eJournals mensch & pferd international 12/3

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mup2020.art20d
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Stichwort: Inklusion

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Marie-Christine Vierbuchen
Der Begriff Inklusion wird spätestens seit 2009 häufig und in verschiedensten Kontexten wie z.B. Sport, Politik, Bildung oder Kultur genannt. Aber welche Bedeutung steckt eigentlich dahinter und welche weiteren Begrifflichkeiten sind hier wichtig? [...]
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mup 3|2020|135-137|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2020.art20d | 135 Marie-Christine Vierbuchen Stichwort Inklusion Abb. 5: Glückliche Klienten in Ecuador Der Begriff Inklusion wird spätestens seit 2009 häufig und in verschiedensten Kontexten wie z. B. Sport, Politik, Bildung oder Kultur genannt. Aber welche Bedeutung steckt eigentlich dahinter und welche weiteren Begrifflichkeiten sind hier wichtig? Im Jahr 2009 hat Deutschland die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (‚Convention On The Rights Of Persons With Disabilities‘, United Nations, 2006) ratifiziert. Sie wurde in einem intensiven Prozess internationaler Zusammenarbeit von verschiedenen Personenkreisen, unter anderem von Menschen mit Behinderungen, entwickelt. Mit der Ratifizierung ist Inklusion geltendes Recht in Deutschland. Die Europäische Union ist seit 2011 daran gebunden und unterstützt die Umsetzung in ihrem Wirkungsbereich im Rahmen ihrer Zuständigkeiten. Die 50 Artikel der Konvention fordern umfassende Teilhabe von Menschen mit Behinderung am alltäglichen Leben und in der Gesellschaft. Die Entwicklung zu einer inklusiven Gesellschaft ist eine umfassende gesamtgesellschaftliche Aufgabe, damit ist jede einzelne Person angesprochen. Viele Bemühungen wiesen bereits vor 2009 in diese Richtung. Inklusion hat eine lange Vorgeschichte an rechtlichen und normativen Entwicklungen: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, der UN-Sozialpakt und die Kinderrechtskonvention sind Beispiele hierfür. Aber auch in der Pädagogik z. B. waren einige Konzepte der Reformpädagogik oder der Integration wegweisend. Die UN-Konvention baut auf einem sogenannten ‚engen‘ Verständnis von Inklusion auf, dadurch, dass sie Menschen mit Behinderungen im Fokus sieht und (nicht nur, aber vor allem) für diese Zielgruppe eine Weiterentwicklung von Partizipation und Chancengerechtigkeit sowie dem Abbau von Barrieren fordert. Viele weitere Dokumente und Regularien orientieren sich an einem ‚weiten‘ Inklusionsbegriff. Dabei werden neben Behinderung zusätzlich viele weitere Diversitätsmerkmale wie z. B. Geschlecht, sozioökonomischer Hintergrund, Herkunft, familiärer Status, Bildung oder Kultur berücksichtigt. Unsere heterogene Gesellschaft muss sich so entwickeln, dass jede Person abhängig von ihren Vorlieben und Wünschen, aber unabhängig von ihren Voraussetzungen und Ressourcen an allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens teilhaben kann und dazu die notwendige Unterstützung erhält, bzw. die Bedingungen so angepasst werden, dass der barrierefreie Zugang möglich ist. Barrierefrei meint nicht nur den Abbau baulicher Hindernisse für den Zugang zu Räumlichkeiten, sondern auch z. B. die Überwindung sprachlicher Barrieren in der Kommunikation und Interaktion oder die Senkung digitaler Barrieren für die Nutzung des Internets. Ziel ist nicht nur dabei sein, sondern aktiv mitgestalten zu können! Inklusion fordert einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Gesellschaft für alle und das 136 | mup 3|2020 Stichwort: Vierbuchen - Inklusion Erkennen und Überwinden von Barrieren. Die rechtliche Lage ist eindeutig; die Umsetzung im realen Alltag bleibt an vielen Stellen aber immer noch weit hinter den Ansprüchen zurück. Inklusion ist als ein Prozess zu verstehen, in dem es um den Abbau von Diskriminierung und den Aufbau von Chancengerechtigkeit geht. Welche Rahmenbedingungen muss eine Struktur inklusiver (Bildungs-)Systeme erfüllen, um die rechtlichen Ansprüche erfüllen zu können? Eine Antwort auf diese Frage gibt das ‚4-A Schema‘ von Tomasevski (2001; Lindmeier 2005). Hier wurden vier übergeordnete Merkmale (Availability, Accessibility, Acceptability und Adaptability) zusammengetragen, die das Recht auf Bildung, die Rechte in der Bildung und die Rechte durch Bildung ausdrücken (Tomasevski, 2001, S. 12). Availability heißt Erreichbarkeit oder Verfügbarkeit funktionsfähiger Systeme: Wo ist die nächste Schule, die ich besuchen kann? Gibt es dort adäquat ausgebildete Lehrkräfte, die den Unterricht so gestalten, dass er meine Bedarfe erfüllen kann? Adaptability meint eine Anpassung der Systeme (z. B. der Schule) auf Lebenslagen und Persönlichkeiten ohne Diskriminierung. Die Bedürfnisse von unterschiedlichen Personen (z. B. verschiedene soziale oder kulturelle Hintergründe, Kinder mit Behinderungen) müssen flexibel erfüllt werden können. Nicht die Personen sollen sich an das System anpassen, sondern das System sich an die Personen und ihre Bedarfe. Accessibility bedeutet Zugänglichkeit. Die Systeme müssen barrierefrei sein, jede Person soll Zugang durch notwendige Ressourcen und Unterstützung ohne wirtschaftliche Schranken erhalten. Ein wichtiges Thema in diesem Bereich ist die ökonomische Zugänglichkeit von Bildung: Ist unsere Bildung für alle finanzierbar? Oder werden durch teure Bildungsangebote im Bereich der Grundbildung bestimmte Personengruppen systematisch ausgeschlossen? Acceptablity verdeutlicht, dass Form und Inhalt von Bildung auf die Lernenden abgestimmt sein sollen. Das jeweilige Curriculum soll akzeptierbar, bedeutsam und von hoher Qualität sein. Es geht also auch um die Lebenswelt der Lernenden. Wird Unterschiedlichkeit respektiert? Gibt es Minimalstandards? Welche Rechte haben Lernende? Aus diesem 4-A Schema lassen sich auch Aspekte auf den Kontext von Mensch und Pferd transferieren: Wo kann eine Person, die eine Beeinträchtigung hat, Reitunterricht oder Kontakt zu Pferden bekommen und sich im Stallalltag einbringen? Kann der Reitunterricht vielleicht statt rein lautsprachlich zusätzlich mit groß gedruckten Karten mit Hinweisen oder Abbildungen unterstützt durchgeführt werden? Kostet ein so angepasster Reitunterricht genauso viel? Haben Personen mit Einschränkungen die gleiche Möglichkeit, genauso hohe Erwartungen im Reitunterricht erfüllen zu können oder wird ihnen von Anfang an weniger zugetraut? Usw. Inklusion wird auch in den Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDG) der UNESCO (2017), also erneut international und übergreifend gemeinsam von den Vereinten Nationen erarbeitet, explizit benannt, z. B. im vierten Ziel ‚Hochwertige Bildung - Inklusive, gerechte und hochwertige Bildung gewährleisten und Möglichkeiten des lebenslangen Lernens für alle fördern‘ und ist so ein wichtiger Teil der Globalen Nachhaltigkeitsagenda. Hier stehen bereits genannte Aspekte wie Gerechtigkeit und hochwertig oder qualitativ anspruchsvoll im Fokus, aber auch das Lebenslange Lernen ist für Inklusion natürlich ein wichtiges Konzept. Hinter dem Begriff der Inklusion verbergen sich also viele Dimensionen, die eine weitreichende Bedeutung für uns alle besitzen. Jede und jeder von uns kann diese Entwicklungen voranbringen und Teil einer Gesellschaft auf dem aktiven Weg zur nachhaltigen Gestaltung von Inklusion sein. Wo können Sie selbst in Ihrem Umfeld Stichwort: Vierbuchen - Inklusion mup 3|2020 | 137 Partizipation ermöglichen, Chancengerechtigkeit steigern und Barrieren abbauen? Literatur ■ Lindmeier, B. (2005): Von der Integration in die Gemeinde zur inklusiven Gemeinde - Begriffswechsel oder Neuformulierung der Zielsetzung? Sonderpädagogische Förderung, 48, 348-364. ■ Tomasevski, K. (2001): Human rights obligations: Making education available, accessible, acceptable and adaptable. Right to Education Primers, no. 3. Gothenburg, Sweden: Novum Grafiska AB. https: / / www.right-to-education. org/ sites/ right-to-education.org/ files/ resourceattachments/ Tomasevski_Primer%203.pdf, 20.03.2020 ■ UNESCO - United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (2017): Education for Sustainable Development Goals. Learning Objectives. Paris: UNESCO. http: / / unesdoc. unesco.org/ images/ 0024/ 002474/ 247444e.pdf, 20.03.2020 ■ United Nations (2006): UN-Convention on the Rights of Persons with Disabilities. http: / / www. un.org/ disabilities/ convention/ conventionfull. shtm, 20.03.2020 Die Autorin Prof. Dr. Marie-Christine Vierbuchen ist Juniorprofessorin für Inklusive Bildung an der Universität Vechta. Zuvor arbeitete sie an der Universität Oldenburg in der Sonderpädagogik. Anschrift Prof. Dr. Marie-Christine Vierbuchen · Universität Vechta Driverstraße 22 · 49377 Vechta Marie-Christine.Vierbuchen@uni-vechta.de Tierisch gut Vertrauen schaffen Basierend auf wissenschaftlich fundierten traumatherapeutischen Konzepten und dem aktuellen Forschungsstand zur pferdegestützten Arbeit werden Methoden, Voraussetzungen, aber auch Grenzen und Risiken anschaulich dargestellt. Anhand des Fallbeispiels der 16-jährigen Hannah und ihres Therapiepferdes Tamino ermöglichen die Autorinnen einen Einblick in die pferdegestützte Traumatherapie. Das Buch gibt eine Übersicht über Wirkung und Umsetzung pferdegestützter Interventionen in der Traumatherapie und schafft so eine Grundlage für die Weiterentwicklung dieses Therapiebereichs. Karin Hediger / Roswitha Zink Pferdegestützte Traumatherapie Mit 24 Fotos und 3 Tabellen. (mensch & tier) 2., aktualisierte Auflage 2020. 164 Seiten. 24 Abb. 3 Tab. (978-3-497-02967-9) kt a w