eJournals mensch & pferd international 13/3

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Forum: Selbsterfahrung einer Reittherapeutin in der Reittherapie für die Rehabilitation nach einer Hirntumor-Operation

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Alexandra Hug
Bei Frau AH wurde ein gutartiger Hirntumor auf dem Gleichgewichtsnerv diagnostiziert. Dieser kann Hörminderung, Tinnitus, Schwindel und Gangunsicherheit auslösen, im späteren Verlauf können Koordinationsstörungen oder eine Gesichtslähmung auftreten. Ohne eine Behandlung kann er lebensbedrohlich werden. Der Hirntumor wurde operativ entfernt. Infolge der Operation verlor AH das Gehör auf der linken Seite, hatte eine temporäre Gesichtslähmung und vor allem massive Probleme mit dem Gleichgewicht (die Gleichgewichtsnerven mussten durchtrennt werden). Das Gehen musste mithilfe von Physiotherapie und eines Rollators wieder erlernt werden.
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mup 3|2021|109-115|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2021.art15d | 109 Alexandra Hug Forum Selbsterfahrung einer Reittherapeutin in der Reittherapie für die Rehabilitation nach einer Hirntumor-Operation Die Klientin AH Bei Frau AH wurde ein gutartiger Hirntumor auf dem Gleichgewichtsnerv diagnostiziert. Dieser kann Hörminderung, Tinnitus, Schwindel und Gangunsicherheit auslösen, im späteren Verlauf können Koordinationsstörungen oder eine Gesichtslähmung auftreten. Ohne eine Behandlung kann er lebensbedrohlich werden. Der Hirntumor wurde operativ entfernt. Infolge der Operation verlor AH das Gehör auf der linken Seite, hatte eine temporäre Gesichtslähmung und vor allem massive Probleme mit dem Gleichgewicht (die Gleichgewichtsnerven mussten durchtrennt werden). Das Gehen musste mithilfe von Physiotherapie und eines Rollators wieder erlernt werden. Die physische Beeinträchtigung wirkte sich massiv auf die Klientin aus. Wegen des verminderten Gleichgewichts hatte AH im Alltag immer wieder das Gefühl des „Nicht-Schaffens“ oder „Nicht-Könnens“. Bei einer Überlastung des Gleichgewichtssystems trat Schwindel auf, welcher oftmals einen Eindruck von Trunkenheit machte. In der Zeit nach der Operation musste sich AH sehr konzentrieren, um einfachste Aufgaben erledigen zu können und wollte vor allem Ruhe um sich. Die Energie und Belastbarkeit, sich bei ihren Kindern oder beim jungen Hund durchzusetzen, war nicht mehr vorhanden. Die Arbeit mit einem Pferd war fast unvorstellbar und das Ziel, Reittherapeutin zu werden, infrage gestellt. Ihr Selbstbewusstsein wurde durch diese Faktoren immer mehr geschwächt. Anamnese AH ist verheiratet und hat zwei Kinder. Während der Erholungszeit nach der Operation hatte sie weniger soziale Kontakte als normalerweise. Aufgrund der Hörminderung, der Gesichtslähmung und des Schwindels vermied sie es, unter Leute zu gehen. Vor allem hat AH Probleme mit ihrem Gleichgewicht und der Koordination. Das Gehen bei schlechter Sicht, Wind oder auf unebenem Boden sowie schnelle Bewegungen oder gehen und gleichzeitig etwas tragen, sind große Herausforderungen und führen nach einigen Minuten zu einem Schwindelanfall. Linksseitig hört sie nichts mehr und es ist unmöglich, draußen die Herkunft eines Geräuschs zu bestimmen. AH hat trotzdem eine positive Einstellung. Aufgrund der physischen Probleme ist sie etwas ängstlich geworden und hat um sich zu schonen einen vorsichtigen Umgang mit allem entwickelt. Besonders ihr Selbstbewusstsein ist stark vermindert und sie zeigt eine sehr niedrige Belastbarkeitsschwelle. Vorgeschichte bezüglich Therapeutischem Reiten AH ist sehr tierliebend und hat einen sicheren und fröhlichen Umgang mit Tieren. Reiten ist ihre große Leidenschaft und AH will selber SGTR-Reittherapeutin werden. Vorgegebene Fördermaßnahmen Durch das Reiten und den Umgang mit den Pferden sollen das Gleichgewicht und die Koordination gefördert und verbessert werden. Die Aufgaben 110 | mup 3|2021 Forum: Hug - Selbsterfahrung einer Reittherapeutin in der Reittherapie mit den Pferden im Stall sowie auf dem Reitplatz sollen auch die Belastbarkeit und das Selbstbewusstsein fördern. Das Gleichgewichtssystem Unser Gleichgewicht wird den ganzen Tag in Anspruch genommen: ob beim Aufstehen, Spazieren auf unebenem Gelände, Treppensteigen oder Reiten - stets müssen wir unser Gleichgewicht wahren. Sensorische Systeme für das Gleichgewicht Um das Gleichgewicht zu erhalten, verwendet das Gehirn im Stehen sensorisch zu 70 % den Spürsinn in Füßen und Beinen, zu 20 % das Gleichgewichtsorgan im Innenohr und zu 10 % den Sehsinn. Diese sensorischen Informationen werden in verschiedenen Zentren des Gehirns verarbeitet. Treten Störungen oder Erkrankungen in einem oder mehreren Systemen auf, kann es zu Gleichgewichtsstörungen und Schwindel kommen. Schwindel Im Fall von AH ist es der Ausfall des Gleichgewichtsorgans, der die Gleichgewichts-, Koordinations- und Schwindelprobleme auslöst. Durch gezieltes Training kann man das Gleichgewicht verbessern und den Schwindel reduzieren. Bei den Übungen ist es wichtig, Schwindel auszulösen, der nach einer kurzen Pause wieder nachlässt. Bei Wiederholung der Übung reduziert sich das Schwindelgefühl jedes Mal. Diese sogenannte „Zentrale Kompensation“ basiert auf dem Lernen des Gehirns. Das A und O bei der Therapie ist die korrekte Dosierung. Sind die Reize zu stark, nimmt der Schwindel zu und das Netzwerk im Gehirn lernt nicht. Sind die Reize zu gering, haben sie keine Wirkung und das Netzwerk lernt wiederum nicht. Es lernt dann, wenn der Schwindel ausgelöst wird und die nächste Bewegung erst gemacht wird, wenn der Schwindel weg ist. Um diesen ausgelösten Schwindel zu kontrollieren, fokussiert die Patientin am besten einen fixen Punkt am Horizont. Die drei Grobziele der Therapie ■ Das Gleichgewicht und die Koordination durch den Umgang mit dem Pferd fördern und verbessern sowie dem Schwindelgefühl entgegenwirken. ■ AHs Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen steigern. ■ AH erlebt Freude und Entspannung mit dem Pferd. Verlauf der Therapie Die wöchentlichen Lektionen dauerten zwischen 45 bis 90 Minuten. Der Ablauf der Lektionen war immer gleich und der Inhalt abwechslungsreich. Inhaltlich variierten die Lektionen von Bodenarbeit bis zu Spazierritten, von Stallarbeit über Gleichgewichtsübungen auf dem Pferd bis hin zum selbständigen Reiten. Jede Lektion endete mit einem Dankeschön ans Pferd. Abb. 1: Auf die Ohren fokussieren, um Schwindel zu reduzieren Forum: Hug - Selbsterfahrung einer Reittherapeutin in der Reittherapie mup 3|2021 | 111 Die erste Lektion war sehr interessant. Pferde, die Stallumgebung, die Pflege des Pferds oder eines zu führen waren für AH nichts Neues und sie freute sich sehr, wieder etwas mit Pferden zu unternehmen. Nach der Anreise war AH schwindelig, sie wollte trotzdem sofort in den Stall zu den Pferden gehen. Dort lehnte sie sich gegen die Wand und ließ sich von den Pferden ablenken. Es dauerte am Anfang der Therapie jeweils 3 bis 4 Minuten bis der Schwindel weg war und AH schätzte das beruhigende Wesen der Pferde in dieser Zeit sehr. Es wurde sofort klar, dass sie von dieser Zeit im Stall (ohne Aufgaben) mit den Pferden Halina und Navarra profitierte, und so wurde dies zum Start jeder Lektion. Um vom Offenstall zum Putzplatz zu gelangen, muss man durch die Box über weichen Boden laufen, durch einen Gang mit hartem Boden und vom Tageslicht ins Dunklere gehen. Die Bodenbeschaffenheit und Beleuchtung stellen bei guter Gesundheit keine Schwierigkeit dar, aber für AH und ihr geschädigtes Gleichgewichtssystem waren sie eine Herausforderung. Als AH Halina zum Putzplatz führte, lief sie deswegen etwas unsicher und musste sich sehr konzentrieren. Halina spürte das und nutzte die Chance, um sich Heu im Gang zu schnappen. AH konnte dabei nicht schnell genug auf Halina reagieren, weil sie sich nur auf sich konzentrierte, des Weiteren fehlte ihr die notwendige Koordination. Hier war deutlich zu sehen, dass ihr schwaches Durchsetzungsvermögen mit ihrer physischen Unsicherheit zusammenhängt. Beim Putzen und Hufauskratzen musste AH immer wieder eine Pause machen. Die Aufgaben mit Halina verlangten Bewegungen und ein Ausbalancieren von AH, welches in dieser Form im Alltag nicht gefordert wird - das Beugen, Hufaufheben und Auskratzen forderte viel von AH und löste einen kurzen Schwindel aus. In dieser Situation bedeutet der Schwindel, dass das Gleichgewichtssystem durch die Aktivitäten mit dem Pferd gereizt wurde - es lernte. AH erholte sich nach jedem Huf durch Anlehen an Halina. Auch das Führen auf dem Sandplatz war sehr spannend. Dort war der Untergrund nass und weich, erschwerend kamen ein paar große Pfützen hinzu. Das Laufen auf diesem weichen Boden war ein Anreiz für die Sensorik der Füße und Beine und somit ebenfalls ein gutes Training für das Gleichgewicht. Wieder musste AH sich sehr auf das Laufen konzentrieren, und als sie Halina um die ganze Bahn zu führen versuchte, lief Halina langsam und sehr sorgfältig hinterher. Die sensible Stute spürte die Unsicherheit von AH und spiegelte dies in ihrer Gangart. AH war frustriert und verstand zuerst nicht, warum sie Halina nicht bestimmter führen konnte, bis die Reittherapeutin Mirjam erwähnte: „Sie passt nur auf dich auf“. Bei der Schlangenlinie und dem Handwechsel hatte AH ein Durcheinander mit dem Pferd, dem Strick und dem Gehen. Koordination war gefragt, aber fehlte noch! Nach dieser ersten Lektion wurde Folgendes klar: Abb. 2: Alexandra Hug und die Therapiepferde Halina und Navarra 112 | mup 3|2021 Forum: Hug - Selbsterfahrung einer Reittherapeutin in der Reittherapie ■ Die Stallumgebung ist ein guter Trainingsplatz für AH, ■ Die Aufgaben mit dem Pferd bringen AH in Bewegung und trainieren das Gleichgewicht, ■ Der Kontakt mit dem Pferd hilft und beruhigt AH und ■ Die folgenden Lektionen bauen hierauf auf und vertiefen die Erkenntnisse. Stall und Umgebung Der Stall und das umliegende Gelände boten AH ein spannendes Training im sicheren Rahmen. In der zweiten Lektion führte AH Halina 10 Minuten geradeaus auf einem asphaltierten Weg. Hier führte AH Halina viel besser als auf dem Sandplatz - keine Wendungen und kein weicher Boden machten das Gehen für sie einfacher, somit lief sie sicherer und damit auch Halina. Die zwei darauffolgenden Lektionen wurden auf hartem Boden durchgeführt und das Führen von AH wurde bestimmter und dynamischer. Sie musste sich nicht auf schwieriges Terrain konzentrieren, somit waren ihre Stabilität und Koordination beim Führen besser. Das wiederum unterstützte die Steigerung ihres Durchsetzungsvermögens. Schon im Verlauf der ersten 5 Lektionen machte AH Fortschritte im Stall. Sie lernte die Umgebung kennen: Wo ist es weich, wo ist eine Treppe, hier wird es dunkel - auch das Gleichgewichtssystem hat von diesen Inputs gelernt. Als AH Halina in Lektion 4 aus der Box führte, schwankte sie noch etwas, konnte aber problemlos weiterlaufen und Halina überzeugend führen. Sie musste sich nicht mehr ausschließlich auf die Umgebung konzentrieren. Ab der 6. Lektion wurde das Ausmisten in die Aufgaben integriert. Nun, da AH bereits sicherer auf den verschiedenen Untergründen lief, konnte darauf aufgebaut und mit koordinativen Aufgaben wie beispielsweise dem Ausmisten kombiniert werden. Auch wenn immer wieder kurze Pausen nötig waren, um sich vom Schwindel zu erholen, fing sie sobald wie möglich entschlossen wieder an. Die Arbeit führte zu mehr Bewegungen und forderte das Gleichgewicht, weil AH motiviert war, die Pferde zu versorgen. Der frisch ausgemistete Stall war für sie ein Beweis für ihre gute Leistung. In Lektion 9 übernahm AH den morgendlichen Stalldienst. Unter Druck durch die bereits erwartungsvollen Pferde hat sie das Futter vorbereitet. AH schickte die Pferde von der Tür weg, um das Futter reinzustellen, ohne von ihnen bedrängt zu werden. Sie hat sich bei ihnen durchgesetzt. Um gewisse Aufgaben ohne Überforderung zu bewältigen, entwickelte AH Strategien. AH musste beispielsweise ein gefülltes Heunetz von oben im Stall eine steile, enge Treppe hinuntertragen. Dabei war sie sehr unsicher und hatte Angst. Also warf sie das Netz hinunter und stieg die Treppe mit sicherem Griff am Geländer hinab. Die volle Schubkarre zu schieben und leeren erforderte Balance und Koordination. Bald merkte sie, dass dies aber machbar war, wenn die Schub- Abb. 3: Führtraining mit Halina Forum: Hug - Selbsterfahrung einer Reittherapeutin in der Reittherapie mup 3|2021 | 113 karre nur halbvoll war. Motiviert durch die Aufgaben rund um die Pferde entwickelte AH verschiedene solcher Strategien, um die Arbeit erledigen zu können. Dies zeigte ihr jedoch auf, was möglich ist und führte zu einer deutlichen Stärkung ihres Selbstbewusstseins. Das bereits anfangs erwähnte Hufauskratzen gehört zur Pflege des Pferdes und bietet Anreize für das Gleichgewicht. An dieser Übung lassen sich deutliche Fortschritte sichtbar machen: Anfänglich musste AH nach jedem Huf eine längere Pause machen, um sich von dem Schwindel zu erholen, in Lektion 5 war die Erholungszeit zwischen jedem Huf viel kürzer und in Lektion 7 kratzte sie die Hufe bereits „normal“ aus, d. h. effizient, stabil und ohne eine Pause dazwischen. Eine simple Aufgabe in der Therapie, bei der AH in ihrem Tempo das Gleichgewicht trainierte und einen Erfolg erlebte. Führen Im Verlauf der 10 Lektionen war die Aufgabe des Führens fordernd und fördernd. Wie in Lektion 1 beschrieben, konnte AH nicht aufs Pferd reagieren, da sie auf sich selbst konzentriert war. In der 3. Lektion versuchte Navarra wiederum, unterwegs Heu zu klauen. Doch AH reagierte schnell, drehte sich, zog am Strick und lief weiter. Es waren nur ein paar Sekunden, aber die Reaktion war ein Erfolg und AH war völlig überrascht von ihrer Aktion. Das Pferd hat sie aus dem „Das-geht-nicht-Muster“ geschüttelt. In Lektion 5 auf dem Sandplatz führte AH Halina herum und über ein Stangenquadrat. Die Stangen waren für AH ein Hindernis. Ihre Aufgabe war, Halina über die Stangen zu führen, dabei musste sie sich aber auch selbst ausbalancieren und das Gleichgewicht halten. Im Gegensatz zur 1. Lektion konzentrierte sich AH auf Halina. Sie führte das Pferd erfolgreich über alle verschiedenen Routen des Quadrats und konnte sie genau auf dem X, mitten im Quadrat anhalten und weiterführen. Diese Übung war optimal für die Schulung des Gleichgewichts von AH und auch gut für ihr Selbstbewusstsein. Sie hat Halina bestimmt und sicher geführt - das tat ihr gut. Reiten Die Übungen beim Reiten waren zentral für die Verbesserung des Gleichgewichts. Anfänglich bestand die Aufgabe für AH darin, einfach geführt zu werden und die dreidimensionale Bewegung auszugleichen. Das wurde dann mit ganz einfachen Übungen kombiniert - Arme drehen, Hände auf den Kopf heben, nach links und rechts schauen -, um dem sensorischen System immer mehr Anreize zu geben. Bei Schwindelgefühlen wurden kurze Pausen gemacht. In Lektion 4 ritt sie selbstständig auf einer Decke mit Voltigiergurt. Sie konnte die Balance halten und auch koordinativ klappte es gut. Auffällig dabei waren die Anforderungen an die Konzentration: Sie redete nicht, sie schaute geradeaus zwischen Navarras Ohren hindurch und ihre Hände waren instabil. Dann wurde dynamisches Gleichgewicht geübt. Interessant dabei war Folgendes: Sie startete mit einer einfachen Übung, z. B. Reiten mit einer Hand auf dem Kopf (nur das Gleichgewicht ist gefordert), danach wurde die Schwierigkeit gesteigert, z. B. einen Ball werfen und auffangen (Gleichgewicht und Koordination sind gefordert). Je mehr die Koordination ins Spiel kam, umso instabiler saß AH. Positiv war, dass durch eine Wiederholung der einfachen Übung das Gleichgewicht viel besser als beim ersten Versuch funktionierte. Wir sind in diesem „Zwei Schritte vorwärts, einen Schritt zurück“- Tempo durch die Therapie geritten. Somit haben wir das Gleichgewichtssystem immer wieder gereizt und gefordert. Das Gleichgewicht und somit die Koordination wurden besser. In Lektion 8 ritt AH selbständig über Cavaletti im Trab und balancierte auf Navarras Rücken kniend im Schritt, ohne sich am Gurt zu festzuhalten. Blind Reiten Diese Aufgabe verlangte Mut von AH, da sie dabei sehr instabil wurde. Beim ersten Versuch konnte AH vier Schritte mit geschlossenen Augen durchhalten. Die Bewegungen des Pferdes waren für sie gefühlt wie ein Schiff in stürmischer See und nach vier Schritten konnte AH dies nicht mehr aushalten. Ohne die visuelle Information musste das Gleichgewichtssystem wieder etwas lernen. Wir haben dann immer wieder das Reiten mit geschlossenen Augen trainiert. In Lektion 7 konnte AH bereits die gesamte Länge vom Sandplatz (ca. 25 m) mit geschlossenen Augen geführt werden. Sie saß stabil, bis zu einer Kurve. Hier wurde es schwieriger und sie kippte nach innen. Abb. 3: Führtraining mit Halina 114 | mup 3|2021 Forum: Hug - Selbsterfahrung einer Reittherapeutin in der Reittherapie In der letzten Lektion konnte AH mit geschlossenen Augen geradeaus selbständig reiten. Beim Hinlegen auf den Pferderücken im Schritt wurde die Bewegung für AH unerträglich, doch die vielen kleinen Erfolge, welche AH bei diesen Übungen erlebte, stärkten ihr Selbstbewusstsein. Sie halfen als Bestätigung auf dem Weg zu ihren normalen physischen und psychischen Fähigkeiten: bei der Rehabilitation. Der emotionale Kontakt mit Halina und Navarra war sehr wichtig für AH. Am Anfang jeder Lektion erholte sich AH von der Anreise bei den Pferden im Stall. Das Beobachten der ruhigen Wesen lenkte sie vom Schwindel ab und beruhigte sie. Durch die Beobachtung der Pferde im Offenstall lernte AH Halina und Navarra besser kennen. Bei allen Aufgaben, ob Hufauskratzen, Reiten oder Ausmisten musste AH bei Schwindel 2-3 Minuten Pause machen. Während dieser Pausen, in denen man eigentlich nichts machen sollte, war der Kontakt mit den Pferden perfekt für AH. Beim Putzen konnte sie sich auf Halina abstützen und ihre Körperwärme spüren. Beim Ausmisten ging AH zu Halina und Navarra für eine Pause. Sie redete mit ihnen, kuschelte mit ihnen. Falls AH beim Reiten schwindelig wurde, waren die Pferdeohren der idealen Punkt am Horizont, um sich darauf zu fokussieren. Beim Longieren von Navarra wurde AH schwindelig und beim Handwechsel stoppte Navarra neben AH, so, als ob sie wüsste, dass AH eine Pause brauchte. Zusammen spielten sie für ein paar Minuten. Es war intim und witzig. Somit wurde die Zeit bis der Schwindel nachließ zu einem Genuss. Bei Schwindel, als AH sich wie auf Hochsee fühlte, waren die Pferde ein sicherer Hafen für sie. Im Verlauf der Therapie stieg auch das Vertrauen zwischen AH und den zwei Stuten. Somit wurden beim Putzen Aufgaben mit geschlossenen Augen integriert. In Lektion 5 stand AH mit geschlossenen Augen dicht neben Halina. Nach wenigen Sekunden machte sie die Augen auf. Der zweite Versuch, mit AHs Hand auf Halinas Widerrist, ging viel besser und AH stand stabil für 30 Sekunden. In Lektion 10 lief AH mit geschlossen Augen um Halina herum. Mit den Händen auf Halinas Körper traute sie sich, die kleinen Schritte um sie zu machen. Mit AHs Vertrauen zu den Pferden stieg auch ihre Leistung. Sie traute sich, neue und anspruchsvolle Übungen zu machen. Bei jedem Erfolg stieg ihr Selbstbewusstsein, als sie sah, wie viel mit Halina und Navarra möglich war. Die Selbsterfahrung Die Reaktion eines Pferdes sagt mehr als tausend Worte! Halina merkte sofort als ich sie führte, dass ich instabil war. Sie passte auf mich auf und ging langsam, um mich nicht zu belasten. In der Physiotherapie hieß es immer: „Das machst du gut“, aber bei Halina hieß es „Du läufst, aber du bist absolut nicht sicher“. Dieses Ergebnis hat mich tief beeindruckt. In den Tagen danach, bei kurzen Spaziergängen, stellte ich mir immer vor, Halina dabei zu haben, sie zu führen und sicher zu gehen. Ich konnte das Erlebnis in der Therapie in meinen Alltag einbringen. Pferdewahl Halina und Navarra sind beide sehr lieb, aber doch unterschiedlich. Am Anfang einer Lektion fühlte ich mich nicht fit und der „Teddybär“-Effekt von Navarra war genau das, was ich brauchte. Es ist sicher ein Luxus, wenn man mehrere Pferde zur Verfügung hat und der / die KlientIn profitiert davon, wenn sie nach Gefühl und Verfassung ein Pferd wählen darf. Die Bewegung vom Pferd spüren. Wenn ich für mich reite, reite ich immer mit einem Sattel. Ich konzentriere mich auf das Pferd oder auf das Gespräch mit einer Kollegin beim Ausreiten. In der Therapie ritt ich meistens mit einer Schabracke und Gurt. Noch nie nahm ich die Bewegungen vom Pferd so wahr und für mich fühlte es sich enorm intensiv an. In der Therapie ist es wichtig, diese Bewegung nicht zu unterschätzen. Strategie In der 4. Lektion fing ich an Strategien zu entwickeln, um die Aufgaben mit Forum: Hug - Selbsterfahrung einer Reittherapeutin in der Reittherapie mup 3|2021 | 115 Halina und Navarra zu schaffen. Beispielsweise etwas ganz Einfaches wie die Schabracke und den Gurt separat zu tragen. Die Reittherapie zeigte mir dabei auf, dass ich alles noch konnte, einfach mit Anpassungen und in einem anderen Tempo als vorher. ReittherapeutInnen sind ständig zu Fuß unterwegs. Im Stall, auf dem Sandplatz, in Feld oder Wald. Wir nehmen die Wirkung der verschiedenen Bodenbeschaffenheiten gar nicht wahr. Für beeinträchtigte Menschen ist es jedoch anstrengend und kann zu Unsicherheiten führen. Es ist wichtig, dass die KlientInnen die Umgebung wirklich gut kennenlernen, damit sie ein sicheres Gefühl bekommen. Ich hatte selten so viele Termine wie während der Reha. Alles fand in einer sterilen Atmosphäre statt - weiße Wände, geheizt und ohne frische Luft! Der Geruch vom Stall, das Wetter und die Natur waren eine schöne Abwechslung, worauf ich mich freute und ich fühlte mich so lebendiger. Pferdemenschen sind wetterresistent. In der Therapie ist es jedoch eine Gratwanderung. Das Wetter trägt positiv zum Erlebnis bei, aber es darf nicht zu extrem sein. Ich merkte die Kälte und vor allem den Wind sehr. Bei Wind war es fast unangenehm. Jeder Klient ist anders und erlebt das Wetter auch unterschiedlich. Das Wetter ist das „Salz und Pfeffer“ der Therapie, unsere Aufgabe als ReittherapeutInnen ist es deshalb, darauf zu schauen, dass die Therapie weder versalzen noch zu scharf serviert wird! Akzeptanz Während meiner Reha fragten mich Bekannte und Kollegen oft, ob ich dieses oder jenes wieder machen könne. Ich habe es bei den Pferden so genossen, dass sie mich nicht mit meinem „besten Ich“ verglichen haben. In der 1. Lektion konnte ich Halina nicht gut führen, sie passte sich an. In der 7. Lektion fühlte ich mich fit und Halina merkte das bereits im Stall und lief sehr motiviert und interessiert mit mir. Sie hat gemerkt, wie weit ich bin, „heute ist es so und das ist gut“. Die Akzeptanz des Pferdes nimmt jeglichen Druck von der Klientin oder vom Klienten und tut gut. Pausen Die regelmäßigen Pausen haben nicht nur den Schwindel beruhigt. Während einer Pause kann man die letzte Aufgabe kurz einordnen, bevor es weiter geht und bekommt Erholungszeit oder einfach Zeit, um alles sacken zu lassen. In der Therapie lernte ich, wie wichtig Pausen sind und wie ich mich gut einteilen kann. Das konnte ich eins zu eins in meinem Alltag umsetzen. Vertrauen Als meine Freundschaft und mein Vertrauen zu Halina und Navarra vertieft wurden, traute ich mir viel mehr mit ihnen zu und somit machte ich Fortschritte im Bereich Gleichgewicht und Koordination. Die Beziehung zum Therapiepferd ist der Schlüssel zum Erfolg der Therapie. Als ReittherapeutInnen sollten wir also die Rahmenbedingungen schaffen, um diese Beziehung zwischen Pferd und KlientIn zu ermöglichen. Mit einem Pferd nichts zu machen ist kein „Nichtstun“! Meine Erholungszeit während der Therapie verbrachte ich mit den Pferden, ohne Aufgabe und machte nichts mit ihnen. Ich war einfach mit ihnen. Aber doch merkte ich etwas von ihrem Charakter, lehnte mich an den warmen Körper, schaute ihre Ohren an. Während des „Nichtstuns“ fühlte ich mich den Pferden näher als während einer Übung. Warum? Weil mich nichts vom Pferd abgelenkt hat. Die Autorin Alexandra Hug Reittherapeutin SGTR, Psychologin (Bsc), Mutter von 2 Kindern Kontakt Alexandra.hug@icloud.com