mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mup2020.art12d
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Stichwort: Bindung
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Karin Hediger
Bindung beschreibt eine spezifische Form der sozialen Beziehung. Die Bindungstheorie geht auf John Bowlby (Bowlby 1969/1982) zurück, der mit Bindung die emotionale Beziehung zwischen einem Kind und seiner Pflegeperson beschrieb, während das Konzept heute auch auf andere zwischenmenschliche Beziehungen wie beispielsweise Partnerschaften oder Mensch-Tier-Beziehungen angewendet wird. [...]
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82 | mup 2|2020|82-84|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2020.art12d Stichwort Bindung Karin Hediger Bindung beschreibt eine spezifische Form der sozialen Beziehung. Die Bindungstheorie geht auf John Bowlby (Bowlby 1969/ 1982) zurück, der mit Bindung die emotionale Beziehung zwischen einem Kind und seiner Pflegeperson beschrieb, während das Konzept heute auch auf andere zwischenmenschliche Beziehungen wie beispielsweise Partnerschaften oder Mensch- Tier-Beziehungen angewendet wird. Gemäß Bowlby ist Bindung evolutionär angelegt und hat eine Überlebensfunktion (Bowlby 2009). Es ist ein Verhaltenssystem, welches zum Ziel hat, das Kind in potenziell gefährlichen und stressigen Situationen zu schützen, indem es die Nähe zu einer Bindungsperson herstellt. Dementsprechend gibt es angeborene Bindungsverhaltensweisen, die dem Säugling das Herstellen von Nähe zu einer Pflegeperson ermöglichen. Dazu gehören „Signalverhaltensweisen“ wie Weinen, Lächeln, Anblicken oder Rufen und „Annäherungsverhaltensweisen“ wie Anklammern oder Nachkrabbeln. Eng verknüpft und komplementär zum Bindungssystem ist das Fürsorgesystem, welches ebenfalls biologisch verankert ist (Bowlby 2010). Dieses führt dazu, dass das Bindungsverhalten des Kindes bei den Bezugspersonen feinfühliges Pflegeverhalten auslöst. Die Bezugspersonen reagieren dabei auf das Bindungsverhalten des Kindes, indem sie es zu sich nehmen, berühren, beruhigen und seine Bedürfnisse befriedigen, indem es beispielsweise gestillt wird, wenn es Hunger hat. In Abhängigkeit von der Qualität vergangener Beziehungserfahrungen entwickeln Kinder unterschiedliche internale Arbeitsmodelle (Ainsworth et al. 1978; Weinfield et al. 2008). Diese spiegeln die Bindungsqualität und werden auch als Bindungsmuster bezeichnet. Sicheres Bindungsmuster Im Arbeitsmodell sicher gebundener Kinder sind Bindungsfiguren als verfügbar, feinfühlig, zuverlässig und unterstützend repräsentiert. Die Kinder haben die Erfahrung gemacht, dass ihre Signale von den Bezugspersonen richtig interpretiert und prompt beantwortet werden (Grossmann/ Grossmann, 2004). Sicher gebundene Kinder vertrauen deshalb auf die Unterstützung ihrer Bezugspersonen und können ihre Umwelt frei explorieren. In belastenden Situationen suchen sie aktiv Nähe, Trost und Unterstützung. Zudem haben sie gelernt, emotionale Betroffenheit auszudrücken und eigene Gefühle zu äußern, da die Äußerung negativer Gefühle von den Bezugspersonen feinfühlig beantwortet worden ist (Julius 2009). Unsicher-vermeidendes Bindungsmuster Im Arbeitsmodell unsicher-vermeidend gebundener Kinder sind Bindungsfiguren als zurückweisend und nicht unterstützend repräsentiert, weil ihre Signale von den Bezugspersonen nicht beachtet, zurückgewiesen oder falsch interpretiert worden sind. Um eine weitere Zurückweisung zu vermeiden, suchen diese Kinder in belastenden Stichwort: Hediger - Stichwort Bindung mup 2|2020 | 83 Situationen keine Nähe, Trost und Unterstützung, sondern versuchen sich selbst zu regulieren, indem sie ein erhöhtes Explorationsverhalten zeigen und sich beispielsweise mit Spielsachen ablenken (Spangler/ Schieche 2009). Unsichervermeidend gebundene Kinder haben gelernt, dass das Äußern negativer Gefühle nicht zur gewünschten Unterstützung führt, zeigen daher ihre Gefühle nicht mehr und haben einen stark eingeschränkten Zugang zu ihren eigenen Gefühlen (Julius 2009). Unsicher-ambivalentes Bindungsmuster Bei unsicher-ambivalent gebundenen Kinder sind die Bindungsfiguren als unberechenbar repräsentiert aufgrund der Erfahrung, dass das elterliche Sorgeverhalten unberechenbar ist und die Bezugspersonen mal feinfühlig, mal unfeinfühlig auf die kindlichen Signale reagieren. Kinder mit diesem Bindungsmuster reagieren mit gesteigertem Bindungsverhalten und suchen ständig die Nähe der Bezugsperson, da sie sich deren Verfügbarkeit nicht sicher sein können. Folgen davon sind Anhänglichkeit, gesteigerte Ängstlichkeit oder Trennungsangst. Gleichzeitig zeigen diese Kinder teilweise auch Ärger oder aggressives Verhalten gegenüber ihren Bindungsfiguren, weil diese ihre Bindungsbedürfnisse nicht beachten. In genau diesem Gegensatz manifestiert sich die Ambivalenz der unsicher-ambivalent gebundenen Kinder (Fremmer-Bombik 2009). Desorganisiertes Bindungsmuster Desorganisiert gebundene Kinder sind in ihrem Arbeitsmodell selbst als in belastenden Situationen hilflos repräsentiert (Solomon/ George 1999) und die Bindungsfiguren als Personen, die in solchen Situationen keine Sicherheit bieten können (LyonsRuth/ Jacobvitz 2008). Dies ist die Folge von Zurückweisung und Vernachlässigung, häufigen Trennungsdrohungen und physischer oder sexueller Misshandlung durch die Bezugspersonen. Die Bezugsperson wird somit selbst zum angstauslösenden Objekt und das Kind kann keine organisierte Bindungsstrategie entwickeln (Main 2009). Bindung bei Mensch und Tier Bindungs- und Fürsorgeverhalten sind nicht ausschließlich menschliche Eigenschaften, sondern werden von vielen anderen Wirbeltieren, insbesondere Säugetieren, gezeigt. Die Bindungstheorie gilt heute als eines der grundlegenden Konzepte zur Erklärung der Mensch-Tier-Beziehung (Julius et al. 2014). Aus bindungstheoretischer Sicht wird eine Bindung, respektive eine Bindungsfigur, anhand von vier Kriterien charakterisiert: 1. Es wird versucht, die Nähe zur Bindungsfigur aufrechtzuerhalten. 2. Bei einer Trennung von der Bindungsfigur entsteht Disstress. 3. Die Bindungsfigur dient bei Gefahr als sicherer Hafen. 4. Die Bindungsfigur wird als sichere Basis zur Exploration benutzt. Zudem vermittelt die Bindungsfigur Sicherheit, hilft Stress zu regulieren und die Bindung zu ihr ist in einem Arbeitsmodell repräsentiert. Auch wenn die Bindung zu Tieren eine andere Qualität als die Bindung zu einem Menschen aufweist und beispielsweise nicht gleichermaßen Die Autorin Dr. Karin Hediger ist Psychotherapeutin und leitet eine Forschungsgruppe an der Universität Basel, die sich mit der Mensch-Tier Beziehung und den Effekten von tiergestützter Therapie beschäftigt. Anschrift Dr. Karin Hediger · Universität Basel · Fakultät für Psychologie Klinische Psychologie und Psychotherapie · Missionsstrasse 62 CH-4055 Basel · karin.hediger@unibas.ch psychologie.unibas.ch/ de/ kppt 84 | mup 2|2020 Stichwort: Hediger - Stichwort Bindung auf Reziprozität beruht, so gibt es mittlerweile diverse Hinweise darauf, dass die Beziehung zu Tieren all diese oben genannten Merkmale erfüllt (Beetz 2009; Hediger 2012; Julius et al. 2014; Kurdek 2009a/ 2009b). Es darf daher angenommen werden, dass Menschen zu Tieren Bindungen im bindungstheoretischen Sinne aufbauen - und Tiere umgekehrt auch zu Menschen (Ryan et al. 2019; Solomon et al. 2019; Wanser/ Udell 2019). Literatur ■ Ainsworth, M. D. S., Blehar, M. C., Waters, E., Wall, S. (1978): Patterns of attachment: A psychological study of the Strange Situation. Erlbaum, Hillsdale/ NJ, https: / / doi.org/ 10.1037/ t28248-000 ■ Beetz, A. (2009): Psychologie und Physiologie der Bindung zwischen Mensch und Tier. In: C. 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(2012): Hunde und die Stressreaktion unsicher und desorganisiert gebundener Kinder. Cuvillier, Göttingen ■ Julius, H. (2009): Bindung und familiäre Gewalt-, Verlust- und Vernachlässigungserfahrungen. In: H. Julius, B. Gasteiger-Klicpera, R. Kissgen (Hrsg.): Bindung im Kindesalter. Diagnostik und Interventionen. Hogrefe, Göttingen, 13-26 ■ Julius, H., Beetz, A., Kotrschal, K., Turner, D. C., Uvnäs-Moberg, K. (2014): Bindung zu Tieren. Psychologische und neurobiologische Grundlagen tiergestützter Interventionen. Hogrefe, Göttingen ■ Kurdek, L. A. (2009a): Pet dogs as attachment figures for adult owners. Journal of Family Psychology 23(4), 439-446, doi: 10.1037/ a0014979 ■ Kurdek, L. A. (2009b): Young Adults’ Attachment to Pet Dogs: Findings from Open-Ended Methods. Anthrozoös 22(4), 359-369, doi: 10.275 2/ 089279309x12538695316149 ■ Lyons-Ruth, K., Jacobvitz, D. (2008): Attachment Disorganization: Genetic Factors, Parenting Contexts, and Developmental Transformation from Infancy to Adulthood. In: J. Cassidy, P. R. Shaver (Hrsg.): Handbook of Attachment: Theory, Research, and Clinical Applications. 2. Aufl. The Guilford Press, New York, 666697 ■ Main, M. (2009): Desorganisation im Bindungsverhalten. In: G. Spangler, P. Zimmermann (Hrsg.): Die Bindungstheorie. Grundlagen, Forschung und Anwendung. Klett-Cotta, Stuttgart, 120-139 ■ Ryan, M. G., Storey, A. E., Anderson, R. E., Walsh, C. J. (2019): Physiological Indicators of Attachment in Domestic Dogs (Canis familiaris) and Their Owners in the Strange Situation Test. Front Behav Neurosci 13, 162, doi: 10.3389/ fnbeh.2019.00162 ■ Solomon, J., Beetz, A., Schoberl, I., Gee, N., Kotrschal, K. (2019): Attachment security in companion dogs: adaptation of Ainsworth’s strange situation and classification procedures to dogs and their human caregivers. 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