eJournals mensch & pferd international 12/4

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mup2020.art28d
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Recht & Sicherheit: Gefahrenbewusstsein in der Reitpädagogik und Reittherapie

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2020
Sabine Dell'mour
Die besondere Eignung und Ausbildung jener Pferde, die im Kontext von Therapie oder Pädagogik ihren Einsatz finden, verleiteten mitunter zu gewagten Aktionen. Die große Zahl der Bilder und Fotos legen von dieser leichtfertigen Leugnung der „typischen Tiergefahr“ Zeugnis ab. Auch wenn viele dieser Aktionen den Therapie- oder Lernzielen geschuldet sind, muss die Sicherheit für den Kunden vorangestellt sein. [...]
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mup 4|2020|189-193|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2020.art28d | 189 Sabine Dell’mour Recht & Sicherheit Gefahrenbewusstsein in der Reitpädagogik und Reittherapie Aspekte und Praxisbeispiele Die besondere Eignung und Ausbildung jener Pferde, die im Kontext von Therapie oder Pädagogik ihren Einsatz finden, verleiteten mitunter zu gewagten Aktionen. Die große Zahl der Bilder und Fotos legen von dieser leichtfertigen Leugnung der „typischen Tiergefahr“ Zeugnis ab. Auch wenn viele dieser Aktionen den Therapie- oder Lernzielen geschuldet sind, muss die Sicherheit für den Kunden vorangestellt sein. Über das Einhalten von Sorgfaltsmaßstäben hinaus, kann ein weiter gefasster Zugang zum Thema Sicherheit der Entwicklung eines Gefahrenbewusstseins hinsichtlich der Besucher und Kunden förderlich sein. Im Folgenden werden vier Aspekte aufgezeigt, die für ein differenziertes Gefahrenbewusstsein relevant sein können. Zwei Aspekte betreffen sozioökologische Phänomene sowie allgemeine und spezifische Kriterien und die damit verbundenen Gefahren. Diese Entscheidungsfelder unterstützen bei der Planung professioneller Sicherheitskonzeptionen. Eine Auswahl davon wird in diesem Artikel vorgestellt. Aspekt sozioökologische Entwicklung - Gefahrenbewusstsein „Naturentfremdung“ Ein Leben in und mit der Natur heißt, ihre Zeichen zu erkennen und richtig zu deuten. Die zunehmende Urbanisierung, aber auch der vermehrte Rückzug in die eigenen vier Wände, der mithin bereits auch im ländlichen Raum zum täglichen Bild gehört, haben zur Reduktion naturbezogener Kompetenzen geführt. Die Fähigkeit, durch achtsame Naturbeobachtung bedeutsame Erkenntnisse für das eigene Verhalten finden zu können, verkümmert. Digitalisierung und Technisierung tragen zusätzlich dazu bei, dass ein Großteil der Bevölkerung große Unsicherheit im Umgang mit Tieren und der Natur zeigt. Das fehlende Wissen und die fehlende Erfahrung zeigen sich beispielsweise in der deutlichen Zunahme von Bergrettungseinsätzen. Eine falsche Einschätzung der Gefahr zeigt sich auch beim Ausritt während eines Sturmes. Allein aus der Tatsache, dass jemand ein Pferd hat, kann nicht abgeleitet werden, dass artspezifische Bedürfnisse bekannt sind, erkannt werden und der Umgang mit dem Pferd somit als sicher bewertet werden kann. Die Kenntnis über das Fehlen naturbezogener Kompetenzen muss zu der Annahme führen, dass erst recht von Kunden weder Vorwissen noch Vorerfahrungen in puncto Aufenthalt auf einem Pferdebetrieb noch im Umgang mit Pferden erwartet werden können. Aspekt sozioökologische Entwicklung - Gefahrenbewusstsein „Verlust von Alltagstauglichkeit“ Die Erfahrung, dass nur das „Da- Sein“ ungeahnte Wirkzusammenhänge in Gang bringt, befördert die Entwicklung eines Allmachtsgefühls. Im Mythos von der Erschaffung der Welt heißt der göttliche Satz: „Es werde Licht! “ Menschen des 21. Jahrhunderts können jedoch Wunder bewirken, ohne zu sprechen: Lichter 190 | mup 4|2020 Recht & Sicherheit : Dell’mour - Gefahrenbewusstsein in der Reitpädagogik und Reittherapie gehen an und erhellen den Weg nur beim bloßen Erscheinen! Klares Wasser sprudelt aus der Armatur, quasi durch Handauflegen! Türen öffnen und schließen sich wie von Zauberhand! Also welch anderer Schluss sollte gezogen werden, als jener der gottähnlichen Großartigkeit? Der Gegenstandsbezug fehlt zur erbrachten Handlung - notwendige Handlungszusammenhänge können somit nicht mehr erkannt werden. Wenn dann auch noch Lieferservice und Mikrowelle zum Alltag gehören, können relevante Prozesse von Ursache und Wirkung nicht nachvollzogen werden. Die fehlende Handlungskompetenz bezüglich Alltagstätigkeiten lässt die Übernahme von Eigenverantwortung gleich Null schrumpfen. Verantwortung wird an andere delegiert. Machbarkeitsphantasien vergiften Realitätsbezüge und machen auch vor den Kindern nicht halt. Im Zeitalter von „Alexa“ & Co. muss der Vertrauensgrundsatz, umgelegt auf die Reitpädagogik und Reittherapie, deutlich weiter gefasst werden. Es muss generell davon ausgegangen werden, dass Menschen eine hohe Tendenz zur Verantwortungsübergabe an Dritte haben. Die Besucher der Reitanlage sind ebenso in die Sicherheitsüberlegungen miteinzubeziehen, wie die zu betreuende Person selbst. Da selbst einfachste Handlungsabfolgen und deren logische Schlüsse nicht mehr vorausgesetzt werden können - darunter fallen beispielsweise das Schließen von Türen, das Nichtanfassen stromführender Zaunlitzen, die Adaptierung der Gehgeschwindigkeit an die Bodenbeschaffenheit, aber auch das Beaufsichtigen mitgenommener Kinder - müssen umfangreiche Vorkehrungen getroffen werden. Aspekt Gefahrenbewusstsein bezüglich entwicklungspsychologischer und entwicklungsbedingter Grundlagen Das Wissen um allgemeine entwicklungsbedingte Grundlagen ist nicht nur für das Erstellen des professionellen Angebotes nötig, sondern kann auch aus der Perspektive der Unfallverhütung gesehen werden. Aus diesem Wissen heraus muss letztlich das Setting (Auswahl des Pferdes, Auswahl der Materialien, Dauer und Impulse der Einheit) abgeleitet werden. Ein gründliches Verständnis für entwicklungsbedingte Gegebenheiten schafft nicht nur Vertrauen, sondern verhindert auch mögliche Überforderungen. Dadurch können bereits im Vorhinein Unfälle verhindert werden. Sollen Kleinkinder an das Pferd herangeführt werden, muss auf die Bedürfnisse dieser Altersklasse Rücksicht genommen werden. So schließt deren kurze Aufmerksamkeitsspanne einen rein sachorientierten, sprachlastigen Unterricht aus. Eine günstige motorische Entwicklung braucht vielfältige Möglichkeiten zur Exploration. Körper- und Bewegungsgeschick sollen entwickelt und deren Grenzen ausgelotet werden. Vorgefertigte Bewegungsanweisungen, wie im Reitunterricht üblich, stellen daher eine methodisch ungeeignete Herangehensweise dar. Aber auch die Verwendung eines Sattels samt Steigbügel bedeutet für Kleinkinder ein erhöhtes Unfallrisiko. Neben den allgemein entwicklungsbedingten Grundlagen bestimmter Altersgruppen ist auch die individuelle Fitness Einzelner zu berücksichtigen. Viele Anforderungen, wie sie beispielsweise im Reitsport gestellt werden, bedeuten eine Überforderung und führen nicht selten zu Verletzungen. Stetes Reflektieren entwicklungsbedingter Gefahrenpotenziale ist Teil eines professionellen Zugangs. Aspekt Gefahrenbewusstsein hinsichtlich diagnosebedingter Besonderheiten Im reittherapeutischen Kontext ist es selbstverständlich, dass der jeweilige Befund zur Erstellung des Therapieplanes beachtet wird. Es müssen aber diesbezüglich auch mögliche Gefahrenbereiche in den Blick genommen werden. Entsprechende Vorkehrungen sind zu treffen, bzw. ist das Setting auch mit dem Fokus auf diese Gefahrenpotenziale zu erstellen. Im Prozess ist auf die Sicherheit der Kunden zu achten. Nicht allen Explorationswünschen kann nachgegeben, nicht jedes Szenario kann zugelassen werden. Es ist aus Gründen der Sicherheit immer wieder ein regulierendes Eingreifen seitens der Fachkraft erforderlich. Diese direktiven Eingriffe widersprechen oftmals dem therapeutischen Verständnis von Prozessentwicklung innerhalb der Therapie. Es muss aber kritisch hinterfragt werden, ob es wirklich vertretbar ist, wenn Menschen im Zuge ihres therapeutischen Prozesses zum Beispiel auf zwei Pferden zu stehen kommen, man sie Recht & Sicherheit : Dell’mour - Gefahrenbewusstsein in der Reitpädagogik und Reittherapie mup 4|2020 | 191 vor dem Pferd hocken lässt, oder diverse andere sicherheitstechnisch fragwürdige Aktionen veranstaltet werden, die angeblich den Therapiezielen geschuldet sind. Über die Planung des Settings hinausgehend, sollen auch die Rahmenbedingungen des Umfeldes stets überprüft werden. Ein herumliegendes Hufmesser kann ungeahnte Folgen nach sich ziehen. Die Kundenlenkung innerhalb der Anlage ist ein wesentlicher Beitrag zur Gefahrenreduzierung. In manchen Fällen muss auch auf eine Reizreduzierung geachtet werden, damit selbstgefährdendes oder gefährdendes Verhalten gar nicht erst auftreten kann. Ein hohes Erregungsniveau kann zu unerwarteten Reaktionen führen. Explizit sollen hier Personen aus dem autistischen Spektrum genannt werden, die auf eine Reizüberflutung nicht selten mit Verzweiflungsschreien in ungeahnter Lautstärke reagieren können. Pferde müssen darauf vorbereitet werden. Das Erstellen der Therapiepläne soll also auch immer in Bezug auf diagnosetypische Verhaltensweisen und die damit verbundenen potenziellen Gefährdungen erfolgen. Welches Verhalten ist zu erwarten? Welche flankierenden Maßnahmen können und müssen ergriffen werden? Wann muss eingegriffen werden? Zusammengefasst erfordert ein waches Gefahrenbewusstsein eine eingehende Betrachtung der Komponenten Kundenlenkung, Umfeldgestaltung und Gestaltung der einzelnen Settings. Das Miteinbeziehen biopsychosozial-ökologischer Veränderungen sowie allgemeiner und störungsspezifischer Gegebenheiten machen einen differenzierten Zugang für die Wahl der Methoden und Medien in der Praxis erforderlich. Praxiserprobte Elemente professioneller Sicherheitskonzepte Anlagenplanung Bei der Planung der Reitanlage wird das Prinzip „Zusammenlegung von Arbeitsbereichen“ getrennt von der „Wahrung der Privatsphäre von Pferden“ empfohlen. Eine Kundenlenkung durch die Stallungen kann dadurch vermieden werden. Die Halle-Stall-Putzbereich integrierte Bauweise, die sich für den Sportbereich durchgesetzt hat, ist für die Umsetzung reitpädagogischer und reittherapeutischer Angebote ungeeignet. Der dadurch unnötige und unvermeidliche Kontakt zu den Pferden bedeutet eine Gefährdung, welche mittels der nichtintegrierten Bauweise vermieden kann. Werden das Herrichten, das Reiten und die Versorgung des Pferdes an einem definierten Bereich koordiniert, fallen Wege, die sonst gemeinsam mit den Kunden bewältigt werden müssen und die damit verbundenen Gefahren weg. Ausrüstung der Reiterinnen und Reiter Bewegungsfreudige Kleidung, feste Schuhe und eine Reitkappe sollten zur Grundausrüstung gehören. Warum jedoch gerade bei reittherapeutischen Angeboten viele Menschen ohne Kappe auf dem Pferd sitzen, ist ein ungeklärtes Phänomen. Daher: Wenn das Tragen einer Kappe nicht gerade aus medizinischen Gründen kontraindiziert ist, gehört sie auf den Kopf! Abb. 1: Korrekte Ausrüstung von Pferd und Reiter (Foto: Dell’mour KG) 192 | mup 4|2020 Recht & Sicherheit : Dell’mour - Gefahrenbewusstsein in der Reitpädagogik und Reittherapie Reitdecke mit offenen Taschen Gerne werden Materialien und Medien zur Unterstützung der Zielsetzungen herangezogen. Oft nehmen Kinder etwas von daheim mit in die Therapie. Wohin damit? Die Fachkräfte hängen sich gerne Taschen, Beutel und andere Behältnisse um, damit die Materialien zur Hand sind. Die umgehängten Taschen führen jedoch zu einer Bewegungseinschränkung. Bei Gefahr kann nur unzureichend auf das Pferd eingewirkt werden, Hilfestellungen sind erschwert. Die Verwendung von Reitdecken mit offenen Taschen ist eine elegante und sicherheitstechnisch gute Lösung. Reit- und Führzaumzeug Die nur unklaren Signale, welche über diverse Halfterkonstruktionen gegeben werden können, lassen im Anlassfall keine zuverlässige Einwirkung auf das Pferd zu. Schon zur Schonung des Pferdes, das sich klare Anfragen für seine Dienstleistungen verdient hat, ist der Einsatz eines Zaumzeuges geboten. Klassische Kappzäume, die unbestritten die beste Möglichkeit zur differenzierten Kommunikation mit dem Pferd bieten, sind wegen der erhabenen Metallknöpfe für umstehende Personen nicht ganz unbedenklich, aber auch bei einem längeren Arbeitstag für das Pferd wenig komfortabel. Ein kombiniertes Reit-und Führzaumzeug ist eine geeignete Alternative. Es können damit klare Signale gegeben werden. Es ist für das Pferd maximal komfortabel und gewährleistet dank seiner Konstruktion genügend Sicherheit bei geführten Angeboten. Sollten Lenkmanöver zur Stärkung der Selbstwirksamkeit angeboten werden, kann der Zügel, der stets versorgt aber zur Verfügung stehen muss, pferdeschonend in die seitlichen Ringe eingehängt werden. Langer Strick Um dem pferdetypischen Fluchtverhalten Rechnung tragen zu können, ist der Einsatz eines langen Führstrickes angesagt. Kurze Stricke sind völlig ungeeignet. Sie gleiten sehr leicht aus der Hand, wenn sich das Pferd schreckt oder verführen zum aktiven Zurückhalten des Pferdes, das darauf erst recht mit Panik reagiert. Oft genügt ein kleiner „Fluchtversuch“, um Adrenalin abbauen zu können. Ein etwa drei Meter langer Strick ermöglicht dieses stressabbauende Verhalten. Davon auszugehen, dass Therapiepferde keine Schreckreaktionen zeigen, ist naiv. Die Anwendung spezieller Führtechniken komplettiert das gefahrenreduzierte Arbeiten. Leichter Reit- und Therapiegurt mit zwei instabilen Griffen Motorische Fähigkeiten zur sicheren Koordination der Steigbügel fehlen bei Kleinkindern, bei vielen Reitanfängern und bei Menschen, die unterschiedliche Behinderungen haben. Nicht nur aus Gründen der Sicherheit soll auf Steigbügel verzichtet werden. Gleichgewicht und Bewegungsgefühl können mit dem Sattel schlechter entwickelt werden. Ein leichter Gurt ermöglicht in jedem Fall das Sitzen in Übereinstimmung mit dem Schwerpunkt des Pferdes. Die Griffe geben Sicherheit, ihre Beweglichkeit unterstützt die Entwicklung von Balance. Abb. 2: Reit- und Führzaumzeug (Foto: Gloria Rois) Recht & Sicherheit : Dell’mour - Gefahrenbewusstsein in der Reitpädagogik und Reittherapie mup 4|2020 | 193 First-Aid-Kit Der gemeinsame Aufenthalt in der Natur ist sicher immer ein Highlight in reitpädagogischen und reittherapeutischen Prozessen. Naturverbundenheit kann vermittelt und Empathie mit der Natur aufgebaut werden. Die positiven Effekte, die einen (geführten) Ritt ins Außengelände und das damit verbundene Risiko rechtfertigen, müssen klar definiert sein. Pferdeausbildung und Desensibilisierung sind obligat. Wegeplanung ohnehin. Die verantwortungsbewusste Fachkraft führt dennoch stets ein Erste- Hilfe-Set mit sich. Speziell für das Reiten sortierte Pakete haben Vorteile gegenüber anderen handelsüblichen Produkten. Literaturverzeichnis ■ Dell’mour, Sabine (2010): Ganzheitliche Reitpädagogik. Leitfaden für einen achtsamen Unterricht. Leopold Stocker Verlag, Graz ■ Ollinger, Nina (2018): Haftungsfalle Pferd. Zentrale Rechtsfragen rund ums Pferd praktisch dargestellt. Sonderedition für Reitpädagogik und Reittherapie nach Dell’mour®. NWV Neuer Wissenschaftlicher Verlag, Wien / Graz ■ Zechner, Peter (2012): Alles für Pferdehalter. Leopold Stocker Verlag, Graz Weiterführende Internetquellen ■ www.reitpaedagogik.at ■ www.reitpaedagogikdellmour.de Die Autorin Sabine Dell’mour Unternehmerin im Bereich Reitpädagogik und Reittherapie; Planung und Organisation zweier Betriebsstätten, Führung eines Ausbildungs- und Therapiehofs, Entwicklung von Lehrgängen für Reitpädagogik und Reittherapie; Zahlreiche Publikationen für Fachmedien. Präsidentin des Verbandes der Österreichischen ReitpädagogInnen. Kontakt office@reitpaedagogik.at