eJournals mensch & pferd international 12/1

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2020
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Forum: Psychotherapeutisches Reiten als Therapiemöglichkeit für Menschen mit Zwangserkrankungen

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Nina Bernhart-Preisl
Wir können uns nicht vorstellen, wie es sich anfühlt, sich von innen heraus zu etwas gezwungen zu fühlen, bestimmte Gedanken denken zu müssen, manche Dinge tun zu müssen, ohne manche Handlungen verhindern zu können. Die Zwangsstörung geht weit über die Situationen, die wir alle kennen, hinaus: „Hab ich das Licht abgedreht?“, „Ist das Auto wirklich zu?“ – und ein zweites Mal aufs Piepserl drücken, mich versichern, ob der Herd abgedreht ist, nicht auf die Asphaltstreifen am Gehsteig steigen …
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20 | mup 1|2020|20-28|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2020.art04d Forum Psychotherapeutisches Reiten als Therapiemöglichkeit für Menschen mit Zwangserkrankungen Nina Bernhart-Preisl Wir können uns nicht vorstellen, wie es sich anfühlt, sich von innen heraus zu etwas gezwungen zu fühlen, bestimmte Gedanken denken zu müssen, manche Dinge tun zu müssen, ohne manche Handlungen verhindern zu können. Die Zwangsstörung geht weit über die Situationen, die wir alle kennen, hinaus: „Hab ich das Licht abgedreht? “, „Ist das Auto wirklich zu? “ - und ein zweites Mal aufs Piepserl drücken, mich versichern, ob der Herd abgedreht ist, nicht auf die Asphaltstreifen am Gehsteig steigen … Menschen, die unter Zwängen leiden, sind häufig den ganzen Tag einer inneren Bedrohung ausgesetzt - um diese abzuwenden oder zu vermindern, schreibt der innerliche Zwang eine Maßnahme vor, die sie unter Druck tun MÜSSEN. Falls sie dies nicht tun, folgt eine innere Bestrafung. Eine meiner Patientinnen erzählte beispielsweise, dass sie nichts angreifen, anstreifen, sich nirgendwo draufsetzen darf, was schon andere Menschen berührt haben könnten. Sie würde ansonsten mit Keimen in Berührung kommen, und wenn sie diese heimträgt, würde ihre Familie dadurch todkrank. Deshalb dürfe sie außerdem nur bestimmte Kleidung tragen, die sie im Vorzimmer - einer Art Schleuse - ausziehen muss und gegen Hauskleidung wechselt. Diese „Schmutzkleidung“ müsse dann auch täglich gewaschen und desinfiziert werden. Dies müssen auch alle Familienmitglieder so machen, da sie es sonst nicht aushält, mit ihnen zusammenzuleben. Eine andere Patientin berichtet von ihrem inneren Drang, alles, was sich in ihrem Blickfeld befindet, ganz genau betrachten zu müssen - falls sie das nicht ausreichend macht, müsse sie zurückgehen und alle Details nochmals exakt ansehen, um nicht bestraft zu werden. Ihre Bestrafung sieht vor, dass ihrer Familie etwas Schlimmes zustoßen würde. Der Vater würde bei der nächsten Geschäftsreise abstürzen, die Mutter würde schwer erkranken - und SIE wäre daran schuld. Ein junger Mann berichtete mir von schwerwiegenden Zwangsgedanken: Er könne keine Kinder ansehen, ohne dass er das Gefühl hat, er könnte ihnen etwas antun. Er versucht auf seinen täglichen Wegen jeglicher Situation auszuweichen, wo er Kindern begegnen könnte, vermeidet auch den körperlichen Kontakt zu seiner Freundin, um kein eigenes Kind zeugen zu können, welches er in seinen Gedanken schädigen könnte … Unglaublich, wie eingeschränkt sich dieses Leben anfühlen muss. Schon beim Lesen dieser Zeilen bemerken Sie, wie häufig das Wort „muss“ hier vorgekommen ist. Diese Patienten bestreiten ein Leben, das von ständig „etwas tun oder denken MÜSSEN“ geprägt ist. Ich könnte die Erzählungen lange fortsetzen, doch so verschieden die Zwänge auch sein mögen, haben sie alle gemeinsam, dass die Momente der Ruhe und Entspannung für die Betroffenen immer seltener werden. Sie werden durch ihren stetigen Selbstzweifel verunsichert und in ihrem Selbstvertrauen erschüttert. Forum: Bernhart-Preisl - Psychotherapeutisches Reiten als Therapiemöglichkeit mup 1|2020 | 21 Nina Bernhart-Preisl Sie stellen sich immer wieder die quälenden Fragen, ob sie „keine Gefahr falsch bewertet haben“ und ob sie im Sinne ihres Zwanges auch „richtig“ gehandelt haben. Je länger sie an dieser lebensbeeinflussenden Erkrankung leiden, umso häufiger werden die „Ausgleichshandlungen“, die ihnen ihr Zwang diktiert. Rein kognitiv wissen all diese PatientInnen, dass sie überreagieren, können es aber alleine nicht ändern. „Der intelligente Teil in mir weiß, dass das nicht richtig ist, aber ich muss…! “ Die Welt der Zwänge ist so schambesetzt, dass die Betroffenen häufig erst nach jahrelangem Leid in Therapie gehen. Die meisten Betroffenen halten dieses anstrengende Lebenskonstrukt so lange aufrecht, bis die Angehörigen nicht mehr mitspielen oder ihr überfordertes System zusammenbricht. Hilfe finden betroffene Menschen in der Psychotherapie - häufig mit zusätzlicher medikamentöser Unterstützung durch den / die PsychiaterIn. Wenn das von den PatientInnen gewünscht wird, arbeite ich als Psychotherapeutin mit meinen Pferden und habe damit in diesem Patientenkreis gute Erfahrungen gemacht, die ich in diesem Beitrag weitergeben möchte. Mein Praxisraum liegt idealerweise inmitten der Weide des Offenstalls, wo meine sechs Therapiepferde leben. Die Menschen, die zu mir kommen, können sich jede Stunde aussuchen, ob wir im Therapiezimmer bleiben oder mit den Pferden arbeiten. Wir können auf die Weide gehen und das Herdengefüge beobachten, Vermutungen über ihr Verhalten anstellen, Schlüsse ziehen, eigene Verhaltensmuster wiedererkennen, mit einem ausgewählten Pferd losziehen, es beobachten, berühren, streicheln, putzen - oder auch spazieren und reiten gehen. Ich lasse die PatientInnen vorzugsweise auf dem blanken Pferderücken oder mit einer dünnen Decke und einem Gurt auf dem Pferd sitzen, da sie so die Pferdebewegungen, die Wärme, das „Getragenwerden“ intensiver spüren und somit zu umso mehr Eigenwahrnehmung kommen. Die Erfahrung, Einfluss auf solch ein gewaltiges Tier nur durch die eigene Körpersprache nehmen zu können, hinterlässt erstaunliche Spuren im Selbstbild. Wenn ein Pferd mir folgt, kann ich nicht wirklich machtlos sein. Ein Heidelberger Arzt (Quelle unbekannt) hat es so formuliert: „Wenn ich ein Pferd kontrollieren kann, kann ich auch mit derselben Energie meine eigenen Zellen verändern.“ In der Integrativen Psychotherapie werden Zwangsstörungen meist auf zwei (parallel laufenden) Wegen therapiert: dem konfrontativen, verhaltenstherapeutischen und dem hermeneutischen, verstehenden Ansatz (Leitner 2010). Ich kombiniere diese Methode mit meinen „Co-Therapeuten“, den Pferden. Unumgänglich ist vor Beginn der therapeutischen Begleitung eine medizinische Abklärung und die damit zusammenhängende medikamentöse Einstellung, falls die / der Facharzt/ -ärztin das für nötig erachtet. Petzold et al. (2014) schreiben über unsere Therapierichtung, dass „die Integrative Therapie gekennzeichnet von der Skepsis gegenüber vereinzelten Maßnahmen sei. Die Überzeugung, Abb. 1: Therapie im Pferdestall 22 | mup 1|2020 Forum: Bernhart-Preisl - Psychotherapeutisches Reiten als Therapiemöglichkeit dass wir ein komplexes Menschen- und Weltbild brauchen und dass jegliche Reduzierung nur punktuell Sinn macht, führt auch zu einer komplexen Behandlungsperspektive, zu einem integrativen Maßnahmenbündel.“ Ein solches Maßnahmenbündel bieten in der Integrativen Therapie auch die prozessuale Diagnostik und das Konzept der „Vier Wege der Heilung und Förderung“, welches ich auch in der tiergestützten Therapie ständig als Folie im Hinterkopf habe und hier genauer beschreiben möchte. Die vier Wege der Heilung und Förderung 1. Weg: Bewusstseinsarbeit Die Ziele dieses Behandlungsweges sind laut Petzold die Förderung von Einsicht, Sinnerleben und Evidenzerfahrungen nach dem Modell der „hermeneutischen Spirale“ (Petzold 1991, 123-147). Petzold, Leuenberger und Steffan (2019, 38) beschreiben den Prozess folgendermaßen: „Fortschreitend vom multidimensionalen Wahrnehmen im unmittelbaren Erleben, zum Erfassen von Bezügen zu Aktuellem und Vergangenem, zum Verstehen von Auswirkungen und wirksamen Strukturen, zum Erklären-Können und Verändern in der Neuorientierung. Im Sinne „vitaler Evidenz“ verbinden sich leibliches Erleben, emotionale Erfahrung und rationale Einsicht auf der Grundlage von konkreter Bezogenheit in „prozessualer Aktivierung“, um neue Strukturen zu bilden und Strukturgefüge zu modulieren.“ Das heißt, dass auf diesem Weg ein umfassendes Verständnis auf allen Ebenen erlangt werden soll, um Ressourcen und Probleme ins Bewusstsein zu heben. Feldenkrais (1994) und Petzold (1981) sind sich laut Zeeb (2006) einig, dass sich die Muskelspannung bei jedem noch so kleinen Gedanken ändert. Das heißt nicht, dass wir Menschen das auch erkennen können, aber Pferde nehmen mit ihrem besonders feinfühligen Wahrnehmungssystem und ihrem auf nonverbale Signale ausgerichteten Kommunikationssystem die feinsten Veränderungen wahr. Der „Co-Therapeut“ Pferd zeigt dem Patienten und dem Therapeuten also sofort, was es fühlt. Pferde reagieren hochkontingent und sehr klar auf menschliche Stimmungen, Emotionen und Verhalten (Zeeb 2006). „Wenn wir sehen, wie unser eigenes Verhalten widergespiegelt wird, erlangen wir Bewusstheit.“ (McCormick, McCormick 2000, 98). Das Pferd nimmt kleinste Veränderungen in unserem Leib wahr - früher noch, als wir den Gedanken fassen, Bewegungen einleiten wollen - und reagiert darauf. So werden diese PatientIn- Abb. 2: Seelenspiegel Abb. 3: Bewusstsein schaffen Forum: Bernhart-Preisl - Psychotherapeutisches Reiten als Therapiemöglichkeit mup 1|2020 | 23 nen unmittelbar in tiefste Körperlichkeit geführt und schaffen es, den Zwang kurzfristig nicht in ihre Gedanken / Handlungen eindringen zu lassen. Das ist einer der absolut wesentlichen Punkte der Therapie von ZwangspatientInnen. Sie müssen lernen, die kleinsten Spannungszustände in ihrem Körper zu registrieren, damit sie in der Lage sind, ihre „Zwangs-Verhaltenskette“ zu stoppen. Das Pferd als „Co-Therapeut“ bietet auf einer rein sinnlichen, vorsprachlichen Ebene die Fähigkeit des Fühlens, Sich-Einfühlens und eine Art Affekt-Abstimmung, wie sie aus der sehr frühen Mutter-Kind-Beziehung bekannt ist. Es geht hierbei um die Erfahrung intersubjektiver Regulierung und des Austauschs, einer Verständigung, die keiner Worte bedarf, da sie viel umfassender ist als das, was Sprache und die eben genannten Atmosphären beinhalten. Resonanzen zwischen Mensch und Pferd können sich, wenn sie gleich schwingen, in Harmonie, Eleganz und Leichtigkeit verbinden und den Blick nach innen richten lassen. Menschen berichten immer wieder von Erlebnissen, dass das Pferd beginnt, die Gedanken des Reiters auszuführen, manchmal schon bevor er Zeit hat, sie bewusst werden zu lassen oder mitzuteilen (z. B. wenn die innere Haltung des Reiters es nicht zulässt, wird das Pferd nicht losgehen, sondern weiterhin stehen bleiben und warten). Hierin liegt auch die besondere Bedeutung von Resonanz für die therapeutische Arbeit mit allen Erscheinungsformen des Störungsbildes. Diese leibliche Intervention scheint in der Lage zu sein, durch äußere, körperliche Veränderungen, das Innere berührend, bewegend zu verändern und Sicherheit zu geben. Eine Sicherheit, die bei dieser Patientengruppe im Alltag oftmals nur durch Zwangshandlungen / -gedanken erreicht wird. Therapeutisch arbeite ich neben diesen leiblichen Effekten, die das Pferd bietet, auf dem ersten Weg der Heilung konfliktzentriert-aufdeckend mit Methoden und Techniken kognitiver Problemlösungsansätze, aber auch aus der aktiven Psychoanalyse, der Gestalttherapie und dem Psychodrama an biografischen und aktuellen Problemen, verdrängten Konflikten, problematischen Persönlichkeitsstrukturen -störungsspezifisch, immer ausgerichtet an der aktuellen Lebenssituation (Leitner 2010). Die Bewusstseinsarbeit und Sinnfindung finden hierbei durch Aufklärung, Reflexion der eigenen Erfahrungen, Veränderung von negativen kognitiven, emotionalen, volitiven und kommunikativen Stilen statt. Es werden zu Beginn, in der Kennenlernphase, gemeinsam Informationen zur Symptomatik und zum Lebensweg gesammelt, um so die Entstehungsgeschichte der Zwänge besser einordnen zu können. Es wird in Listen notiert, welche Arten von Gedanken und Handlungen wie häufig und in welchen Situationen auftreten, wodurch sie ausgelöst und welche Ersatzhandlungen ausgeführt werden. Daraus werden Ziele abgeleitet und besprochen, was wann im Vordergrund steht - die Symptombeseitigung oder / und das Verstehen der Zwänge. Salkovskis (2009) beschreibt, dass häufig auch ein Expositionstraining mit einem Reaktionsmanagement angeboten wird. Der / die PatientIn wird hierbei mit der Gefühlsbewältigung konfrontiert. Sie sollen erlernen, dass der Abbau von Angst auch ohne Durchführung der Rituale erfolgen kann, dass das Vermeidungsverhalten mit der Zeit aufgegeben werden, eine neue Risikobeurteilung der Stresssituationen und somit eine neue, positive Einschätzung der eigenen Handlungsmöglichkeiten zum Aufbau eines neuen Verhaltensmusters führen kann. 2. Weg: Nachsozialisation, Parenting / Reparenting, emotionale Differenzierungsarbeit Regressionsorientierte Arbeit im Sinne dieses zweiten Weges der Heilung, die Grundvertrauen bekräftigt und defizitäre Strukturen (z. B. Selbstzweifel, Suche nach Sicherheit, Bewertungen, Ausgleichshandlungen etc.) durch korrigierende oder alternative Erfahrungen zu kompensieren 24 | mup 1|2020 Forum: Bernhart-Preisl - Psychotherapeutisches Reiten als Therapiemöglichkeit trachtet, sind nach Petzold, Leuenberger und Steffan in gewachsener, tragfähiger Beziehung indiziert, wo Regression nicht eine Form der Abwehr ist, sondern aktivierte, maligne, defizitäre, aber auch benigne (gutartige, nicht schädigende) Strukturen und entsprechende Erinnerungen zum Tragen kommen. Unter Beachtung zwischenleiblicher Interaktion und nonverbaler Kommunikation wird besonders an dysfunktionalen „emotionalen Stilen“ bzw. Strukturen / Schemata (Petzold 1992, 835 ff.) gearbeitet. Defizite emotionaler Sozialisation können durch „emotionale Differenzierungsarbeit“ angegangen werden, negative Grundstimmungen werden durch Übungen und „Umstimmungen“ umbewertet (ebd.). Führt die Regression in Annäherung an frühe Relikte aus der Säuglingszeit, so kommen die genetisch disponierten, typisierten Muster der elterlichen Früherziehungskompetenz, dem „Intuitive parenting“ (Papoušek, Papoušek 1981) zum Tragen. Jeder benignen Regression folgen Integration und Neuorientierung im Gegenwartsbezug, mit entsprechenden handlungswirksamen Lernschritten, z. B. im „AufsichschauenLernen“ / „was brauche ich im Moment“ -, dem sogenannten Self- Parenting, der Selbstregulation, der Entwicklung des Selbst (Bermúdez et al. 1995). Dabei nimmt der Therapeut unterschiedliche Rollen und Funktionen ein, keineswegs nur elterliche (Petzold, Orth 1998). Meistens verkörpert er kompetente, erwachsene Schutz- und Bezugspersonen in aktualisierten Situationen fehlender Unterstützung und anderer Ressourcen. In einer von Petzold und Sieper durchgeführten Studie (Petzold, Sieper 1993, 223) stellte sich heraus, dass von Patienten nicht das Aufdecken verdrängter Traumata und Defizite als heilsam erlebt wurde, sondern die positive Zuwendung, die sie erfuhren, und die Regressionen, die zu guten Erfahrungen überleiteten. Weiger und Heintz (2008) beschreiben den Inhalt der Arbeit mit und auf dem Pferd mit der kompletten Palette passiv-regressiver Erfahrungen des Sich- Hingebens, Getragen-, GeschaukeltWerdens. Das Pferd ermöglicht physische Berührung und psychisches Berührt-Sein. Das Erleben des Getragen-Werdens an sich ist eine einzigartige, hoch bedeutsame leibliche Erfahrung, die man in dieser Form seinem Patienten nur mit dem „Co-Therapeuten“ Pferd zukommen lassen kann. Es fördert wie von selbst die Aufrichtung und Balance, bringt den / die PatientIn in seine / ihre körperliche und auch seelische Mitte, in sein / ihr Gleichgewicht (Weiger, Heintz 2008). Sie führen aus: „Vor der Geburt und in den ersten Lebensmonaten trägt die Mutter ihr Kind - im Bauch und auf dem Arm, sie trägt es emotional und energetisch, teilt mit dem Säugling alle wesentlichen affektiven Zustände; sie gibt ihm das Gefühl körperlicher Nähe, der Bindung, der Sicherheit und Geborgenheit“ (Weiger, Heintz 2008, 2). Das Pferd - als wieder ganz umfassend Tragendes - „erinnert“ unseren Leib an diese erste Lebensphase und ist daher prädestiniert, Defizite und Mangelerfahrungen aus dieser Zeit im Sinne neuer, wiedergutmachender Körper- Selbsterfahrungen heilend zu überwachsen. Sich so komplett, so ganz, so „in Ordnung“ zu fühlen ist eine unglaublich wertvolle Erfahrung für unsere PatientInnen, die sich in ihrem Alltag so falsch, nicht richtig, unvollständig fühlen. Nachbeelterung, Grundvertrauen und korrigierende Erfahrungen durch Verständnis und Annehmen der PatientIn mit all ihren Gefühlslagen, Anbieten einer stabilen Beziehung, Entlastung von Schuldgefühlen, Raum geben für alle negativen wie positiven Gefühle - ein engagiertes Beziehungsangebot kann ermöglichen, Gefühle wieder fühlen zu dürfen und sie auch anzunehmen. Verlässliche Akzeptanz durch die Therapeutin ermöglicht also korrigierende Erfahrungen, die das aktuelle Leben und die Zukunft deutlich beeinflussen können. 3. Weg: Ressourcenorientierte Erlebnisaktivierung Unterschiedlichste Formen der Stimulierung stellen alternative Erfahrungsmöglichkeiten bereit, um das persönliche Strukturgefüge Forum: Bernhart-Preisl - Psychotherapeutisches Reiten als Therapiemöglichkeit mup 1|2020 | 25 erweitern und verändern zu können. Mittels Bewegung, vielfältigen sensorischen Erfahrungen mit und rund ums Pferd, Spiel, kreativen Medien, kommunikativer Förderung, die die Selbstwahrnehmung und das Ressourcenpotenzial vergrößern, Ressourcennutzung verbessern, Selbstwirksamkeitserwartung, Bewältigungskompetenzen (Petzold 1997) und neue Strukturbildung fördern (Petzold, Leuenberger, Steffan 2019, 40). PatientInnen erleben, dass diese Formen der Wahrnehmungsförderung sowohl die Basissinne - das vestibuläre System, die propriozeptive Wahrnehmung, das taktile System, als auch die Fernsinne - olfaktorisches / visuelles / auditives / gustatorisches System am Pferd besonders stark anregen, dass sie so tief ins Spüren kommen, dass die Wahrnehmungsimpulse und Stimulationen neuronaler Netzwerke eine innere Ruhe zulassen können. Hoffmann und Hofmann (2011) beschreiben folgende Bereiche für Zwangserkrankte als besonders wichtig: ■ Übungen zum Ich-Erleben ■ Körper- und Eigenwahrnehmungsübungen ■ Übungen zum Erkennen von eigenen Wünschen und Bedürfnissen ■ Übungen zur Wahrnehmung von seelischen Abläufen ■ Übungen zur Verhaltenssteuerung ■ Übungen zum Erleben der eigenen Person als Einheit ■ Erlebte Bewegungen ■ Erleben der eigenen Person als Einheit ■ Fördern von Gefühlen Weitere Effekte der Sensorischen Integration am Pferd sind das natürliche Erleben und die Förderung des Rhythmusgefühls. Den gleichmäßigen Takt und Rhythmus der verschiedenen Gangarten (Schritt, Trab, Galopp) zu spüren und zu hören, lässt die PatientInnen in einen anderen Spannungszustand gleiten. Durch das Tempo der verschiedenen Gangarten kann die PatientIn regulierend - sowohl beruhigend, als auch aktivierend - animiert werden, was in weiterer Folge auf den Abb. 4: Ressourcen aktivieren 26 | mup 1|2020 Forum: Bernhart-Preisl - Psychotherapeutisches Reiten als Therapiemöglichkeit ■ Schlaf- / Wachrhythmus ■ Essensrhythmus ■ Verdauungsrhythmus dauerhaft Einfluss nimmt. In der Integrativen Therapie mit dem Pferd fließen viele Körperübungen in die Therapie ein. Sie wirken erlebnisaktivierend sowie ressourcenaktivierend, bieten stimulierende Erfahrungen durch leib- und bewegungstherapeutische Angebote und regen zu entspannenden Erfahrungen an. Hier überschneiden sich der dritte und vierte Weg der Heilung - denn wichtig ist es, die Erfahrungen und Erlebnisse mittels Übergangsobjekten in den Alltag zu transformieren. Wir nehmen z. B. die Geräusche des Hufschlags auf, speichern sogenannte „Moodlists“ am Handy, haben zum Entspannen am Pferd bestimmte (selbstgewählte) Musik, die somit emotional mit der Situation am Pferd, den Wahrnehmungen (bewegt werden, Takt, Rhythmus, Geruch, Gefühlen und Emotionen) verbunden ist und in Alltagssituationen einfach abgerufen werden kann. Viele PatientInnen haben sich Geruchsfläschchen mit Pferdehaaren gefüllt, Armbändchen aus Schweifhaaren geknüpft, Pferdebildchen foliert und als Schlüsselanhänger bei sich getragen, Therapietagebücher geschrieben, um positive Erinnerungen zu festigen und erneut abrufen zu können. Die Möglichkeiten der Übergangsobjekte sind grenzenlos… 4. Weg: Alltagspraktische Hilfen und Förderung von Solidaritätserfahrungen Der Integrative Ansatz legt einen sehr großen Wert auf Soziotherapie (Petzold 1997) und alltagspraktische Hilfen, z. B. initiierte und begleitete sozio-therapeutische Maßnahmen bei akuten Belastungen und in schwierigen Lebenslagen. Grundlegend ist hier der Ansatz des „sozialen Sinnverstehens“ (Metzmacher et al 1995; Petzold 1995, 171), der „sozialen Empathie“ (ebd., 242), ein Erfassen der Situation des Patienten im Netzwerk, der Situation des Netzwerks und seiner Strukturen, der sozioökologischen Gegebenheiten durch „sozialperspektivische Identifikation“ und das Ermöglichen „wechselseitiger Empathie“ (ebd.). Therapieziele, die aus dieser Matrix erwachsen, kommen unmittelbar im sozialen Raum und in alltagspraktischen Hilfen zum Tragen (Petzold, Leuenberger, Steffan 2019). Viele meiner PatientInnen beschreiben, dass ihnen der Kontakt zu den Pferden ein großes Stück „normales Leben“ erlebbar gemacht hat. Durch das Gefühl, ganz bei sich zu sein, mit geschlossenen Augen an der Longe zu galoppieren - vielleicht sogar mit ihrem Lieblingslied über Kopfhörer -, abgeschieden von ihrer zwangserfüllten Welt, sich nur dem Spüren hinzugeben, kann man für diese Menschen ein unglaublich heilsames Erlebnis entstehen lassen. Diese Referenzerlebnisse - es gibt Situationen, Zeiten, Stunden ohne Zwang - lassen einen großen Hoffnungsschimmer zu, der die herkömmlichen therapeutischen Interventionen unglaublich in ihren Wirkungen unterstützen kann. Meiner Erfahrung nach war die Reduktion der problematischen Lebenssituationen bei PatientInnen in der Pferdegestützten Psychotherapie schneller zu beobachten als bei rein herkömmlichen Therapien im Praxisraum. Beetz (2012, 19) hat die Wirkungsweise von Tieren folgendermaßen zusammengetragen. Sie wirken ■ depressiven Verstimmungen entgegen, ■ angstlösend, entspannend, stresssenkend, vertrauensfördernd, stabilisierend, Sicherheit gebend durch den Wirkfaktor „Beziehung“ im Therapietier / Partner-Team, ■ positiv auf die Entfaltung der emotionalen Intelligenz des Klienten und der psychosomatische Beschwerdesymptomatik und allgemeinen Psychopathologien entgegen, ■ auf alle Altersgruppen und Behandlungsphasen, Forum: Bernhart-Preisl - Psychotherapeutisches Reiten als Therapiemöglichkeit mup 1|2020 | 27 ■ positiv auf Prävention, Salutogenese und Resilienzarbeit, ■ unterstützend für die Diagnostik. Beetz (2012) geht weiterhin von einer positiven Wirkung auf das Beruhigungs und Beziehungssystem aus, die für die Ausschüttung von Oxytocin verantwortlich sein soll, mit positiven Folgen: ■ Erleichtert Vertrauensaufbau ■ Erleichtert soziales Annäherungsverhalten ■ Verbessert Codierungsfähigkeit von Emotionen ■ Erleichtert Speicherfähigkeit sozial positiver Emotionen und Interaktionen ■ Wirkt wie ein „Schönmaler“ - erinnert mehr an positive als negative Situationen ■ Schafft Synchronisation - ermöglicht Bindung Im vierten Weg der Heilung und Förderung sind Solidaritätserfahrungen wichtig: Steiner beschreibt, dass das Stärken der Partnerschaft und bestehender familiärer und freundschaftlicher Kontakte, Sportangebote…, also alle Arten von netzwerktherapeutischen Maßnahmen zur Veränderung von Beziehungen in Familie, Freundeskreis, Nachbarschaft, KollegInnenkreis, zur Erfahrung von Gemeinschaft und Solidarität positive Veränderungen hervorrufen und zur Stabilisierung beitragen. Ebenso helfen die Anschaffung eines Haustieres und natürlich weiterhin leib-, bewegungs- und sporttherapeutische Maßnahmen einschließlich Aktivitäten mit großem Naturbezug (Steiner 2015) Der vierte Weg der Heilung und Förderung ist also in gewisser Weise eine gesellschaftskritische Reflexion der eigenen Krankheit. Petzold und Ellerbrock schreiben, dass nur in positiven zwischenmenschlichen Sozialisationsprozessen mit stimmiger „wechselseitiger Empathie“ Menschen ein „kohärentes Selbst“ und eine „prägnante Identität“ entwickeln (Petzold 2012) können. Kognitiv-empathische Resonanz als „Verstehen“, zwischenmenschlicher Trost als „Verständnis“, kann nur ein Mitmensch geben. Hier muss die Therapeutin / der Therapeut die tröstenden Wirkungen eines vertrauten Tieres verständnisvoll ergänzen. Dazu passen Forschungsergebnisse, die zeigen, dass in allen Formen der Psychotherapie bis zu 30 % der Wirkung der therapeutischen Beziehung zuzuschreiben ist. Nur bis zu 15 % bewirken die Methode, bis 15 % sind Placebo-Effekte, bis zu 40 % der Wirkung sollen bei „extratherapeutischen Faktoren“ liegen (Lambert 2013). Hier können Wirkungen von Tieren, von Landschaften, ökologischen Lebensbedingungen zum Tragen kommen (Petzold, Ellerbrock 2017). Meiner Erfahrung nach laufen in der Psychotherapie mit dem Pferd diese genannten Interventionen „wie von selbst“ mit und müssen nicht künstlich hergestellt werden. „Es ist wirklich faszinierend - am Pferd gibt es keine Zwänge! “, das waren die Worte einer hochreflektierten Patientin, die in ihrem Leben durch ihre Zwänge so eingeschränkt war, dass sie kaum am gesellschaftlichen Alltag teilnehmen konnte und nur mehr ganz selten ihre Wohnung verließ. Allein die Tatsache, eine halbe Stunde Zeit zu verbringen, ohne sich dieser Macht ausgesetzt zu fühlen, versetzten Berge in ihrem Motivationsverhalten, wieder ein Stückchen gegen die Zwänge im Alltag anzukämpfen und nicht aufzugeben. Abb. 5: Gemeinsam in die Zukunft schauen 28 | mup 1|2020 Forum: Bernhart-Preisl - Psychotherapeutisches Reiten als Therapiemöglichkeit Literatur ■ Beetz, A. (2012): Symposium: Verbindung hergestellt? 27.01.2012 in Linz. In: http: / / www. ph-ooe.at/ fileadmin/ Daten_PHOOE/ tagungen/ veranstaltungen_2012/ Verbindung_hergestellt/ Tagungsarchiv/ Linz.Jan2012. plenar3.pdf, 06.09.2019 ■ Bermúdez, J., Marcel, A., Eilan, N. (1995): The body and the self. MIT, Cambridge ■ Feldenkrais, M. (1994): Der Weg zum reifen Selbst. Phänomene menschlichen Verhaltens. Junfermann, Paderborn ■ Hoffmann, N., Hofmann, B. (2011): Wenn Zwänge das Leben einengen. Zwangsgedanken und Zwangshandlungen. 13. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg, https: / / doi. org / 10.1007 / 978-3-642-14666-4_8 ■ Lambert, M. J. (2013): Bergin and Garfield’s Handbook of Psychotherapy and Behavior Change. 6. Aufl. Wiley, New York ■ Leitner, A. (2010): Handbuch der Integrativen Therapie. Springer, Wien ■ McCormick, A., McCormick, R. (2000): Pferde als Heiler. Econ, Düsseldorf ■ Metzmacher, B., Petzold, H., Zaepfel, H. (1995): Therapeutische Zugänge zu den Erfahrungswelten des Kindes. Theorie und Praxis der Integrativen Kindertherapie (Bd. I). Junfermann, Paderborn ■ Papoušek, H., Papoušek, M. (1981): Intuitives elterliches Verhalten im Zwiegespräch mit dem Neugeborenen. Sozial-pädagogische Praxis 3, 229-238 ■ Petzold, H. (1995): Schutzschild und Weggeleit. In: Metzmacher, B., Petzold, H., Zaepfel, H. (Hrsg.) (1995): Therapeutische Zugänge zu den Erfahrungswelten des Kindes. Theorie und Praxis der Integrativen Kindertherapie (Bd. I). Junfermann, Paderborn ■ Petzold, H. (1992): Integrative Therapie. Klinische Theorie (Bd. 2). Junfermann, Paderborn ■ Petzold, H. (1991): Integrative Therapie. Klinische Philosophie (Bd. 1). Junfermann, Paderborn ■ Petzold, H. (1981): Widerstand - ein strittiges Konzept der Psychotherapie. Junfermann, Paderborn ■ Petzold, H., Ellerbrock, B. (2017): Du Mensch - Ich Tier? „Gefährtenschaft“ und „Begegnungsevidenz“. Tiergestützte Therapie im Integrativen Verfahren. Green Care - Die Fachzeitschrift für naturgestützte Intervention 3, 3-6 ■ Petzold, H., Leuenberger, R., Steffan, A. (2019): Ziele in der Integrativen Therapie. In: http: / / www. integrative-therapie.ch/ ziele.htm) 20.07.2019 ■ Petzold, H. Moser, S., Orth, I. (2012): Euthyme Therapie. Heilkunst und Gesundheitsförderung in asklepiadischer Tradition. Ein integrativer und behavioraler Behandlungsansatz „multipler Stimulierung“ und „Lebensstilveränderung“. Psychologische Medizin 2, 2-56 ■ Petzold, H., Orth, I., Sieper, J. (2014): Neue Wege der Psychotherapie. Springer, Wiesbaden ■ Petzold, H., Orth, I. (1998): Wege zu „fundierter Kollegialität“ - innerer Ort und äußerer Raum der Souveränität. In: Slembek, E., Geißner, H. (Hrsg.) (1998): Feedback. Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert ■ Reichel, R., Brunner, F., Enk, Jobst, A., Magdowski, R. (2018). Depression aus Sicht der Integrativen Therapie. Resonanzen 1, 40-66 ■ Salkovskis, P. (2009): Psychotherapie. In: Schweizer Gesellschaft für Zwangsstörungen. In: https: / / www.zwaenge.ch/ de/ psychotherapie 06.09.2019 ■ Steiner, H. (2015): Grüner Daumen gegen Depression. Zur Bedeutung der Integrativen Gartentherapie. Masterthesis. Donau-Universität Krems, Krems. In: http: / / webthesis.donau-uni.ac.at/ thesen / 94436.pdf 06.09.2019 ■ Weiger, M., Heintz, B. (2008): Forschung zu Psychotherapie mit dem Pferd. In: http: / / www. psyche-und-pferd.de/ forschung.htm 06.09.2019 ■ Zeeb, K. (2006): Wie das Pferd den Menschen spiegelt. In: http: / / www.dressur-studien.de/ klaus-zeeb-wie-das-pferd-den-menschen-spiegelt/ 25.09.2019 Die Autorin Mag. Dipl.-Päd. Nina Bernhart-Preisl, MSc Psychotherapeutin (Integrative Therapie), Psychotherapeutin für Kinder & Jugendliche, Sonder- & Heilpädagogin, Sonderschul- und Beratungslehrerin, Therapeutin für Heilpädagogisches Reiten / Voltigieren, Integratives Reiten, Zusatzqualifikation Motopädagogik, -geragogik, Sensorische Integration Anschrift Nina Bernhart-Preisl · Tullnerstraße 18 · A-3424 Zeiselmauer nina.bernhart@aon.at · www.therapie-bernhart.com