche zur Verdachtsabklärung, die von einer Fachkraft initiiert werden Zuweilen kann sich die Konstellation ergeben, dass eine Fachkraft für pferdgestützte Intervention einen Vorfall sexuellen Missbrauchs vermutet, das Kind sich aber nicht von sich aus an die Fachkraft wendet. In solch einer Situation sollte das Kind angesprochen werden, jedoch ist hierbei besondere Vorsicht geboten. Zum einen ist bekannt, dass von sexuellem Missbrauch betroffene Kinder sich häufig nicht von sich aus an Erwachsene wenden und unterstützendes Verhalten ihrer Umgebung sowie eine direkte Ansprache es ihnen erleichtern kann, ihre Erlebnisse zu offenbaren (Kavemann et al. 2015, 98). Andererseits gibt es kein Anzeichen im Verhalten eines Kindes, welches eindeutig auf sexuellen Missbrauch hinweist (Kendall-Tackett et al. 1993, 164), sodass entsprechende Vermutungen stets mit großer Irrtumswahrscheinlichkeit behaftet sind. Zwar kommen einige Verhaltensauffälligkeiten bei sexuell missbrauchten Kindern häufiger vor, da diese jedoch auch bei anderen aversiven Erfahrungen gehäuft auftreten und auch ohne ein besonderes Erlebnis vorkommen können, ist der Rückschluss auf einen sexuellen Missbrauch im Einzelfall nicht zulässig. Hierzu gehören ängstliches, aggressives, hyperaktives, selbstverletzendes oder sexualisiertes Verhalten, schulische Probleme, niedriges Selbstbewusstsein, sozialer Rückzug, Albträume oder psychische Störungen wie Depressionen. Auch das häufig als hinweislich interpretierte Malen oder Nachspielen sexueller Szenen kann viele Ursachen haben und stellt keinen Indikator für ein Missbrauchserlebnis dar (Kendall-Tackett et al. 1993, 166). Ein direktes Befragen von Kindern nach sexuellem Missbrauch ist, wie oben beschrieben, mit dem Risiko suggestiver Einflussnahme verbunden, welche bestehende Erinnerungen verzerren oder zur Ausbildung falscher Erinnerungen führen kann. Trotz dieses Risikos sollten Kinder bei auffälligem Verhalten in jedem Fall Unterstützung durch erwachsene Bezugspersonen erfahren. Zu empfehlen ist ein offenes Gesprächsangebot, in dem die Fachkraft sich wie oben beschrieben als vertrauensvolle Ansprechperson anbietet. Eine vertrauensvolle Atmosphäre kann zunächst geschaffen werden, indem über andere, für das Kind relevante Themen gesprochen wird. Etwa kann die Fachkraft Themen ansprechen, die aktuell in der Schule, in der Familie oder im Freundeskreis des Kindes relevant sind, oder fragen, was das Kind in diesen Bereichen aktuell erlebt (Niehaus et al. 2017, 62 ff). Ebenfalls kann offen nachge- Die wichtigsten Gesprächstechniken sind offene Erzählaufforderungen und aktives Zuhören. Gewehr, Merschhemke, Pülschen - Sexueller Kindesmissbrauch mup 4|2019 | 167 fragt werden, ob es etwas gibt, das das Kind zurzeit bedrückt oder ob das Kind etwas mitteilen möchte. Schließlich kann die Fachkraft das beobachtete Verhalten ansprechen, jedoch ohne dabei die Vermutung eines sexuellen Missbrauchs (oder eines anderen Vorfalls) explizit zu erwähnen. So kann sie etwa anmerken, dass ihr ein bestimmtes Verhalten aufgefallen sei, und fragen, wie es dazu gekommen sei. Macht das Kind in Folge Angaben zu einem sexuellen Missbrauch (oder einem anderen kinderschutzrelevanten Ereignis), so gelten insbesondere in dieser Konstellation die oben genannten Regeln, offene Fragen und Erzählaufforderungen zu formulieren und Fragen, die bisher unerwähnte Details enthalten, sowie Wiederholungen der gleichen Fragen, zu vermeiden. Macht das Kind in Folge offener Erzählaufforderungen keine Angaben zu einem Vorfall, kann die Fachkraft erneut betonen, dass das Kind sich auch in Zukunft mit allen Anliegen an sie wenden kann. In einigen sehr dringlichen Konstellationen, etwa wenn vermutet wird, dass das Kind der Gefahr eines weiteren Missbrauchs ausgesetzt sein könnte, kann zum Schutze des Kindeswohls als letzte Option auf eine direkte Nachfrage bezüglich des Verdachts zurückgegriffen werden. Verneint das Kind diese Frage, sollten weitere Nachfragen vermieden werden. Bejaht das Kind die Frage (Kinder tendieren dazu, Fragen auch unabhängig von ihrem Inhalt häufiger zu bejahen als zu verneinen), sollte im Anschluss unbedingt wieder zu offenen Erzählaufforderungen zurückgekehrt werden. Anschließend sollte nicht die reine Bejahung der ersten Frage, sondern erst ein freier Bericht des Kindes als Indiz dafür interpretiert werden, dass es einen entsprechenden Vorfall tatsächlich erlebt hat. Die beschriebene Art der Gesprächsführung beinhaltet die Schwierigkeit, sich nicht zu direkten Fragen und inhaltlichen Vorgaben verleiten zu lassen, wenn ein Kind sich auf offene Fragen hin nicht entsprechend den eigenen Vermutungen äußert. Hierbei ist sich bewusst zu machen, dass ein offenes Frageformat die höchste Diagnostizität zur Abklärung von Missbrauchsverdachtsfällen bietet und daher als Goldstandard der Befragungsformate gilt (Brown / Lamb 2015; La Rooy et al. 2015; Niehaus et al. 2017). Hat ein vermuteter Missbrauch nicht stattgefunden, wird eine suggestive Einflussnahme hierdurch verhindert. Hat ein Missbrauch stattgefunden, wird dem Kind die Möglichkeit gegeben, frei aus seiner Erinnerung davon zu berichten. Zudem ist eine Vertrauensbasis für eine mögliche Offenbarung in der Zukunft geschaffen. Dokumentation von Gesprächen In beiden dargestellten Gesprächskonstellationen ist eine genaue, möglichst wortgetreue Dokumentation des Gesprochenen - wie in den Ausführungen rechtlicher Aspekte bereits angesprochen - von großer Bedeutung. Wenn bei einem von der Fachkraft initiierten Gespräch eine Tonaufnahme des Gesprächs möglich ist (z. B. via Handy), ist dies zu begrüßen. Hierfür sollte jedoch das Kind nach Einverständnis gefragt werden, und es empfiehlt sich, zu Beginn der Aufnahme die Einverständniserklärung des Kindes wiederholen zu lassen (z. B.: „Wir haben gerade darüber gesprochen, dass ich unser Gespräch aufnehmen werde. Bist du damit einverstanden? “) und mitaufzunehmen. Bei sehr schüchternen Kindern sollte abgewogen werden, ob das Kind eventuell weniger offen zu berichten vermag, wenn das Gespräch aufgenommen wird. Folgende Grundsätze sind - in Anlehnung an Volbert (2015, 193) - für eine Dokumentation zu beherzigen: ■ Vollständige Dokumentation: Es sollten sowohl die Fragen und Anmerkungen der Fachkraft als auch die Antworten des Kindes so dokumentiert werden, dass nachvollzogen werden kann, Offene Gesprächsangebote ohne Verdachtskonfrontation helfen Kindern, sich zu offenbaren. 168 | mup 4|2019 Gewehr, Merschhemke, Pülschen - Sexueller Kindesmissbrauch welche Angaben auf welche Fragen erfolgten. Es ist wichtig festzuhalten, was das Kind genau gesagt hat. Aussagen von Kindern beinhalten häufig viel Spielraum für Interpretationen, welcher offengelassen und nicht mit den Vorstellungen der Fachkraft gefüllt werden sollte. Auch sollten Ort, Datum und anwesende Personen notiert werden. Nachträgliches Ändern einer Dokumentation ist möglich, wenn dieser Vorgang ebenfalls genau dokumentiert wird. ■ Ungeschönte Dokumentation: Ausformulierte Selbstkritik kann dabei helfen, ein Gespräch wörtlich zu dokumentieren, auch wenn Fragen gestellt wurden, die es eigentlich zu vermeiden galt. Falls es durch eine solche Frage zu einem Missverständnis bei dem Kind gekommen sein sollte, kann dies durch die vorliegende Dokumentation später aufgeklärt werden. Ein lückenhaftes Protokoll, in dem z. B. Fragen weggelassen wurden, weil man sie so lieber nicht gestellt hätte, kann zudem bei einer späteren Strafverfolgung Zweifel erwecken und für die Rekonstruktion des Gespräches u. U. nicht mehr verwandt werden. Daher ist es im Sinne des Kindes wichtig, alle Fragen und alle Antworten zu notieren. Fazit und Ausblick Fachkräften pferdgestützter Intervention, die bei einem Kind einen Vorfall sexuellen Missbrauchs oder eine andere Kindeswohlgefährdung vermuten, sollten sich dem Kind zunächst als vertrauensvolle, emotional stabile Ansprechperson präsentieren und offene Gesprächsgelegenheiten anbieten. Wendet sich das Kind anschließend nicht von sich aus an die Fachkraft, ist zu empfehlen, selbst ein Gespräch mit dem Kind zu initiieren. Das Gespräch sollte unbedingt ergebnisoffen geführt werden, um dem Kind ohne Einflussnahme die Gelegenheit zu geben, frei von Erlebnissen zu berichten. Hierfür sollte das Gespräch möglichst mit offenen Erzählaufforderungen und weniger mit direkten Nachfragen geführt werden. Für ein möglicherweise einzuleitendes Strafverfahren ist es wichtig, das Gespräch so genau wie möglich inklusive der gestellten Fragen zu dokumentieren. Um entscheiden zu können, welche Schritte einzuleiten sind, falls das Kind von einem Missbrauch oder einer anderen Kindeswohlgefährdung berichtet, ist es hilfreich, sich bereits im Vorfeld mit den wichtigsten rechtlichen Rahmenbedingungen vertraut zu machen. Bei Unsicherheit bezüglich des weiteren Vorgehens kann zu jeder Zeit über die Träger der öffentlichen Jugendhilfe eine Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft in Anspruch genommen werden. Eine besondere Qualifikation ist für das Führen eines ersten Gesprächs mit einem Kind jedoch nicht nötig. Vielmehr ist hierfür neben Grundkenntnissen der Gesprächsführung vor allem eine vertrauensvolle Beziehung von Relevanz, wie sie sich auch im Rahmen pferdgestützter Interventionen zwischen Fachkräften und Kindern entwickeln kann. Literatur ■ Allroggen, M., Gerke, J., Rau, T., Fegert, J. M. (2018): Umgang mit sexueller Gewalt in Einrichtungen für Kinder und Jugendliche. Eine praktische Orientierungshilfe für pädagogische Fachkräfte. 1. 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Mitarbeiterin im BMBF-geförderten Verbundprojekt „ViContact“ am Institut für Sonderpädagogik der Europa-Universität Flensburg Simone Pülschen Sonderpädagogin und Reitpädagogin (DKThR), wissenschaftl. Mitarbeiterin am Institut für Sonderpädagogik der Europa-Universität Flensburg, Verbundleitung des BMBF-geförderten Verbundprojekts „ViContact“, in dem angehende Lehrkräfte auf den Umgang mit potenziellen Missbrauchsopfern vorbereitet werden Korrespondenzanschrift Dr. Simone Pülschen · Europa-Universität Flensburg Institut für Sonderpädagogik · Abtl. Sonderpädagogische Psychologie · Auf dem Campus 1 · D-24943 Flensburg simone.puelschen@uni-flensburg.de