eJournals mensch & pferd international 13/1

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2021
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Forum: Reittherapie als Beziehungsarbeit mit dem Pferd und die Abgrenzung zum psychotherapeutischen Reiten

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2021
Christina Simon
Als Reitwartin mit Weiterbildung im Fachbereich Behindertenreitsport beim Deutschen Kuratorium für Therapeutisches Reiten stand lange Zeit das Reitenlernen und Getragenwerden mit all seinen positiven Auswirkungen auf Körper und Seele im Mittelpunkt meiner Arbeit mit körperlich und geistig behinderten Kindern und Erwachsenen. Die dreijährige Vertretung der Leitung des therapeutischen Reitens in der dynamisch-psychiatrischen Klinik Menterschwaige b. München (2002–2005) veränderte mein Arbeitskonzept grundlegend. Trotz des sportlichen Schwerpunkts gab es ständig Situationen, in denen die Pferde die Patienten in einen Spiegel blicken ließen, ihre Emotionen aufnahmen und auf mich übertrugen. [...]
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Christina Simon 22 | mup 1|2021|22-29|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2021.art04d Forum Reittherapie als Beziehungsarbeit mit dem Pferd und die Abgrenzung zum psychotherapeutischen Reiten Mit einer Übung zur Selbsterfahrung: geführtes Reiten mit Achtsamkeitsübungen Einführung Als Reitwartin mit Weiterbildung im Fachbereich Behindertenreitsport beim Deutschen Kuratorium für Therapeutisches Reiten stand lange Zeit das Reitenlernen und Getragenwerden mit all seinen positiven Auswirkungen auf Körper und Seele im Mittelpunkt meiner Arbeit mit körperlich und geistig behinderten Kindern und Erwachsenen. Die dreijährige Vertretung der Leitung des therapeutischen Reitens in der dynamisch-psychiatrischen Klinik Menterschwaige b. München (2002-2005) veränderte mein Arbeitskonzept grundlegend. Trotz des sportlichen Schwerpunkts gab es ständig Situationen, in denen die Pferde die Patienten in einen Spiegel blicken ließen, ihre Emotionen aufnahmen und auf mich übertrugen. Dies faszinierte so mich sehr, dass ich die Weiterbildungsreihe „Grundzüge einer körperorientierten Psychotherapie am Pferd“ bei M. Mehlem in Hanf b. Bonn besuchte. Hier wurde meine Kurskollegin R. Schnorbach inspiriert, ein Buch zu schreiben (Schnorbach 2014). In meiner anschließenden dreijährigen Anstellung im Team der Reittherapie des psychiatrischen Isar-Amper-Klinikums (IAK) in München-Haar (2008-2011) durfte ich unter der Leitung von M. Scheidhacker sehr viel über pferdgestützte Arbeit mit Psychiatrie-PatientInnen, Pferdeausbildung und mich selbst lernen. Inzwischen steht das Reiten in meinem Angebot schon lange nicht mehr im Mittelpunkt, sondern Kontakt und Beziehungsgestaltung. Beeindruckt und geprägt von den Arbeitsweisen von M. Mehlem und M. Scheidhacker bezeichne ich meine Arbeit mit Mensch und Pferd als Beziehungsarbeit, mich im fachlichen Kontext als „sogenannte“ Reittherapeutin (Pülschen 2018, 17 ff) aufgrund meines Ausgangsberufes - Kulturwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Beziehung von Mensch und Pferd in Vorgeschichte und Antike - und die Menschen, die zu mir kommen, als Schüler. Wohlwissend um die Problematik der Bezeichnungen „ReittherapeutIn“ und „Reittherapie“, verwende ich beide Begriffe in Flyern und Homepage, da sie sich im allgemeinen Sprachgebrauch etabliert haben und es für Laien nicht einfach ist, unter den vielen Facetten der sog. Reittherapie das Richtige zu finden. Deshalb muss im Beratungsgespräch eine Aufklärung über entsprechende Kompetenzen erfolgen. Gemäß meinen Fortbildungen sowie Erfahrungen mit psychisch kranken Menschen siedle ich meine Arbeit mit Mensch und Pferd zwischen Psychologie und Sport an. In manchen Situationen können bei der pferdgestützten Beziehungsarbeit die Grenzen zum Fachbereich des psychotherapeutischen Reitens verschwimmen, was problematisch sein kann, Forum: Simon - Reittherapie als Beziehungsarbeit mit dem Pferd mup 1|2021 | 23 wenn keine entsprechende Ausbildung vorliegt. Dieser Artikel soll helfen, mittels einer bestimmten Arbeitsweise Grenzen nicht zu überschreiten. Die Vorlage dafür ist ein Handout für Seminarteilnehmende bei Reittherapie-Fortbildungen, wo der Ausgangsberuf für die Teilnahme nicht von Bedeutung ist. Beziehungsarbeit mit dem Pferd Bei der Beziehungsarbeit steht der respektvolle Beziehungsaufbau zwischen Mensch und Pferd im Mittelpunkt aller Tätigkeiten: bei Pflege, Führen und Reiten. Der achtsame Umgang ist Basis und Voraussetzung für ein angenehmes Miteinander von Therapiepferd, SchülerIn und TherapeutIn (Abb. 1). Ressourcenorientiertes Arbeiten weckt und fördert Stärken. Besonders wichtig sind mir die individuelle Förderung sowie der Transfer von erarbeiteten Zielen in den Alltag. Beziehungsarbeit mit dem Pferd ist eine sinnvolle Ergänzung zu psychotherapeutischen Behandlungen. Aufgedeckte Themen können mit den behandelnden Fachkräften weiterbearbeitet werden. Durch ihre Fähigkeit zur Empathie erweisen sich Pferde als einfühlsame, unterstützende Begleiter. Dies kann hilfreich und trostspendend sein, wenn Körper und Seele durch die Herausforderungen des täglichen Lebens aus dem Gleichgewicht geraten sind. In der pferdgestützten Arbeit werden Beziehungsfähigkeit und Körperlichkeit besonders angesprochen. Beide Ebenen sind bei psychischen Erkrankungen in unterschiedlichem Maß gestört: „Das Herdentier Pferd, das durch die Domestizierung seine Beziehungsfähigkeit auch auf den Menschen erweitert hat und mit dem beim Reiten ein inniger Körperkontakt möglich ist, ist für eine psychotherapeutische Intervention besonders gut geeignet.“ (Scheidhacker 1998, 16) Das soziale Bedürfnis nach Kontakt und die Beziehungsfähigkeit des Pferdes ist die Grundlage für die Beziehungs- und psychotherapeutische Arbeit. Der Beziehungsaufbau steht nicht in jedem Fachbereich im Mittelpunkt der Arbeit. Am deutlichsten wird dies bei der Hippotherapie: hier ist das Pferd hauptsächlich Träger und weniger Beziehungspartner. Für die Ausbildung des Therapiepferdes ist es deshalb wichtig zu wissen, wie man die Arbeit mit Mensch und Pferd gestaltet und welche Anforderungen an das Therapiepferd gestellt werden. „Bei aller Domestizierung und Abhängigkeit vom Menschen bleibt es immer ein ebenbürtiger Partner, der sich nicht unterwirft, es sei denn um den Preis seiner Seele. Als Herdentier fordert das Pferd den Menschen auf, Stellung zu beziehen und sich zu bekennen, damit es seine eigene Position finden kann.“ (Mehlem 2005a, 21) Pferde spiegeln Menschen Ein wichtiger Baustein meiner Arbeit ist die Fähigkeit der Pferde, das Verhalten der Menschen zu spiegeln und ihnen dadurch Selbsterkenntnis zu vermitteln. „Die unverfälschte Widerspiegelung der Körpersignale des Patienten durch die Reaktionen des Pferdes, die oft weder dem Therapeuten erkennbar noch dem Patienten bewusst sind, stellt Abb. 1: Respektvoller Beziehungsaufbau zwischen Mensch und Pferd 24 | mup 1|2021 Forum: Simon - Reittherapie als Beziehungsarbeit mit dem Pferd einen wesentlichen Vorteil des Einsatzes des Pferdes… dar.“ (Mehlem 2005b, 74) In meinen Supervisionen bei M. Brossard (Innerthann b. Bad Aibling) nannte diese die Pferde immer „Meister der Achtsamkeit, wenn es darum geht, unbekannte Wesen oder neue Situationen einzuschätzen“ (Abb. 2). „In der Reaktion eines Pferdes kann wie in einem Spiegel abgelesen werden, welche Signale der betreffende Mensch aussendet. Dabei ist die verbale Sprache völlig unwichtig.“ (Brossard 2016, 29) Die Abgrenzung von Beziehungsarbeit zum psychotherapeutischen Reiten: ein Fallbeispiel Carla (Name geändert) kam im Alter von 13 Jahren mit ihrer Mutter zu mir, um im betreuten Rahmen Reiten zu lernen. Sie besuchte damals die Mittelschule. Negative Erlebnisse aus Reitschulen lagen vor. Schon in der ersten Stunde zeigte sich, dass das Mädchen beim Reitunterricht schnell überfordert war. Durch den Wunsch „sehr schnell Galoppieren“ zu lernen, setzte sie sich unter großen Druck. Misslungene Übungen wurden mit Abwertung meiner Person und meiner Stute quittiert, was auf beiden Seiten zu großer Unzufriedenheit führte. In der nächsten Stunde verhalf mir meine Haflingerstute Odessa zu einer anderen Arbeitsweise: die Stute rempelte Carla bei der Pflege mehrmals heftig an und rotzte ihr ins Gesicht. Das Mädchen, das bisher selbstbewusst auftrat, war völlig eingeschüchtert und den Tränen nahe. Das Gespräch beim anschließenden geführten Ausritt ergab, dass Carla in der Schule ständig gemobbt wurde, sich selbst für unfähig hielt und sich nichts zutraute, was sie mit Überheblichkeit zu überspielen versuchte. Odessa hatte hinter der Fassade den geringen Selbstwert von Carla erspürt und sie auf einen rangniedrigen Platz verwiesen, dadurch aber auch entlastet, weil sie nicht länger etwas vortäuschen musste. Wichtig war jetzt Aufklärung darüber, dass die Stute dies nicht aus Bosheit tat, sondern aufgrund der unbedingten Einhaltung einer Herdenhierachie zum einen und zum anderen, dass sich ein Pferd zu einem Menschen abhängig davon verhält, wie es den Menschen in diesem Augenblick empfindet. Die Aussicht, jederzeit durch ein selbstbewussteres Auftreten ihre Position in der Rangordnung zu verändern, hat Carla Mut und Hoffnung gegeben. Der Transfer in den Schulalltag war jetzt für sie verständlich. Odessas Verhalten hat nicht nur mir zur Aufklärung gedient, sondern auch bei Carla als „Icebreaker“ gewirkt. Reitstunden auf dem Reitplatz gab es von da an für längere Zeit nicht mehr. Im Mittelpunkt stand jetzt: Freude und Entspannung erleben bei geführten Ausritten. Sie wurden fast bei jedem Wetter durchgeführt. Oft hat Carla Odessa geführt und durch genaue Auswahl des Weges Verantwortungsbewusstsein trainiert. Reitübungen gab es nur in dosiertem Maß. Stattdessen bot ich Carla Achtsamkeitsübungen an: Ermitteln des Befindens von meiner Stute, von mir und von Carla selbst. Dadurch schulte das Mädchen Wahrnehmung und Einschätzung der Wesen in seinem Umfeld. Der Transfer der gewonnenen Erkenntnisse in den Alltag verhalfen ihr, sich im Umgang mit Mitmenschen besser zu- Abb. 2: Pferde spiegeln Menschen Forum: Simon - Reittherapie als Beziehungsarbeit mit dem Pferd mup 1|2021 | 25 rechtzufinden, wie ihre Mutter mir immer wieder bestätigte. Eine inzwischen erfolgte ärztlich-psychologische Untersuchung wies auf eine Störung aus dem autistischen Spektrum hin mit Empfehlung diverser Therapien. Beim Ausreiten waren Carla die Gespräche mit mir sehr wichtig. Es ging überwiegend um den Schulalltag mit wiederkehrenden Problemen in der Auseinandersetzung mit Freunden, Mitschülern und Lehrern. Carla verfügte über wenig hilfreiche Strategien, um mit belastenden Emotionen umzugehen. Je länger sie zu mir kam, umso tiefer weihte sie mich in ihr Leben ein, das geprägt war von Wut, Trauer und Frust. Ich kam dabei oft an meine Grenzen, da ich ihr im Rahmen meiner Ausbildung mittels Gespräche keine zufriedenstellende Hilfe anbieten konnte. Negative Stimmungslagen wurden durch Aufmunterungsversuche eher verstärkt. Auch war mir nicht klar, was bei Vertiefung diverser Themen auf mich zukommen würde. Mein Vorschlag, Carla an eine psychotherapeutische Fachkraft mit Reittherapie abzugeben, wurden von Mutter und Tochter abgelehnt, da das Vertrauen zu mir, meiner Stute und der Umgebung für beide sehr wichtig waren. Also überlegte ich mir ein Konzept, wie ich im Rahmen meiner Möglichkeiten mit Carla weiterarbeiten konnte. Das Ziel war, den Gesprächen nicht mehr ganz so viel Raum zu geben und schneller Carlas momentane Befindlichkeit, z. B. Mutlosigkeit, Wut oder Traurigkeit zu ermitteln und durch eine entsprechende „Übung“, die sie nicht überforderte, ins Positive zu verändern. Das konnte ein kurzes Stück im Trab sein für mehr Schwung, Stolz oder Freude, aber auch Blumen pflücken für ein Geschenk („sich ungeliebt fühlen“ - „geschätzt werden“) oder Odessas Lieblingskräuter in der Wiese suchen („sich unwichtig fühlen“ - „gebraucht werden“). Sehr oft war es möglich, Carla dadurch aus einem seelischen Tief herauszuhelfen. Nach ca. einem Jahr war Carla deutlich belastbarer. Dies war sicher nicht nur der Reittherapie geschuldet, sondern u. a. auch der Tatsache, dass Carla von der Regelin die Förderschule wechselte, was sie sehr entlastete. Es konnten allmählich wieder Reitstunden auf dem Reitplatz durchgeführt werden. Im dritten Jahr war Carla der Reittherapie allmählich entwachsen und es gelang, mit Unterstützung der Pferdebesitzerin, die Übernahme einer Reitbeteiligung an einem älteren Wallach. Befindlichkeiten ermitteln und positiv verändern Die Arbeit mit Carla hat mir gezeigt, wie die Beziehungsarbeit mit dem Pferd seelische Themen aufdecken kann. Ohne entsprechende fachliche Qualifikation kann eine weitere „Bearbeitung“ jedoch schwerwiegende Folgen haben und für den Schüler sogar lebensbedrohlich sein. Das Bearbeiten eines Traumas beispielsweise ist je nach Intensität ein langwieriger Prozess, der oft stationär von einem multiprofessionellen Team begleitet wird und dem eine lange Phase des Stabilisierens vorausgeht. Finger weg wem die Ausbildung dazu fehlt! In der pferdgestützten Beziehungsarbeit kann dennoch viel zum seelischen und körperlichen Wohl beigetragen werden durch: Befindlichkeiten ermitteln und positiv verändern - Trauer in Freude - Anspannung in Entspannung und Gelassenheit - Zerstreutheit in Zentriertheit und Konzentration - Angst in Mut - und vieles mehr. Gleichzeitig werden dabei eigene Ressourcen entdeckt und gestärkt. Ohne die eigentliche Krankheit (Sucht, Zwang, Trauma etc.) zu behandeln, kann mit dem Verändern der Stimmungslage sehr viel zum Wohlbefinden beigetragen werden. An dieser „Faustregel“ konnte ich mich bisher immer gut orientieren, wenn Beziehungsarbeit mit dem Pferd in den Bereich Psychotherapie überzugehen drohte. Mit den PatientInnen des IAK habe ich sehr oft erlebt, wie positiv sich die 26 | mup 1|2021 Forum: Simon - Reittherapie als Beziehungsarbeit mit dem Pferd Arbeit mit dem Pferd auf die Stimmung auswirkt. Nach dem Konzept von M. Scheidhacker wurde zunächst im Vorgespräch ermittelt, was aktuell für die jeweiligen PatientInnen wichtig war (z. B. Schwung, Konzentration, Freude) und mit welchem Pferd dies erarbeitet werden sollte. Daraufhin wurden die Übungen (Führen, geführtes Reiten, freies Reiten, Arbeit an der Longe, Liegen auf dem Pferd, Ausritt) entsprechend abgestimmt, um das gewünschte Ziel zu erreichen. Die Rückmeldungen im Nachgespräch waren beeindruckend und oftmals sehr berührend. Psychotherapeutisches Reiten oder pferdgestützte Psychotherapie Bei der Münchner Schule für psychotherapeutisches Reiten findet man folgende Definition: „Beim Psychotherapeutischen Reiten treffen zwei Fachgebiete zusammen, nämlich Psychotherapie und Hippologie, die sich auf besondere Weise ergänzen. Eine innovative Therapieform wird dadurch möglich, die im stationären und ambulanten Bereich angewandt und unter humanistischen Gesichtspunkten diskutiert und weiterentwickelt wird.“ Psychotherapie ist laut Definition die „Behandlung von abnormen Seelenzuständen, psychischen und Körperkrankheiten durch gezielte seelische Einflussnahme, genauer gesagt, durch bewusste Ausnutzung der Beziehung zwischen Arzt und Patient“ (Peters 1999, 432 in Pülschen 2018, 22). Das Behandlungsinstrument ist folglich das Gespräch, das die psychotherapeutische Fachkraft in speziellen Techniken mit dem Patienten führt. In der pferdgestützten Psychotherapie ist die Beziehungsarbeit mit dem Pferd die Grundlage für weitere Behandlungsmethoden. Das Pferd wird als therapeutisches Medium eingesetzt: für Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene innerhalb des Beziehungsdreiecks Pferd- PatientIn-TherapeutIn, als Projektionsfläche, als archetypisches Symbol u. v. m. (Scheidhacker 2010, 136-144). Im Reittherapie-Team des IAK hat Frau Scheidhacker immer wieder betont, wie wertvoll das Pferd in einem psychotherapeutischen Setting ist, da die unterschiedlichen Wirkebenen gleichzeitig möglich sind. „Neben körperlicher, seelischer und Verhaltensebene kommt im psychotherapeutischen Reiten die psychologische Wirkebene dazu.“ Fazit: In der Beziehungsarbeit mit dem Pferd „erlebt“ der / die sog. ReittherapeutIn Psychotherapie, ohne entsprechende Ausbildung darf man jedoch nicht psychotherapeutisch arbeiten. Über die positive Veränderung von Befindlichkeiten anhand „klassischer“ Übungen aus der Reittherapie kann viel zum seelischen und körperlichen Wohlbefinden beigetragen werden, ohne die Grenzen zum psychotherapeutischen Reiten zu überschreiten. Die Zusammenarbeit mit ÄrztInnen, PsychologInnen und PsychotherapeutInnen ist für beide Seiten wertvoll. Praktikum / Fortbildung / Supervision / Selbsterfahrung Um Menschen in schwierigen Lebenslagen mit Pferden begleiten zu können, sind Praktika in einer Klinik oder Einrichtung empfehlenswert, um psychiatrische Krankheitsbilder kennenzulernen, zu erleben und „zu erspüren.“ Es ist beispielsweise sehr hilfreich, einmal die spaltende Dynamik von Borderline-PatientInnen erfahren zu haben mit dem plötzlichen Wechsel zwischen Idealisierung und Abwertung. Mit den PatientInnen des IAK konnte ich viele derartige Erfahrungen machen - für beide Seiten gefahrlos, da ich von Frau Scheidhacker oder aufmerksamen KollegInnen „aufgefangen“ und über die Hintergründe meiner momentanen „Verwirrung“ aufgeklärt wurde. Solche Erfahrungen sind auch sehr wichtig, um die eigenen Grenzen kennenzulernen. Ebenfalls bedeutsam sind Supervisionen, um aus Verstrickungen mit der Welt des / der SchülerInnen wieder herauszufinden. Fortbildungen bei psychotherapeutisch und reittherapeutisch geschulten Fachkräften sind unbedingt empfehlenswert, da es dort neben Forum: Simon - Reittherapie als Beziehungsarbeit mit dem Pferd mup 1|2021 | 27 theoretischen Inhalten auch die Möglichkeit zur Selbsterfahrung gibt (siehe unten). Übung zur Selbsterfahrung: geführtes Reiten mit Achtsamkeitsübungen Anhand dieser Übung biete ich Teilnehmenden von Reittherapie-Fortbildungen, Helfenden im sog. Therapeutischen Reiten sowie Tätigen in Heil- und Pflegeberufen die Möglichkeit zur Selbsterfahrung an. Im Rollenspiel wird abwechselnd geführt und geritten, um zum einen die Bedürfnisse der SchülerInnen sowie zum anderen die Anforderungen an die sog. TherapeutInnen zu erspüren (Abb. 3). In der Praxis passt diese Übung gut, wenn bei der Ermittlung der Befindlichkeiten der Wunsch nach Zentriertheit deutlich wird: „Ich fühle mich heute so zerfleddert.“ oder „Ich möchte heute mehr zu mir kommen.“ Das Nachgespräch kann ergänzt werden durch spontanes Malen zur direkten Veranschaulichung von emotionalen Erlebnissen und Berührtheiten, falls entsprechende Kompetenzen in der Kunsttherapie vorliegen (Scheidhacker 1998, 83 ff). Das Pferd sollte mit Satteldecke und Griffgurt ausgerüstet sein für ein möglichst intensives Spüren seiner Bewegungen. Die Übung kann mit einem oder mehreren Teilnehmern auf Reitplatz, Ovalbahn oder im Gelände durchgeführt werden. Bei einer Gruppe ist darauf zu achten, dass sich das Reden auf ein Minimum beschränkt, um schon anfangs bei der Pferdepflege dem „Zerfließen ins Außen“ entgegenzuwirken! Alle Teilübungen können zur Intensivierung der Wahrnehmung auch mit geschlossenen Augen erfolgen (Abb. 4). Die umsichtige, stete Begleitung durch die Übungsleitung ist wichtig, um bei Schwierigkeiten oder Unsicherheiten zur Seite zu stehen und Hilfestellungen anzubieten. Die Rolle des Schülers ist z. B. auch für ausgebildete Therapierende oft schwierig auszuhalten: die Zügel aus der Hand geben, Verantwortung abgeben und sich führen lassen (Abb. 5). Themen, die in der Selbsterfahrung auftreten, sollten je nach Abb. 3: Geführtes Reiten als Übung zur Selbsterfahrung 1. Verbindung mit sich selbst durch bewusstes Atmen und Hineinspüren in den eigenen Körper. Zur Hilfestellung können Bilder angeboten werden, wie z. B. das Fließen des Atems in den Bauch. 2. Verbindung mit dem Pferd durch Hineinspüren in den Pferdekörper, z. B. durch das Beobachten von Heben und Senken der Hinterbeine. 3. Verbindung mit dem Licht: durch sich strahlen und sich davon erfüllen lassen. 4. Achtsamkeit ins Außen richten auf Basis der nun erfolgten Verbindung zu sich selbst und zum Pferd: Geräusch (z. B. Rauschen der Blätter) oder Duft (z. B. frisch gemähtes Gras) aussuchen und sich von diesem begleiten lassen. 5. Blitzlicht zur Ermittlung der momentanen Befindlichkeit. 6. Reiterwechsel mit Wiederholung aller Übungen. 7. Abschließendes Blitzlicht bei Ankunft am Stall. 8. Versorgen und Belohnen der Pferde. 9. Nachgespräch zur Ermittlung der Erlebnisse. 28 | mup 1|2021 Forum: Simon - Reittherapie als Beziehungsarbeit mit dem Pferd Intensität mit psychotherapeutischem Fachpersonal weiterbearbeitet werden, damit persönliche Blockaden die Arbeit nicht einschränken. „Selbsterfahrung am und auf dem Pferd ist ein besonderes Erlebnis, den eigenen Körper auf eine neue Weise zu erleben, durch die Resonanz des Pferdes mehr über sich selbst zu erfahren, und Achtsamkeit, Ruhe und körperlich-seelische Balance zu finden.“ (Mehlem, Homepage). Literatur ■ Brossard, M., Schober, U. (2016): Begleiten mit dem Pferd - eine Begegnung mit sich selbst. 2. Aufl. Pabst Science Publishers, Lengerich ■ Mehlem, M. (2005a): Angst und Pferde - Wege zur Bewältigung und Integration von Ängsten mit Hilfe der Pferde. In: Fachgruppe Arbeit mit dem Pferd in der Psychotherapie (FAPP) und Deutsches Kuratorium für Therapeutisches Reiten e. V. (DKThR) (Hrsg.): Psychotherapie mit dem Pferd. FNverlag, Warendorf, 20-38 ■ Mehlem, M. (2005b): Elemente körperorientierter Verfahren im psychotherapeutischen Reiten mit psychosomatisch erkrankten Menschen. In: Deutsches Kuratorium für Therapeutisches Reiten e. V. (Hrsg.): Die Arbeit mit dem Pferd in Psychiatrie und Psychotherapie. Sonderheft des DKThR. 3.Aufl. FNverlag, Warendorf, 74-77 ■ Peters, U.H. (1999): Definition Psychotherapie. In: Pülschen, S. (2018): Kompetenz- und Begriffserklärung im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Fachbereichen des sogenannten „Therapeutischen Reitens“. Mensch und Pferd international 10, 22 ■ Pülschen, S. (2018): Kompetenz- und Begriffserklärung im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Fachbereichen des sogenannten „Therapeutischen Reitens“. Mensch und Pferd international 10, 17-24 ■ Scheidhacker, M. (2010): Der Pferd-Komplex - über die psychodynamische Bedeutung von Pferden in der Therapie. Mensch und Pferd international 4, 136-144 ■ Scheidhacker, M. (1998): Falldarstellungen aus dem psychotherapeutischen Reiten unter Abb. 5: Durch Achtsamkeitsübungen in die körperliche und seelische Balance finden Abb. 4: Reiten mit geschlossenen Augen intensiviert die Wahrnehmung Forum: Simon - Reittherapie als Beziehungsarbeit mit dem Pferd mup 1|2021 | 29 Berücksichtigung ich-struktureller Aspekte, dargestellt anhand spontan gemalter Bilder. In: Bender, W., Scheidhacker, M., BKH Haar (Hrsg.): „Ich träumte von einem weisen Schimmel, der mir den Weg zeigte …“. 10 Jahre Therapeutisches Reiten im Bezirkskrankenhaus Haar. Erste Schritte zum Aufbau der Münchner Schule für Psychotherapeutisches Reiten. Eigenverlag BKH, Haar, 83-146 ■ Schnorbach, R. (2014): Zwischen Himmel und Erde liegt der Rücken der Pferde. 2. Aufl. ConferencePoint, Hamburg / Berlin ■ www.monika-mehlem.com: Körperpsychotherapie am Pferd (letzter Zugriff 21.09.2020) ■ www.psychotherapeutisches-reiten.de: Münchner Schule für Psychotherapeutisches Reiten (letzter Zugriff 21.09.2020) Die Autorin Dr. phil. Christina Simon ist Kulturwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Beziehung von Mensch und Pferd in Vorgeschichte und Antike, Reitwart, Ausbilderin im Behindertenreitsport (DKThR), Kräuterpädagogin, tätig als Dozentin und sog. Reittherapeutin für das Münchner Institut für Therapie (MIT) sowie mit eigenen Pferden im Münchner Nordwesten. Anschrift Dr. phil. Christina Simon · www.reittherapie-christina-simon.de PferdundMensch@gmx.de Abb. 5: Durch Achtsamkeitsübungen in die körperliche und seelische Balance finden Pferdegestützte Therapie Ein reichhaltiges und lesenswertes Standardwerk bereits in 4. Auflage! Therapeutisches Reiten umfasst psychologische, psychotherapeutische, pädagogische, sozial-integrative und rehabilitative Maßnahmen mit und auf dem Pferd. Zielgruppen sind Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit seelischen, körperlichen und sozialen Entwicklungsbeeinträchtigungen oder Behinderungen. Das Autorenteam gibt einen umfassenden Überblick über Ansätze und Anwendungsbereiche des Therapeutischen Reitens. Neu ist ab dieser Auflage ein Beitrag zum Thema „Selbstbewusstsein stärken“. Marianne Gäng / Sibylle Schürch-Gäng Therapeutisches Reiten (mensch & tier) 4., aktual. Auflage 2021. 288 Seiten. Innenteil zweifarbig. 1. u. 2. Aufl. unter dem Titel „Reittherapie“. (978-3-497-03037-8) kt a w