mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mup2020.art26d
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Stichwort: Skala der Ausbildung
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Inge Schlederer-Mayr
Die Skala der Ausbildung bezeichnet in der klassischen Reitlehre ein Ausbildungssystem, das auf den Grundprinzipien alter Meister aufbaut, aber auch durch neue, dem Wohl der Pferde entgegenkommende Erkenntnisse ergänzt wird. Die klassische Reitlehre stellt das Wohl der Pferde an oberste Stelle – unter Berücksichtigung der natürlichen, körperlichen Begebenheiten der Pferde. Sie zielt auf eine faire Ausbildung ab und dient der korrekten und ausgewogenen Gymnastizierung und Kräftigung des Tieres. So soll die Ausbildung vielseitig und abwechslungsreich gestaltet werden, um einerseits die Leistungsbereitschaft des Pferdes erhalten zu können und andererseits vertrauensvolle Mitarbeit zu erlangen. Voraussetzung dafür ist ein elastischer und ausbalancierter Sitz des Reiters, gefühlvolle Hilfengebung und Verständnis für das Verhalten des Pferdes. [...]
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180 | mup 4|2020|180-182|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2020.art26d Stichwort Skala der Ausbildung Inge Schlederer-Mayr Die Skala der Ausbildung bezeichnet in der klassischen Reitlehre ein Ausbildungssystem, das auf den Grundprinzipien alter Meister aufbaut, aber auch durch neue, dem Wohl der Pferde entgegenkommende Erkenntnisse ergänzt wird. Die klassische Reitlehre stellt das Wohl der Pferde an oberste Stelle - unter Berücksichtigung der natürlichen, körperlichen Begebenheiten der Pferde. Sie zielt auf eine faire Ausbildung ab und dient der korrekten und ausgewogenen Gymnastizierung und Kräftigung des Tieres. So soll die Ausbildung vielseitig und abwechslungsreich gestaltet werden, um einerseits die Leistungsbereitschaft des Pferdes erhalten zu können und andererseits vertrauensvolle Mitarbeit zu erlangen. Voraussetzung dafür ist ein elastischer und ausbalancierter Sitz des Reiters, gefühlvolle Hilfengebung und Verständnis für das Verhalten des Pferdes. Die Skala der Ausbildung beinhaltet sechs Punkte und stellt das Herzstück der klassischen Reitlehre dar. 1. Takt: Unter Takt versteht man das Gleichmaß aller Bewegungen (Schritte, Tritte und Sprünge) des Pferdes. Somit soll im Schritt und Tölt ein klarer Viertakt, im Trab ein Zweitakt und Galopp ein Dreitakt erritten werden können. 2. Losgelassenheit: Unter Losgelassenheit versteht man ein Maß an physischer und psychischer Entspannungsfähigkeit des Pferdes. Diese gewährleistet ein unverkrampftes An- und Abspannen der Muskulatur bei innerer Gelassenheit des Tieres. Anzeichen eines losgelassenen Pferdes sind ein gleichmäßig pendelnder Schweif, das gleichmäßige Schwingen des Pferderückens, gleichmäßige, harmonische Bewegungen sowie das hörbare Abschnauben. 3. Anlehnung: Unter Anlehnung versteht man die stetige, weich federnde Verbindung zwischen Reiterhand und Pferdemaul. Eine korrekte Anlehnung darf niemals über ein Zurückziehen der Hand erzwungen werden, vielmehr sollte das Pferd sich durch die treibende Einwirkung an die Hand herandehnen. Die Haltung des Pferdes muss dem Gebäude, der Gangart und dem Tempo des Pferdes angepasst sein, wobei das Genick bei korrekter Anlehnung immer den höchsten Abb. 1: Skala der Ausbildung (erstellt in Anlehnung an Deutsche reiterliche Vereinigung FN 2013, 12) Gleichgewicht Entwicklung der Tragkraft Entwicklung der Schubkraft Gewöhnungsphase Takt Losgelassenheit Versammlung Anlehnung Geraderichtung Schwung Durchlässigkeit Stichwort: Schlederer-Mayr - Skala der Ausbildung mup 4|2020 | 181 Punkt darstellen und die Stirn-Nasenline des Pferdes vor der Senkrechten bleiben sollte. 4. Schwung: Als Schwung bezeichnet man die Übertragung eines energischen Impulses aus der Hinterhand über den schwingenden Rücken auf die gesamte Vorwärtsbewegung des Pferdes. Schwung entsteht durch das vermehrte Herantreiben der Hinterhand eines gelösten Pferdes bei Beibehaltung des Taktes. Dadurch wird die Sprungphase der jeweiligen Gangart verlängert. Gemäß seiner Definition ist Schwung ausschließlich in den Gangarten Trab und Galopp zu erreiten. 5. Geraderichtung: Unter Geraderichtung versteht man das Gymnastizieren beider Körperhälften des Pferdes, um die gegebene natürliche Schiefe ausgleichen zu können. Das Pferd ist geradegerichtet, wenn die Vorhand so auf die Hinterhand eingestellt ist, dass sich Vor- und Hinterhand in einer Spur bewegen, unabhängig davon, ob auf gerader oder gebogener Linie geritten wird. Geraderichtung verlangt bereits ein hohes Maß an Ausbildung des Pferdes, so muss es verwahrende, vorwärts- und seitswärtstreibende Schenkelhilfen sowie verwahrende und seitwärtsweisende Zügelhilfen annehmen und akzeptieren, um Übungen wie Reiten in Stellung, Schulterherein, Schenkelweichen - welche allesamt positiven Einfluss auf die Geraderichtung des Pferdes haben - korrekt laufen zu können. 6. Versammlung: Der höchste Punkt der Skala der Ausbildung ist die Versammlung, welche ein leichtfüßiges Ausbalancieren mit herangeschlossenen Hinterbeinen und vermehrt gebeugten Hanken in selbst getragener Haltung meint. Die Vorhand bewegt sich dabei leicht und frei, der Rücken befindet sich in einem Zustand elastisch positiver Spannung. Das Pferd hebt sich durch die vermehrte Lastaufnahme und aktivere Hankenbeugung (Hanken bezeichnen die Knie- und Hüftgelenke des Pferdes) mehr, das Genick ist der höchste Punkt. Versammelnde Übungen verlangen ein hohes Maß an Grundgehorsam und Ausbildung des Pferdes. Die Skala der Ausbildung kann einerseits als Richtlinie für die Pferdeausbildung dienen, aber auch als Leitgedanke für einen sinnvollen Abb. 2: Ein alternatives Darstellungsmodell? Takt Gleichgewicht und Durchlässigkeit Entwicklung der Tragkraft Entwicklung der Schubkraft Gewöhnungsphase Losgelassenheit Versammlung Anlehnung Geraderichtung Schwung 182 | mup 4|2020 Stichwort: Schlederer-Mayr - Skala der Ausbildung Stundenaufbau herangezogen werden. Man ordnet die sechs Punkte der Skala der Ausbildung drei wichtigen Entwicklungsschritten zu, welche ineinander greifen. So spricht man von einer Gewöhnungsphase, in der Takt, Losgelassenheit und Anlehnung erreicht werden sollen, außerdem spielen Losgelassenheit, Anlehnung, Schwung und Geraderichtung eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Schubkraft im nächsten Ausbildungsschritt. Die Entwicklung der Tragkraft wird beeinflusst durch Anlehnung, Schwung, Geraderichtung und Versammlung. Je besser die Ausbildung des Pferdes, je leichter abrufbar die einzelnen Punkte, umso mehr werden Gleichgewicht und Durchlässigkeit verfeinert. Dennoch kann man die einzelnen Punkte der Skala der Ausbildung niemals als abgeschlossen betrachten, sie müssen in jeder Einheit abrufbar sein können. So sollte jede einzelne Reiteinheit damit beginnen, Takt, Losgelassenheit und Anlehnung zu erreichen. Außerdem sollte man beachten, dass die einzelnen Punkte der Skala der Ausbildung sich gegenseitig bedingen und beeinflussen. So kann sich ein Pferd, welches nicht gänzlich losgelassen ist, niemals so taktklar bei guter Anlehung bewegen, wie ein Pferd, welches locker und geschmeidig (und damit losgelassen) vorwärts geht. Zu hinterfragen ist es daher, ob es sinnvoll ist, die Skala der Ausbildung als linear zu betrachten. Angemessener erscheint es hingegen, sich die Skala der Ausbildung als eine Art Kreissystem vorzustellen, bei der alle Teile miteinander zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen. Literatur ■ Deutsche reiterliche Vereinigung e. V. (FN) (Hrsg.) (2013): Grundausbildung für Pferd und Reiter. Richtlinien für Reiten und Fahren. Band 1. 29. Aufl. FN Verlag, Warendorf ■ Feldmann, W.; Rostock, A. (2008): Islandpferdereitlehre. Leitfaden für Haltung, Ausbildung und Reiten von Islandpferden und anderen Freizeitpferderassen. 20. Aufl. in puncto druck + medien gmbh, Bonn Die Autorin Inge Schlederer-Mayr Islandpferdereitlehrerin FENA (vgl. Trainer A), nationale Islandpferderichterin, langjährige Tätigkeit als Ausbildnerin vom Jungpferd bis zum Turnierpferd sowie als Trainerin zahlreicher erfolgreicher Turnierreiter Kontakt Inge Schlederer-Mayr · Lichtegg 1 · A-4770 Andorf isihof@aon.at
