eJournals mensch & pferd international 11/4

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2019
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Praxistipp: Die vier Jahreszeiten auf dem Reiterhof: Saisonale Ideen und Anregungen für die Reittherapie

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Jana Rickert
Praxistipp: Die vier Jahreszeiten auf dem Reiterhof: Saisonale Ideen und Anregungen für die Reittherapie
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182 | mup 4|2019|182-187|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2019.art23d Jana Rickert Praxistipp Die vier Jahreszeiten auf dem Reiterhof: Saisonale Ideen und Anregungen für die Reittherapie Der besondere Einfluss der vier Jahreszeiten auf die Natur, die Menschen und die Tiere zeigt sich in immer wiederkehrenden Facetten. Jede Jahreszeit hat ihr typisches Gesicht und gibt Beständigkeit und Orientierung. Die heilpädagogische Arbeit mit dem Pferd, welche ein naturnahes Angebot darstellt, kann sich die Ereignisse im Jahreslauf auf vielfältige Weise zunutze machen und echte Entdeckungs- und Lernspielräume bewusst werden lassen. Einige Spielideen und Anregungen, abgestimmt auf die jeweilige Jahreszeit, möchte ich im Folgenden vorstellen. Unsere Erde ist immer in Bewegung. In 24 Stunden dreht sie sich einmal um ihre eigene Achse und innerhalb eines Jahres schafft sie es, die Sonne zu umrunden. Durch die Drehung um sich selbst und die langsam aber stetig veränderte Position zur Sonne wird es nicht nur morgens hell und abends dunkel, auch die Temperaturen werden beeinflusst, was entscheidend ist für die in Europa bekannten vier Jahreszeiten: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Pferde werden zumeist etwas abseits der Stadt auf einer Hofanlage gehalten. So bieten der Hof selbst mit seinen Bäumen und Wiesen, aber auch Nachbars Feld, ein Waldgebiet oder die Gärten der Anwohner, Gelegenheit, den Klienten die Natur mit ihren jahreszeitlichen Besonderheiten näher zu bringen. Eiszapfen hautnah anfassen, Bäume in ihren wechselnden Kleidern beobachten, Farben, Geräusche und Gerüche mit allen Sinnen wahrnehmen sind ganz andere Erlebnisse, als all dies nur durchs Fenster zu beobachten. Auch bei den Pferden selbst ist auf das Kommen und Gehen der Jahreszeiten Verlass. Das Fell ändert sich von winterlich-plüschig bis kurz und glänzend und auch die Stimmung der Tiere geht einher mit knackig-kalten Temperaturen und großem Gehwillen, genauso wie mit erschöpfter Langsamkeit bei Hitze. Die Klienten die Besonderheiten der Jahreszeiten am Beispiel der Natur und der Tiere erleben und kennenlernen zu lassen, erklärt Zusammenhänge und gibt Bedeutungen sowie mehr Verständnis für einen naturverantwortlichen Umgang mit der Welt. Praxistipp: Rickert - Die vier Jahreszeiten auf dem Reiterhof mup 4|2019 | 183 Frühling Im Frühling beginnt die Natur zu erwachen, ein erstes zartes Grün ist an den Ästen der Bäume zu sehen und mit jedem Sonnenstrahl bekommen Pferd und Mensch Lust auf Bewegung. Doch wie wächst eigentlich so eine Blume heran? Eine besonders passende Bewegungs- Spiel-Geschichte namens „Blume“, die das Kind selbst auf dem Pferd vom Blumensamen bis zur Blüte heranwachsen lässt, wurde bereits in der mup 2 / 2016 veröffentlicht (Glitza 2016) und ist für Kinder geeignet und an unserem Hof bereits ein Frühlingsritual. Ein aktuelles Thema kann so besonders im Einzelsetting fantasievoll nachgestellt und in der Natur wiederentdeckt werden. Wirklich gut erklären und greifbar machen lässt sich die Verteilung eines Blumensamens anhand einer Löwenzahnpflanze, die zunächst aus einem Samen zu einer gelb-blühenden Pflanze heranwächst, sich dann in eine Pusteblume verwandelt und die Samen mit ihren Schirmchen im Wind für viele neue „Löwenzähne“ sorgen und sich so der Kreislauf schließt. Auch Feiertage und im Jahresrhythmus wiederkehrende Feste eignen sich, um die jeweilige Jahreszeit hervorzuheben. Der Hase gilt als Frühlingsbote und versteckt die Ostereier. Doch lange Ohren haben auch unsere Pferde und helfen uns bei der etwas anderen Suche. Wir verstecken jedes Jahr Kuscheltiere und Bälle nach Herzenslust auf dem Hof. So findet sich ein Ball im Baum, ein Kuscheltier zwischen den Strohballen oder sitzend im Blumenkasten. Einmal entdeckt, sollen die Kinder möglichst genau beschreiben, wo sich das Versteck befindet. Spielerisch und sprachfördernd lernen die Kinder ganz nebenbei Heu von Stroh zu unterscheiden oder einen „Blütenbaum“ als Magnolie zu erkennen. Diese besondere Ostersuche lässt sich im Gruppensetting wie auch in der Einzelförderung durchführen und bringt garantiert allen Spaß. Abb. 1: Beim Pusten werden die Pusteblumensamen verteilt. Abb. 3: Der grüne Ball ist ganz schön gut getarnt! Abb. 2: Ostersuche auf dem Hof Abb. 4: Wer entdeckt den roten Ball? 184 | mup 4|2019 Praxistipp: Rickert - Die vier Jahreszeiten auf dem Reiterhof Sommer Sonne, Licht und Regen bringen im Sommer die Natur auf Hochtouren. Bäume und Sträucher tragen jetzt Früchte, und nicht nur die Tierwelt feiert Hochzeit und zieht ihren Nachwuchs groß. Mit etwas Glück findet man auf einem Rapsfeld ein Strohballenkunstwerk, welches Braut und Bräutigam im Dorf ankündigt, und im Stall gibt es bestimmt ein Schwalbennest zu bestaunen. Spätestens wenn die Fütterung der Mini-Schwalben ansteht, werden Kinderaugen ganz groß. Warum können kleine Schwalben eigentlich noch nicht fliegen? Einige Fähigkeiten brauchen Zeit und Übung, hier lässt sich ein schöner Transfer zum menschlichen Baby schlagen. Das Sommer-Ausritt-Spiel heißt Obstsalat. Der Klient auf dem Pferd darf mir eine Frucht nennen, die in den Obstsalat kommen soll. Wird ein Apfel genannt, überlegen wir gemeinsam, wo der Apfel wohl wächst, welche Farbe er hat und wie er schmecken könnte. Gibt es einen echten Apfelbaum in der Nähe, reiten wir dorthin, und falls nicht, tut es mit etwas Fantasie auch ein anderer Baum. Da die Äpfel weit oben im Baum hängen, muss sich das Kind schon richtig strecken oder sogar stehend auf dem Pferd die Äpfel pflücken. Selbstverständlich wird mitgezählt, wie viele Äpfel in die Schüssel kommen. Diese imaginäre Schüssel steht zumeist auf dem Widerrist des Pferdes und muss natürlich zwischenzeitlich umgerührt werden. Wird eine Banane genannt, so müssen wir zuallererst im Fliegersitz mit ausgebreiteten Armen in die Tropen fliegen. Wie könnte wohl eine Bananenstaude aussehen und wächst sie an einem Baum oder einer Palme? Sind Bananen schon beim Ernten gelb? Erdbeeren hingegen wachsen, wie der Name schon sagt, auf der Erde, sodass nach einem passenden Feld Ausschau gehalten wird. Zum Pflücken legt man sich auf den Pferderücken und streckt die Arme lang Richtung Boden. Welche Früchte sind eigentlich nun schon alle in unserem Obstsalat drinnen und wie viele von jeder Frucht? Hier können die Merkfähigkeit und echtes Wissen erarbeitet werden und bei Früchten wie Brombeeren darf natürlich eine Verkostung nicht fehlen! Dieses Spiel räumt mit Unsicherheiten auf, ob eine Tomate wohl eine Frucht ist und ob nicht auch Salat in einen Obstsalat hineingehört. Ein echtes Allrounder-Spiel in den Förderbereichen Motorik, Sprache, Bildung, Wahrnehmung, Vorstellungsvermögen und Sensorik. Abb. 7: Die Äpfel hängen hoch oben im Baum. Abb. 6: Schwalbenfütterung Abb. 9: Erdbeeren werden vom Feld geerntet. Abb. 8: Im Fliegersitz reisen wir in die Tropen, um Bananen zu pflücken. Abb. 5: Eine Hochzeit im Dorf wird angekündigt. Praxistipp: Rickert - Die vier Jahreszeiten auf dem Reiterhof mup 4|2019 | 185 Herbst Der goldene Herbst färbt die Blätter bunt und Vogelgezwitscher weicht dem raschelnden Herbstlaub. Die Pferde verlieren nun ihr Sommerfell und schieben neues, dickes Fell hinterher. Kastanien fallen vom Baum und genau um diese Frucht geht es im nächsten Praxistipp: dem Kastanien-Löffel-Ritt. Jeder kennt das Spiel, ein Ei auf einem Löffel zu transportieren; in diesem Spiel hingegen werden Kastanien genutzt. Kastanien haben meist eine runde und eine flache Seite, sodass die Schwierigkeit individuell für jeden Klienten angepasst werden kann. Somit lässt sich der Parcours von allen mit der Kastanie auf dem Löffel bewältigen. Eine weitere Variation angepasst an die Fähigkeiten der Klienten ist es, mit einem oder sogar zwei Löffeln samt Kastanien in jeder Hand zu reiten und sich an die verschiedensten Aufgaben heranzutrauen. Slalom und enge Kurven durchqueren ist zu einfach, dann darf eine Mühle geturnt werden oder mit dem Pferd geht es über ein paar Stangen. Auch ein kleiner Berg hoch oder runter geritten wird so zum Balanceakt und spätestens in schnelleren Gangarten wird es wirklich schwierig und bedarf sehr guter Balancierfähigkeiten. Dieses Spiel fördert die Körperwahrnehmung und fokussiert auch Klienten, die schnell durch Außenreize abgelenkt sind. Kleine Schlaumeier wissen auch, was sich an den Pferdebeinen „Kastanie“ nennt und welche Nussfrüchte wie Eicheln und Bucheckern es im Herbst noch zu finden und unterscheiden gilt. Einmal mit der kleinen Baumkunde angefangen, lassen sich auch bunte Blätter in ihren verschiedenen Formbzw. Farbgebungen entdecken und benennen. Abb. 11: Eine Mühle turnen beim Kastanien-Löffel-Ritt. Abb. 13: Welche Nussfrüchte bringt noch der Herbst? Hier eine Eichel. Abb. 12: Tannenzapfen fühlen sich spannend an. Abb. 10: Kastanien-Löffel-Ritt 186 | mup 4|2019 Praxistipp: Rickert - Die vier Jahreszeiten auf dem Reiterhof Winter Väterchen Frost lässt im Winter alles gefrieren und verwandelt den Hof bei Sonnenschein in ein Winter-Wonder-Land. Dann glitzern Eiskristalle an Spinnenweben und Grashalmen, schnaubende Pferdenüstern dampfen wie feuerspeiende Drachen und im Schnee entdeckt man Spuren von unbekannten Tieren. Am Hof nutzen wir jede winterliche Gelegenheit, die sich uns bietet. Schnee ist eine wunderbar formbare Masse und mit etwas Geschick lassen sich nicht nur Olaf, der Schneemann, sondern auch Ole, das Schneepferdchen bauen. Spuren im Schnee lassen sich prima nachlaufen, und wer erkennt, in welcher Gangart das Pferd unterwegs war? Wenn Wasser zu Eis wird, dann sind Eiszapfen zum Anfassen da und es ist faszinierend zu beobachten, wie schnell das Eis in warmen Händen wieder zu Wasser wird. Menschen tragen passende Winterkleidung und Schuhwerk bei Schnee, brauchen Pferde das auch? Ein Pferd mit Hufeisen bekommt nun Grip vom Hufschmied drunter gemacht, damit der Schnee nicht aufstollt, und hat somit auch Winterschuhe an. Weihnachten ist ein Highlight im Winter, und so schmücken wir am liebsten einen echten Tannenbaum zu Pferd. Ist kein echter Baum in der Nähe, so eignet sich auch ein simpler Nachbau aus einem Stab mit Hütchen und geschmückt wird mit Ringen. Bei richtig klirrender Kälte finden sich nun draußen Eiszapfen oder ein mit Eiskristallen umhülltes Blatt. Nicht nur die Natur, auch wir selber können ein schönes Eiskunstwerk ganz einfach basteln. Dafür nehmen wir eine viereckige Schale oder ein tiefes Backblech und füllen es mit Wasser. Nun legen wir kleine Zweige, Blätter oder ein paar Pferdehaare hinein und lassen es über Nacht draußen gefrieren. Am nächsten Tag haben wir ein echtes viereckiges Eisgebilde zum Bestaunen gefertigt. Abb. 15: Ein gefrorenes Blatt mit Eiskristallen Abb. 17: Auch Pferde toben gerne im Schnee. Abb. 16: Ein Stab mit Hütchen wird zum Hallen-Tannenbaum. Abb. 14: Mysteriöse Spuren im Schnee Praxistipp: Rickert - Die vier Jahreszeiten auf dem Reiterhof mup 4|2019 | 187 5. Jahreszeit Karneval Im Rheinland darf selbstverständlich die 5. Jahreszeit nicht fehlen, der Karneval. Hier werden Mensch und Pferd nach Herzenslust verkleidet und jeder kann in neue Rollen schlüpfen. Das Pferd wird zum Drachen oder zum Regenbogenpferd, und Superhelden oder Elsa die Eisprinzessin können nun reiten wie Bibi und Tina. Bereitgestellte Hüte oder eine Indianerfeder für Kinder, die sich nicht so gerne selber verkleiden, entführen auch den hartnäckigsten Nicht-Jecken mit dem passend geschmückten Pferd in den wilden Westen. Um den Quatschfaktor noch etwas zu erhöhen, und da bekanntlich Kamelle an Karneval nicht fehlen dürfen, lassen wir alle kleinen und großen Jecken auf dem Pferd einen Schaumkuss essen. Doch der Schaumkuss will verdient sein und so sollte er im Trab oder Galopp gegessen werden. Achtung, Gefahr von Schaumkuss-verschmierten Gesichtern! Für nicht so schnelle Reiter darf der Schaumkuss rückwärts sitzend vom Pferdepopo nur mit dem Mund geangelt werden. Karneval ist eine hervorragende Übung, um die eigene Vorstellungskraft zu schulen. Wie im Theater oder Zirkus sind Kreativität und Absprachen untereinander gefordert. Mit dem starken Partner Pferd wird es den Kindern erleichtert, aus sich herauszugehen und manchmal ganz neue Gefühle und Emotionen im Spiel zu entdecken (Mündemann et al. 2015, 12). Literatur ■ Glitza, J. (2016): Praxistipp: Bewegungs-Spiel- Geschichten. mensch und pferd international, 7 (2), 75-77, http: / / dx.doi.org/ 10.2378 / mup2016. art13d ■ Mündemann, N., Gomolla, A., Gold, J. (Hrsg.) (2015): Kinderzirkus mit Pferden. Ein Leitfaden für Reitpädagogen. 1. Aufl. Books on Demand, Norderstedt Abb. 20: Ohne Hände wird ein Schaumkuss vom Pferdepopo gegessen. Die Autorin Jana Rickert B. A. Sport und Gesundheit in Prävention und Therapie - Deutsche Sporthochschule Köln, Staatl. geprüfte Fachkraft für Heilpädagogische Förderung mit dem Pferd, FN Trainer C Reiten Kontakt janarickert@gmx.de Abb. 18: Ein kleiner Clown auf seinem Pferd Abb. 19: Im wilden Westen reiten Cowgirls. Abb. 21: Nemo und ein Regenbogenpferd beim Karneval