mensch & pferd international
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Anforderungen an die Reittherapie für PatientInnen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS)
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Stefanie Krüger
Als Einleitung möchte ich kurz erläutern, warum ich diesen Beitrag mit so viel Psychologie beginne. Im Rahmen meiner eigenen Reittherapieausbildung und auch in Gesprächen mit vielen ReittherapeutInnen konnte ich immer wieder feststellen, wie zentral das Verständnis der BPS als Erkrankung für eine gelingende Reittherapie ist. Jetzt könnte man einwenden, dass ich doch als Reittherapeutin jede Störung meiner KlientInnen gut kennen und verstehen muss, um erfolgreich zu arbeiten. Das ist sicherlich auch richtig. Allerdings bietet kaum eine therapeutische Arbeit so viel Potential für Aufregung, Ärger, Wut und Gefühlen von Anstrengung und „Ausgelaugt-Sein“ auf Seiten der ReittherapeutInnen, wie die Arbeit mit Menschen, die unter einer BPS leiden. Mir ist es daher wichtig, dass ReittherapeutInnen verstehen, warum ihre KlientInnen sich so und nicht anders verhalten und wie sie sich als ReittherapeutInnen vor einer Überforderung schützen können. Dies gelingt meiner Erfahrung nach am besten, wenn die ReittherapeutInnen ein grundsätzlich gutes Wissen um die Ursachen, Folgen und Symptome der Erkrankung haben und ihre KlientInnen im tiefen Sinne verstehen können. Meines Erachtens nach ist es nur auf dieser Grundlage möglich, sowohl an der Verbesserung der Beziehungsfähigkeit zu arbeiten als auch sich selbst als ReittherapeutIn vor Überforderung zu schützen.
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62 | mup 2|2021|62-67|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2021.art09d Stefanie Krüger Forum Anforderungen an die Reittherapie für PatientInnen mit Borderline- Persönlichkeitsstörung (BPS) Als Einleitung möchte ich kurz erläutern, warum ich diesen Beitrag mit so viel Psychologie beginne. Im Rahmen meiner eigenen Reittherapieausbildung und auch in Gesprächen mit vielen ReittherapeutInnen konnte ich immer wieder feststellen, wie zentral das Verständnis der BPS als Erkrankung für eine gelingende Reittherapie ist. Jetzt könnte man einwenden, dass ich doch als Reittherapeutin jede Störung meiner Klient- Innen gut kennen und verstehen muss, um erfolgreich zu arbeiten. Das ist sicherlich auch richtig. Allerdings bietet kaum eine therapeutische Arbeit so viel Potential für Aufregung, Ärger, Wut und Gefühlen von Anstrengung und „Ausgelaugt- Sein“ auf Seiten der ReittherapeutInnen, wie die Arbeit mit Menschen, die unter einer BPS leiden. Mir ist es daher wichtig, dass ReittherapeutInnen verstehen, warum ihre KlientInnen sich so und nicht anders verhalten und wie sie sich als ReittherapeutInnen vor einer Überforderung schützen können. Dies gelingt meiner Erfahrung nach am besten, wenn die ReittherapeutInnen ein grundsätzlich gutes Wissen um die Ursachen, Folgen und Symptome der Erkrankung haben und ihre KlientInnen im tiefen Sinne verstehen können. Meines Erachtens nach ist es nur auf dieser Grundlage möglich, sowohl an der Verbesserung der Beziehungsfähigkeit zu arbeiten als auch sich selbst als ReittherapeutIn vor Überforderung zu schützen. Die Grundlagen für die Kompetenz, stabile Beziehungen im Jugend- und Erwachsenenalter aufbauen und führen zu können, werden im frühen Kindesalter gelegt oder können eben auch in dieser Zeit grundlegend gestört werden. Verantwortlich für die Entwicklung einer sogenannten „frühen Störung“ wie BPS sind unter anderem Bezugspersonen, die emotional instabil sind und dementsprechend dem Baby und Kleinkind keine konsistenten positiven Beziehungserfahrungen ermöglichen können. „Damit enthält das Fremde Selbst verfolgende und feindselige Anteile, die die Patienten lebenslang von innen angreifen“, wie Euler und Walter beschreiben (2018, 107). Das Kind erlebt dieselbe Bezugsperson entweder emotional überfürsorglich, teilweise grenzüberschreitend zärtlich und bedürftig und dann wieder kalt, feindselig oder überfordert und strafend. Ebenfalls kam es in der Biografie Betroffener oftmals zu sexuellem Missbrauch oder emotionaler Vernachlässigung und Gewalterfahrungen. Die fehlende Sicherheit und Berechenbarkeit im Kontakt mit der Bezugsperson erzeugt beim Kind eine grundlegende Angst und Unsicherheit, bis zum Gefühl der existentiellen Bedrohung und gleichzeitig ein sehr großes Bedürfnis, die notwendige Liebe und Unterstützung von eben dieser Person doch zu erhalten. Um das widersprüchliche Verhalten der Bezugsperson zu ertragen und vermeintlich unbeschädigt zu bleiben, kommt es zu einem, meist unbewusst bleibenden, innerpsychischen Spaltungsgeschehen beim Kind. Im Gegenüber kann das Kind nicht lernen, auch gegensätzliche Anteile der Persönlich- Forum: Krüger - Anforderungen an die Reittherapie für PatientInnen mit BPS mup 2|2021 | 63 keit zu integrieren, sondern lernt, diese entweder zu mögen oder feindselig zu verachten, bzw. entwickelt Angst. Ebenso wird auch die eigene Persönlichkeit oft unangemessen stark abgelehnt, da das Kind sich selbst die Schuld an der unverständlichen Reaktion der Bezugspersonen gibt und eigene negative und positive Anteile in der Persönlichkeit können daher nicht integriert werden. Euler und Walter (2018, 107) betonen zur Entstehungsdynamik der BPS: „Patienten mit traumatischen Erfahrungen (Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung) verinnerlichen außerdem mentale Zustände des aversiven Elternteils, bei denen der Säugling als Selbstobjekt für eigene emotionale, sexuelle oder aggressive Affekte der Bezugsperson benutzt wird“. Auf der Symptomebene erleben die Patient- Innen im Kontakt mit sich und anderen häufig eine sehr hohe innere Anspannung. Diese wird als kaum aushaltbar beschrieben und kann zu Impulsdurchbrüchen oder selbstverletzendem Verhalten führen, das dann für kurze Momente ein Gefühl von „sich wieder spüren“ und zur Ruhe kommen ermöglicht. Wissenschaftlich ausgedrückt: „Steht niemand als Empfänger dieser Selbstanteile zur Verfügung, so herrscht das Erleben von Selbsthass und Wut auf andere vor, das zu selbst- oder fremdgefährlichem Verhalten führt, um die Selbstkohärenz zurückzugewinnen“ (Taubner et al. 2015, zitiert nach Euler / Walter 2018, 107) . Im therapeutischen Zusammenhang wird also das Thema einer funktionalen und gelingenden Beziehungsgestaltung im Vordergrund stehen und den gesamten reittherapeutischen Prozess prägen. Die grundlegenden Schwierigkeiten der KlientInnen mit BPS zeigen sich auf allen Ebenen des therapeutischen Kontaktes mit den Pferden, den ReittherapeutInnen und anderen KlientInnen und müssen grundsätzlich auf diesen Ebenen bearbeitet werden, damit die Reittherapie erfolgreich sein kann. 1.2. Beziehungsgestaltung im Rahmen der Reittherapie Im Rahmen der Reittherapie entstehen aus der Erweiterung des therapeutischen Settings im Vergleich zu einem therapeutischen Gespräch in einer Praxis viele Kontaktmöglichkeiten, die zu einem Erproben neuer und funktionaler Verhaltensweisen genutzt werden können. Im Folgenden geht es daher um die Aufgaben der ReittherapeutInnen, die Rolle des Therapiepferdes sowie um die Anforderungen in der gemeinsamen Interaktion im Rahmen einer Reittherapieeinheit. 1.2.1. Die Aufgaben der ReittherapeutInnen In der Reittherapie unterscheiden sich die Aufgaben und die Funktion der TherapeutInnen deutlich von denen in einer herkömmlichen Therapiesituation, da die Reittherapeut- Innen im Rahmen eines triangulären Modells (Opgen-Rhein, 15) agieren. Dabei arbeiten die ReittherapeutInnen zeitgleich mit dem Pferd, das hier die Rolle des „Co-Therapeuten“ einnimmt und den KlientInnen. Die ReittherapeutInnen sind also nicht nur im Rahmen der therapeutischen Beziehungsgestaltung ein Gegenüber, sondern arbeiten auch psychoedukativ und erläutern den KlientInnen, welche ihrer Verhaltensweisen den Beziehungsaufbau mit dem Tier fördern oder stören können. Opgen- Rhein (2011, 15) betont außerdem die Verantwortung der Reittherapeut- Innen: „Es wird in vivo beobachtet, auf welche Art und durch welches Verhalten der Therapeut die Beziehung zwischen Patient und Pferd fördern oder stören kann“. Im Rahmen der Reittherapie kann also über den „Umweg“ der Beziehungsaufnahme der KlientInnen zum Therapiepferd eine neue und risikoärmere Variante des Kontaktaufbaus erprobt werden. Wenn die KlientInnen hierbei positive Beziehungserfahrungen machen, da die Pferde vorurteilsfrei reagieren, direkt und absolut wertfrei, entsteht bei den KlientInnen mit BPS oft erstmals seit Jahren wieder das Zutrauen, sich auch auf Beziehungen zu Menschen einzulassen. Es würde im Rahmen des Artikels zu weit führen, die Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse im Rahmen der Reittherapie darzustellen und zu erläutern. Es sei nur so viel gesagt, dass die ReittherapeutInnen sich dieser Prozesse und Gefühle ebenso bewusst sein sollten, wie sie zeitgleich auch die Interaktionen zwischen KlientInnen und Therapiepferd angemessen interpretieren müssen. Ein besonderes Augenmerk in der Reittherapie sollten die ReittherapeutInnen sowohl auf das typische herausfordernde Verhalten von Betroffenen mit BPS in Gestalt von Impulsdurchbrüchen legen als auch auf die Neigung zu dissoziativem Verhalten. Aggressives Ausagieren innerer 64 | mup 2|2021 Forum: Krüger - Anforderungen an die Reittherapie für PatientInnen mit BPS überstarker Anspannung oder verbale und körperliche Gewalt gegenüber Therapiepferden sollten durch vorausschauendes therapeutisches Verhalten möglichst nicht provoziert werden. Zeigt es sich trotzdem im Verlauf der Reittherapie, wird die Arbeit am Pferd sofort beendet, so dass abseits an einem ruhigen Ort die Situation bearbeitet werden kann. Dadurch können die Betroffenen lernen, dass ihr Verhalten eine sofortige und ernst zu nehmende Reaktion mit sich bringt, ohne dass sie ihr Gegenüber weiter manipulieren können. Die ReittherapeutInnen können in dieser Situation deeskalieren und Rückzugsmöglichkeiten bieten, ohne ihrerseits den Kontakt abbrechen zu lassen. Das Therapiepferd bewegt sich mit seinem Verhaltensrepertoire absolut im „Hier- und Jetzt“. Daher kümmert sich das Pferd auch nach einer spontanen Unterbrechung der Reittherapieeinheit zuerst einmal um die Erfüllung seiner Bedürfnisse, wie z. B. Grasen. Wie Dettling, Opgen-Rhein und Kläschen (2011, 119) erläutern: „Das Pferd ist zudem nicht sensibel für dysfunktionale Verhaltensmuster. Beziehungsphänomene wie Kontaktabbrüche, Präventivangriffe oder pathologische Regression im Sinne einer Spaltungsdynamik werden im Kontakt mit dem Tier nicht wirksam“. Wenn die emotionale Lage der Betroffenen sich stabilisiert hat, können sie wieder an das Therapiepferd herangeführt werden, um erneut Kontakt aufzunehmen und das Thema, das zum Impulsdurchbruch geführt hat, konstruktiv weiter zu bearbeiten. Ebenso wichtig ist es, auf die Dissoziationsneigung der KlientInnen mit BPS in der Reittherapie aktiv einzugehen und diese mit speziellen Interventionen zu beeinflussen. Dabei ist während der Reittherapie die Arbeit in der Natur eine große Hilfe, da KlientInnen direkt durch das Berühren von z. B. rauem Sand, kaltem Wasser, warmem Fell aus dem dissoziativen Zustand herausgeführt werden können. Meine persönliche Erfahrung bestätigt, dass die grundsätzliche Neigung zur Dissoziation in der Reittherapie rapide abnehmen kann. Dadurch bekommen die KlientInnen mit BPS eher die Möglichkeit, sich tiefgreifend mit ihren Schwierigkeiten auseinanderzusetzen. Heilsame Prozesse können angeregt werden, ohne dass die KlientInnen durch Dissoziation emotional „aussteigen“ müssen. 1.2.2. Die Rolle des Therapiepferdes Krüger (2011, 33 ff) beschreibt: „Ebenso fällt bei Störungen der Ausdrucks- und Mitteilungsfähigkeit die Kommunikation mit dem Pferd oft leichter, da es nonverbal kommuniziert. Auch die Tatsache, dass Pferde nicht ohne Grund emotional reagieren und Menschen durch ihre eigene Emotionalität emotionale Reaktionen des Pferdes auslösen können, kann im therapeutischen Sinne genutzt werden“. Das vorurteilsfreie Feedback und der direkte Ausdruck von Behagen oder Missbehagen durch das Therapiepferd sollte den KlientInnen zu Be- Impulsdurchbrüche: Impulsdurchbrüche wie Schlagen, Schreien oder selbstverletzendes Verhalten gehören zu den Symptomen der BPS, daher können sie in der Regel nicht vor Beginn der Reittherapie ausgeschlossen werden. Trotzdem besteht schon aus Tierschutzgründen die Notwendigkeit, das Pferd auf jeden Fall vor Gefährdung zu schützen. Wichtig ist es daher, regelmäßig die Regelungen im Falle eines Impulsdurchbruches zu erklären. Dazu gehört: sofortiges Ende der Arbeit am Pferd. Die Betroffenen gehen an einen ruhigen und sicheren Ort, Durchführung von hilfreichen Skills, wie Atemübungen oder Stressabbau durch Kneten von Igelbällen. (Euler / Walter 2018, 102) Dissoziatives Verhalten: Hierbei handelt es sich um kurz- oder auch länger andauernde Abwesenheitszustände. In diesen Zeiträumen erscheinen die Betroffenen wie „weggetreten“ und sind kaum ansprechbar. Sowohl aus therapeutischen als auch aus Sicherheitsgründen (KlientIn könnte vom Pferd fallen) sollte in der Reittherapie auf die Reduzierung und Beendigung der Dissoziationsneigung hingearbeitet werden. Beispiele dafür siehe unten. Forum: Krüger - Anforderungen an die Reittherapie für PatientInnen mit BPS mup 2|2021 | 65 ginn der Reittherapie und auch im Zuge der therapeutischen Arbeit immer wieder verdeutlicht werden, damit die KlientInnen sich darauf einstellen können. Viele von ihnen werden über Jahre keine oder überhaupt noch nie Kontakterlebnisse dieser Art gehabt haben und müssen erst lernen, die Reaktionen der Pferde richtig zu interpretieren. Noch einmal Dettling, Opgen-Rhein und Kläschen (2011, 119): „Die klare und nicht wertende Kontaktaufnahme des Pferdes als hierarchisches Herdentier mit natürlichen Abgrenzungsstrategien kann als Modell für adäquate Schutz- und Regulationsmechanismen dienen und so zur Aufrechterhaltung von Grenzen trotz echter Beziehungsaufnahme und Bindung beitragen“. Ebenso bestätigt Opgen-Rhein (2011, 15): „Das Verhalten des Pferdes kann hierbei Aufschluss über die aktuelle Befindlichkeit des Patienten, seine aktuellen Ressourcen und sein Entwicklungsstadium geben.“ Hier liegen große Chancen in der Reittherapie, weil die KlientInnen grundsätzlich immer wieder aufs Neue vorurteilsfreie Kontaktangebote vom Pferd erhalten. Damit die Pferde dazu in der Lage sind, sollten sich die ReittherapeutInnen darum bemühen, einem „Sauerwerden“ des Pferdes vorzubeugen. Eine grundsätzlich kooperative Umgangsform mit dem Therapiepferd ermöglicht es diesem, auch ggf. Unsicherheit oder Überforderung zu zeigen. Diese Ausdrucksformen des Pferdes können die ReittherapeutInnen wiederum in die Arbeit mit den KlientInnen einfließen lassen, um deutlich zu machen, dass es völlig in Ordnung ist, für seine Gefühle einzustehen. So können die KlientInnen mit BPS allmählich akzeptieren, dass es auch in ihnen einen liebenswerten und positiven Kern gibt, den es anzuerkennen und zu entwickeln gilt, um funktionale Beziehungen gestalten zu können - zu sich selbst und zu anderen Menschen. 2. Fallbeispiel Frau X. Am Beispiel von Frau X. (40 J.) möchte ich nun die Anforderungen an die Reittherapie in der Arbeit mit PatientInnen mit BPS exemplarisch beschreiben. Hintergrund von Frau X. ist eine dysfunktionale Familienbiografie mit emotionalem Missbrauch, Trennung der Eltern aufgrund der Suchterkrankung eines Elternteils und jahrelangem sexuellem Missbrauch im näheren Familienumfeld. Die Klientin entwickelt eine BPS und zusätzlich eine Posttraumatische Belastungsstörung. Frau X. hatte große Schwierigkeiten, stabile private Beziehungen aufzubauen und reagierte bei Nähe zu Bezugspersonen mit Angst und Abwehrverhalten. Ein Kernsymptom war dabei ihr anhaltendes Schweigen, das die therapeutische Arbeit deutlich prägte. Im therapeutischen Setting in der Praxis dissoziierte die Klientin über weite Strecken, sodass eine therapeutische Arbeit erschwert wurde. Da Frau X. sehr tierlieb war, verbanden wir beide mit der Aufnahme der Reittherapie die Hoffnung, dass sich Frau X. im Kontakt mit dem Pferd leichter auf die therapeutische Arbeit würde einlassen können. Weitere Ziele waren: das Erleben positiver Beziehungserfahrungen, eine Verringerung der Dissoziationsneigung, die Verbesserung der Körperwahrnehmung und die Steigerung des positiven Körpererlebens. Wichtig in diesem Zusammenhang ist bei KlientInnen mit Missbrauchserfahrungen immer die vorangehende Abklärung, ob die Spreizung der Beine beim Reiten möglich ist, ohne eine Re-Traumatisierung bei den KlientInnen auszulösen. Ist das Reiten (noch) nicht möglich, sind übende Interventionen wie Parcours- oder Trail-Arbeit sowie Freiarbeit und verschiedene Arten der Bodenarbeit sinnvoll. Die Reittherapie bei Frau X. bestand aus etwa 45-minütigen Einheiten, bei denen Frau X. auf dem Pferd saß und das Therapiepferd im Schritt von der Reittherapeutin geführt wurde. Bewusst wurde von mir auf Elemente der Bodenarbeit mit dem Pferd oder andere Interventionen verzichtet, da diese Frau X. zu dem damaligen Zeitpunkt überfordert hätten. Wichtig war der immer gleiche Ablauf der Reittherapie. Zuerst wurde das Pferd geputzt, dann folgte der geführte Ausritt. 66 | mup 2|2021 Forum: Krüger - Anforderungen an die Reittherapie für PatientInnen mit BPS Wir gingen bei jedem Ausritt dieselbe Strecke, schon kleine Abweichungen verunsicherten die Klientin spürbar, was sich sofort in einem höheren Muskeltonus zeigte. Durch die stete Wiederholung der Abläufe in der Reittherapieeinheit konnte Frau X. lernen, sich sowohl auf das Therapiepferd als auch auf die Reittherapeutin zu verlassen. Sie selbst brauchte keine Gegenleistung erbringen, sondern konnte sich ganz auf das eigene Erleben konzentrieren. Dies war eine völlig neue Erfahrung für Frau X., da in ihrer Familie die Zuverlässigkeit der Bezugspersonen fehlte. Darüber hinaus wurden von Frau X. durchgehend sehr hohe Leistungen erwartet. Frau X. bekam als Kind also keine positiven Rückmeldungen zu ihrem „So-Sein“ und konnte daher kein gutes Selbstwertgefühl aufbauen. Frau X. konnte während der Reittherapieeinheit größtenteils nicht verbalisieren, wie es ihr ging. Die Reittherapeutin musste in dieser Situation über genügend Intuition und Wahrnehmungsfähigkeit verfügen, um die Körpersignale der Betroffenen richtig zu deuten und ggf. adäquate Übungen während der Reittherapieeinheit anbieten. Hier spielte die beschriebene innere Anspannung eine zentrale Rolle, die sich bei Frau X. fast durchgehend in einem hohen Muskeltonus ausdrückte. Leider lehnte Frau X. die vorgeschlagenen Übungen zur Entspannung oder Wahrnehmungsverbesserung in der Regel ab. Ich ging damals davon aus, dass Frau X. zu große Angst davor hatte, was sie während der Übungen empfinden könnte. Um jegliche Übergriffigkeit zu vermeiden, war es meine Aufgabe, Frau X. in ihren Entscheidungen zu respektieren. Ich konnte ihr Vermeidungsverhalten auch als eine Art „Selbstfürsorge“ interpretieren. Trotzdem erläuterte ich Frau X. auch die negativen Konsequenzen, die ihr Verhalten für den Therapieverlauf haben könnte. Dazu gehörte, dass sie durch das Festhalten in ihrer Vermeidungshaltung keine alternativen Verhaltensweisen erlernen konnte, um sich auch außerhalb der Reittherapie z. B. in schwierigen Situationen zu beruhigen. Es war Frau X. trotzdem auch im weiteren Verlauf der Reittherapie nur selten möglich, auf meine Vorschläge einzugehen. Um den anhaltend hohen Muskeltonus positiv zu beeinflussen, brachte ich die Idee ein, dass Frau X. gezielt und über längere Zeit das Fell des Therapiepferdes berühren sollte. Hierbei konnte Frau X. selbst das Maß ihrer Kontaktaufnahme definieren und ausgestalten. Die Wahrnehmung der Wärme des Felles, der weichen Fellstruktur wirkte spannungslösend, was sich im Tonus der Klientin deutlich widerspiegelte. So stellt die Reittherapie die Anforderung an die PsychotherapeutInnen, ihren „Methoden- Koffer“ um die Dimension des Körpers, als Resonanzmodell in der Therapie, zu erweitern. Damit stellt sich meines Erachtens die Reittherapie in die Reihe der Körperpsychotherapien mit allen dazugehörigen Anforderungen und therapeutischen Möglichkeiten. Die Reittherapie war im therapeutischen Kontext die einzige Situation, in der Frau X. weitgehend auf dissoziative Verhaltensweisen verzichten konnte, was sie selbst als große Erleichterung empfand. Aufgrund der Schwere der Störung gelang es der Klientin allerdings nur bedingt, die positiven Erfahrungen aus der Reittherapie in ihren Alltag zu integrieren. Hier ist es auch eine Anforderung an die ReittherapeutInnen die eigenen Grenzen wahrzunehmen und das Erreichte anzuerkennen, ganz so wie Frau X. und das Therapiepferd in den Momenten des gelingenden Kontakts eine gute Zeit miteinander hatten. Frau X. konnte im Laufe der Reittherapie das entspannte Schnauben und aufmerksame Ohrenspiel des Pferdes entsprechend positiv bewerten. Hierfür war im Vorwege die regelmäßige Interpretation der Reittherapeutin gefragt, um die Reaktionen des Therapiepferdes als direkte Antwort auf das Verhalten von Frau X. und im Sinne einer positiven Beziehungsgestaltung zu verstehen. Forum: Krüger - Anforderungen an die Reittherapie für PatientInnen mit BPS mup 2|2021 | 67 3. Fazit Zusammenfassend wird deutlich, dass die Charakteristika der BPS besondere Anforderungen an die ReittherapeutInnen, das Therapiepferd und die therapeutische Situation stellen können. Dies resultiert in der Hauptsache aus den geschilderten dysfunktionalen Beziehungserfahrungen der KlientInnen in ihrer Biografie. Hieraus ergibt sich die Anforderung an die ReittherapeutInnen, sich ein gutes fachliches Verständnis für die Psychodynamik der BPS im Rahmen der Reittherapieausbildung zu erarbeiten. Hier sollten entsprechende Qualitätsstandards für die Ausbildung von ReittherapeutInnen eingehalten werden, die aus meiner Erfahrung im Kontext der BPS noch fehlen und in der Kürze mancher derzeitiger Reittherapieausbildungen auch nicht leistbar sind. Eine Reittherapieausbildung mit dem Fokus auf den Besonderheiten der BPS könnte hier eine wertvolle Ergänzung darstellen. Neben dem grundlegenden psychodynamischen Verständnis der BPS benötigen die ReittherapeutInnen ein geeignetes Therapiepferd, das unter pferdegerechten Bedingungen leben kann, um sich nach der therapeutischen Arbeit bestmöglich regenerieren zu können. Krüger (2011, 34) gibt zu bedenken: „Zum Beispiel wissen wir nicht viel darüber, was menschliche Emotionen im Pferd auslösen und wie stark die Konfrontation mit psychisch kranken Menschen das Therapiepferd eventuell auch belastet“. Das reittherapeutische Setting sollte im Zusammenhang mit BPS KlientInnen daher sowohl für die KlientInnen als auch für die Therapiepferde Möglichkeiten für Kontakt und ebenso für Rückzug bieten. Ein sich wiederholender Ablauf der Reittherapieeinheit mit dem Heranholen des Pferdes, dem Putzen, dem gemeinsamen Warmmachen durch Führübungen und dem anschließenden Reiten im bekannten Gelände oder in einer Reitbahn bieten Sicherheit und Kontinuität. Beides Erfahrungsqualitäten, die in der Biografie vieler BPS KlientInnen „Mangelware“ waren. Emotional belastbare ReittherapeutInnen, die aufmerksam und humorvoll auf die Herausforderungen der KlientInnen reagieren können, die spiegeln, ohne zu werten, haben es leichter in der Arbeit. Sie werden, im Sinne einer guten Selbstfürsorge, eine gute Balance zwischen Beziehungsangebot und Abgrenzung in der Reittherapie finden. Abschließend möchte ich nicht vergessen zu erwähnen, dass die gemeinsame reittherapeutische Arbeit draußen bei Wind und Wetter, mit einem vertrauensvollen Therapiepferd für die Beteiligten, bei allen beschriebenen Anforderungen, sehr lebendig, freudvoll und erfüllend sein kann. Literatur ■ Dettling, M., Opgen-Rhein, C., Kläschen, M. (2011): Praxis Pferdegestützter Therapie bei psychischen Störungen. In: Dettling, M., Kläschen, M., Opgen-Rhein, C. (Hrsg.): Pferdegestützte Therapie bei psychischen Erkrankungen. 1. Aufl. Schattauer, Stuttgart, 77-97 ■ Euler, S., Walter, M. (2018): Mentalisierungsbasierte Psychotherapie (MBT). ■ Kohlhammer, Stuttgart ■ Krüger, K. (2011): Erfasst ein Pferd die menschliche Psyche? In: Dettling, M., Kläschen, M., Opgen-Rhein, C. (Hrsg.): Pferdegestützte Therapie bei psychischen Erkrankungen. 1. Aufl. Schattauer, Stuttgart, 23-36 ■ Opgen-Rhein, C. (2011): Wirkweisen Pferdegestützter Therapie. In: Dettling, M., Kläschen, M., Opgen-Rhein, C. (Hrsg.): Pferdegestützte Therapie bei psychischen Erkrankungen. 1. Aufl. Schattauer, Stuttgart, 11-22 Die Autorin Dipl. Psych. Stefanie Krüger Reittherapeutin (ISAAT), Fachkraft für tiergestützte Intervention, Gestalttherapeutin (IGW), Mitarbeit in einem therapeutischem Reitprojekt, HPP mit eigener Praxis für Gestalttherapie und Reittherapie in Hamburg. Anschrift Stefanie Krüger · www.Gestalttherapie-am-Alsterlauf.de Poppenbüttler Landstr. 7a · D-22391 Hamburg Tel: 01522 15 30 345
