eJournals mensch & pferd international 13/4

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2021
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Heilpädagogische Förderung mit und auf dem Pferd – Vertrauen geben und Veränderung wagen

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Gerd Hölter
Marietta Schulz und ihre Arbeit kenne ich seit vielen Jahren, aber es war für mich wieder sehr faszinierend, ihre reiterlichen und pädagogischen Kompetenzen als Beraterin einer Reitpädagogin im Umgang mit ihrem Fjordpferd und mit einer 11-jährigen eher ängstlichen Reitschülerin zu beobachten. Ihre Interventionen waren in beiden Fällen von außen kaum erkennbar: keine lauten Anweisungen, nur kleine Gesten und gezielte verbale Rückmeldungen, sowie ab und an praktische Korrekturen, wie z. B. bei der Schülerin eine Veränderung des Anstellwinkels der Füße in den Steigbügeln, um eine sichere Haltung im Sattelsitz zu bewirken. Es war für mich eine große Freude zu sehen, mit welcher Gelassenheit, Selbstverständlichkeit und Professionalität Marietta weiterhin vielseitig in einem Arbeitsfeld tätig ist, das sie fast ihr ganzes Leben begleitet hat und das sie bis heute fasziniert. Bei einem Gespräch mit Personen, die an der Weiterentwicklung der „Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd“ (HFP) in Deutschland prägend beteiligt waren, ist es naheliegend, zunächst nach der eigenen reiterlichen Biografie zu fragen, die bei Marietta in der „Wiege“ des deutschen Reitsports in Warendorf im Münsterland lag. Anschließend sind wir dann mehr im Dialog auf Themen eingegangen, die sie in ihrer Berufsbiografie immer wieder beschäftigt haben, wie Fragen zur Ausbildung und Qualifikation, zur Internationalisierung, zur Beziehungsgestaltung und zu kreativen „Grenzüberschreitungen“.
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164 | mup 4|2021|164-169|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2021.art23d Forum Heilpädagogische Förderung mit und auf dem Pferd - Vertrauen geben und Veränderung wagen Eine Begegnung mit Marietta Schulz im Frühjahr 2021 Gerd Hölter Zur Einstimmung auf unser Gespräch haben wir uns zweimal auf unterschiedlichen Reiterhöfen im Großraum von Köln getroffen. Beide Höfe befinden sich auf den Höhenzügen beiderseits des Rheins, mit einem weiten Blick auf Industrieanlagen im Rheintal und das nahe Köln sowie im Bergischen Land auf eine weite Hügellandschaft. Marietta Schulz und ihre Arbeit kenne ich seit vielen Jahren, aber es war für mich wieder sehr faszinierend, ihre reiterlichen und pädagogischen Kompetenzen als Beraterin einer Reitpädagogin im Umgang mit ihrem Fjordpferd und mit einer 11-jährigen eher ängstlichen Reitschülerin zu beobachten. Ihre Interventionen waren in beiden Fällen von außen kaum erkennbar: keine lauten Anweisungen, nur kleine Gesten und gezielte verbale Rückmeldungen, sowie ab und an praktische Korrekturen, wie z. B. bei der Schülerin eine Veränderung des Anstellwinkels der Füße in den Steigbügeln, um eine sichere Haltung im Sattelsitz zu bewirken. Es war für mich eine große Freude zu sehen, mit welcher Gelassenheit, Selbstverständlichkeit und Professionalität Marietta weiterhin vielseitig in einem Arbeitsfeld tätig ist, das sie fast ihr ganzes Leben begleitet hat und das sie bis heute fasziniert. Bei einem Gespräch mit Personen, die an der Weiterentwicklung der „Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd“ (HFP) in Deutschland prägend beteiligt waren, ist es naheliegend, zunächst nach der eigenen reiterlichen Biografie zu fragen, die bei Marietta in der „Wiege“ des deutschen Reitsports in Warendorf im Münsterland lag. Anschließend sind wir dann mehr im Dialog auf Themen eingegangen, die sie in ihrer Berufsbiografie immer wieder beschäftigt haben, wie Fragen zur Ausbildung und Qualifikation, zur Internationalisierung, zur Beziehungsgestaltung und zu kreativen „Grenzüberschreitungen“. „Meine erste Begegnung mit Pferden war im Alter von 6 Jahren, als ein befreundeter Tierarzt meines Vaters mir vorschlug, es doch mal mit dem Reiten auf einem Pony zu versuchen. Für Kinder damals wie heute attraktiv, bedeutete das in einem Reiter-Eldorado wie Warendorf nicht nur ein gelegentliches Ponyreiten, sondern mündete schnell in einer Mitgliedschaft in einem Reiterverein mit systematischem Unterricht. Aus dem Pony wurde dann später ein sog. ‚Doppelpony‘ mit einem Stockmaß bis 146 cm und schließlich ab 16 Jahren, nach dem Erwerb des Reitabzeichens, das Reiten auf dem Großpferd u. a. mit der Möglichkeit, Vereinspferde für ihre Trainingseinheiten im Springen und der Dressur vorzubereiten. Es folgte 1981 die Prüfung zur Amateurreitlehrerin. Bis zum Beginn meines Studiums der Heilpädagogik in Köln war ich eher reitsportlich orientiert. Rückblickend bin ich für die frühe, sehr umfassende reitsportliche Ausbildung sehr dankbar.“ Forum: Hölter - Heilpädagogische Förderung mit und auf dem Pferd mup 4|2021 | 165 „Ein Wechsel im Interesse an der Arbeit mit Tieren und in meiner praktischen Tätigkeit mit Pferden ergab sich im Zusammenhang mit meinem Studium der Heilpädagogik in Köln. Die Qualifikation als Amateurreitlehrerin eröffnete mir schnell den Zugang zu sonderpädagogischen Praktika in Einrichtungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten des Therapeutischen Reitens. Zunächst in der Hippotherapie mit körperbehinderten Kindern, dann aber auch zunehmend in der heilpädagogischen Förderung mit sog. ‚ungeschickten Kindern‘. Dies war damals eine Art Sammelbezeichnung für hyper- und hypoaktive, ängstliche oder aggressive Kinder oder auch Kinder mit einer Lernbeeinträchtigung, bei denen die Ursachen für ihr Verhalten häufig unklar waren. Hilfreich waren für mich zu dieser Zeit u. a. die Kontakte zu Dr. Ch. Rieger und C. Heipertz- Hengst an der Dt. Sporthochschule, die beide Lehrveranstaltungen zum Reiten als Sport für Menschen mit Behinderungen anboten und Publikationen zu ihrer Arbeit verfasst hatten. Neu war für mich der große Stellenwert des Voltigierens, was sicherlich auch mit offenen Fragen in der Arbeit mit der Klientel der ‚ungeschickten‘ Kinder zusammenhing. Allmählich wuchs bei mir das Interesse, meine Arbeit genauer zu reflektieren und zu dokumentieren sowie mich mit anderen Fachpersonen auszutauschen. Eine Gelegenheit dazu bot eine filmische Dokumentation und Vortrag meiner Arbeit mit ‚ungeschickten‘ Kindern auf dem 4. Internationalen Kongress für Therapeutisches Reiten 1982 in Hamburg und später dann die regelmäßige Teilnahme an Fachkongressen und -tagungen, die ein allmähliches ‚Hineinwachsen in die Szene‘ mit sich brachten. In der Vorbereitung für den Kongress in Hamburg habe ich dann auch Prof. Carl Klüwer näher kennengelernt. Als er noch regelmäßig gemeinsam mit seiner Tochter Barbara zu mir in die Reitstunde kam, wusste ich nicht, dass er damals schon eine der prägenden Persönlichkeiten des therapeutischen Reitens nicht nur in Deutschland, sondern auch international war. Er ist 2014 verstorben und mit ihm hat mich eine über 30-jährige nicht nur fachlich inspirierte, sondern auch persönliche Freundschaft verbunden.“ „Die Verdienste von Carl Klüwer bei der theoretischen Begründung und institutionellen Verankerung des heilpädagogischen Reitens und Voltigierens und der psychotherapeutisch orientierten Reittherapie sind schon vielfältig gewürdigt worden. Mich haben besonders seine gut Marietta Schulz, geb.1957 in Warendorf; Dipl.-Päd. mit Schwerpunkt Heil- und Sonderpädagogik, Amateurreitlehrerin, Voltigierwartin, Zusatzqualifikationen Heilpädagogisches Reiten und Voltigieren, Psychomotorik und Fortbildung in systemischer Familientherapie. Arbeitsschwerpunkte in stationärer Jugendhilfe und in eigener Praxis mit unterschiedlichen Zielgruppen, vor allem verhaltensauffällige und autistische Kinder und Jugendliche. Von 1992 bis 2011 Vorstandsmitglied des DKThR (Referat internationale Kontakte) und Leiterin des Arbeitskreises Heilpädagogisches Voltigieren / Reiten. Seit 1987 regelmäßige Leitung von Weiterbildungskursen des DKThR; seit 1992 internationale Seminartätigkeit; Initiatorin von internationalen Sommerkursen und einem gemeinsamen Forum der Ausbildungsträger einer Therapie mit dem Pferd (FATP) für den deutschsprachigen Bereich. Seit 1987 Lehrbeauftragte an der FH Köln und ab 1992 den Universitäten Marburg (Motologie) und Dortmund (Rehabilitationswissenschaft), z. T. verbunden mit Forschungsaufgaben. Von 2003-2020 Aufbau und Leitung eines Zentrums für Therapeutisches Reiten in einer großen heilpädagogischpsychotherapeutischen Einrichtung in der Nähe von Köln (Stiftung „Die Gute Hand“). Seit 2020 Pensionierung, aber weiterhin in der Fort- und Weiterbildung und in eigener Praxis tätig. Mehrere Publikationen insbesondere zur heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd (HFP) in der stationären Jugendhilfe, bei autistischen Störungen und bei frühen Entwicklungsstörungen. Marietta Schulz - zur Person 166 | mup 4|2021 Forum: Hölter - Heilpädagogische Förderung mit und auf dem Pferd reflektierten, praxisnahen Interventionen beeindruckt, wie die übungsgeleitete Selbstwahrnehmung im Voltigieren, die u. a. die Entwicklung vom Liegen auf dem Pferd, zum Sitzen und Aufrichten und dann über das Knien zum Stehen beinhalten und in eine Analogie zur frühen Bewegungsentwicklung des Menschen setzen. Als Psychoanalytiker war Carl Klüwer besonders auch an den mit der Bewegungsentwicklung einhergehenden psychischen Entwicklungsprozessen interessiert. Er hat schon früh auf die Bedeutung der Arbeiten von Judith Kestenberg aufmerksam gemacht, einer österreichisch-amerikanischen Kinderärztin und Analytikerin, die im Kontakt mit Anna Freud und den Arbeiten von R. v. Laban u. a. ein bedeutsames Beobachtungsinstrument für Bewegung und psychische Entwicklung, das Kestenberg Movement Profile (KMP), beschrieben hat. Das habe ich dann später in Nordamerika in Kursen von Susan Loman, einer Schülerin von Kestenberg, selbst erfahren dürfen. Für mich war Carl Klüwer ein ausgezeichneter Lehrer, der Rückmeldungen und theoretische Verbindungslinien immer mit der Beobachtung von konkreten Situationen verknüpft hat. Ihm gelang es ebenfalls hervorragend, das Zutrauen in das eigene Leistungsvermögen zu stärken. So traute er mir nach einer kurzen praktischen Einführung in die Selbsterfahrungsübungen morgens im Stall als gerade 20-jährige Studentin die Anleitung einer Praxiseinheit bei einem Weiterbildungskurs zu.“ Die Anleitung und Weitergabe von Wissen waren und sind für Marietta ein großes Anliegen, sei es durch Publikationen und Kongressbeiträge, aber vor allem durch die Konzeption und Durchführung von Aus- und Weiterbildungskursen. Des Weiteren gibt es aufgrund ihrer fast 20-jährigen Tätigkeit als Verantwortliche für internationale Kontakte im Vorstand des Dt. Kuratoriums für therapeutisches Reiten (DKthR) in dieser Hinsicht im deutschsprachigen Raum kaum eine Fachfrau mit so vielfältigen internationalen Erfahrungen und Einblicken. Daher war es kein Zufall, dass Marietta Schulz 2009 maßgeblich an der Organisation von wissenschaftlichen und praktischen Programm sowie der Entwicklung des Kindertheaters „Der kleine Prinz“ im Showprogramm des 13. Weltkongresses Horses for Body, Mind and Soul in Münster beteiligt war. „Wie bei der Mehrzahl der heute in diesem Bereich tätigen KollegInnen baut die besondere heilpädagogische Qualifikation in der Regel auf einem bewegungs- oder pädagogisch orientierten Grundberuf auf. In der Regel verfügen die meisten Fachpersonen seit längerem über eine hinreichende reiterliche Kompetenz, die in Ausbildungskursen unter dem Gesichtspunkt der heilpädagogischen Anwendung erweitert und je nach Klientel auch störungsspezifisch vermittelt wird. Die Verbindung mit einem abgeschlossenen Grundberuf scheint mir auch deswegen sinnvoll zu sein, damit man die Grundorientierung in der Arbeit nicht aus den Augen verliert und unterscheiden lernt, was genau der besondere Beitrag des Mediums Pferd ist. Unter der Voraussetzung, dass hinreichende reiterliche Kompetenzen schon frühzeitig vorher erworben wurden, ist es für mich für die Zukunft auch ein denkbarer Weg, die Qualifikation zur HFP in einem spezifischen Bachelorstudium zu erlangen. Aus meiner Sicht wird die Bedeutung der reiterlichen Voraussetzungen manchmal zu geringgeschätzt. Ähnlich wie bei anderen Bewegungsfertigkeiten - sei es als AquatherapeutIn, YogalehrerIn oder KlettertherapeutIn - muss man wie in der Musik sein ‚Bewegungsinstrument‘ als Medium der Intervention sehr gut kennen. Ergänzend zu eigenen Bewegungsfertigkeiten kommen bei der HFP noch der professionelle Umgang und die Erfahrung mit dem Pferd als lebendigem Wesen hinzu. Antonius Kröger, einer der Gründungsväter der HFP, beschrieb die notwendigen Fertigkeiten anschaulich so: ‚Das Pferd sollte so gut mit mir im Kontakt und an den Hilfen sein, dass es mit 5 % meiner Aufmerksamkeit auskommt, damit 95 % der Klientel gehören können.‘ Terminologisch könnte ich mir vorstellen - wie es z. B. Beetz et al. (2018) vorschlagen -, dass der Grundberuf mit dem Adjektiv ‚tierbzw. pferdegestützt‘ verbunden wird. Theorien und Methodik des Grundberufs bilden die Basis, die als Zusatzqualifikation um pferdespezifische Kompetenzen und Kenntnisse ergänzt wird. Besonders in der Psychotherapie mit dem Pferd ist auf eine Balance zwischen dem psychotherapeutischen Anspruch, den reiterlichen Kompetenzen und dem Respekt vor dem Eigensinn und den Bedürfnissen des Tieres zu achten. Hier bietet es sich an - wie es in einigen anderen Ländern üblich ist -, Forum: Hölter - Heilpädagogische Förderung mit und auf dem Pferd mup 4|2021 | 167 klar zwischen unterschiedlichen Funktionen zu trennen und wenn möglich in einem Team z. B. zusammen mit einer PferdeführerIn / -expertIn zu arbeiten. Generell halte ich im klinischen Arbeitsfeld oder im stationären und ambulanten Bereich der Erziehungshilfe und Therapie eine enge Zusammenarbeit und Absprache mit anderen Fachpersonen für unabdingbar. Dazu gehört auch eine externe Teamsupervision.“ „Wenn ich meine internationalen Erfahrungen mit der Entwicklung hier in Deutschland vergleiche, dann lassen sich einige wichtige Unterschiede beobachten. So ist das Voltigieren an der Longe und mit Kleingruppen in vielen Ländern weniger bekannt, oder es wird u. a. auch aus versicherungsrechtlichen Gründen (wie z. B. in den USA) weniger in der HFP angewendet. Dabei bietet aus reitfachlicher Sicht das Voltigieren mehrere Vorteile, wie z. B. die Vermittlung der von Klüwer so geschätzten Balanceentwicklung vom Liegen zum Stehen oder die Bewegungsmöglichkeiten des gut ausgebildeten Voltigierpferdes in verschiedenen Gangarten, besonders auch im Galopp. International und im englischsprachigen Raum ist die HFP organisatorisch und inhaltlich mehr mit dem Reiten für Menschen mit Behinderungen („Riding for the Disabled“, RDA) verbunden. In der Praxis zeigt sich dies u. a. darin, dass die KlientInnen überwiegend einzeln betreut werden und dabei, wie z. B. in den USA, eine Reihe zusätzlicher, meist ehrenamtlicher UnterstützerInnen im Jugendlichen- und Erwachsenenalter mitwirken. Dies mag vielleicht Vorteile haben wie z. B. beim Umgang mit sehr ängstlichen Kindern, aber eine allumfassende Unterstützung durch mehrere Helfer kann die Entwicklung zur Selbständigkeit erschweren und bringt eine verstärkte Ablenkung in der Dreierbeziehung Pferd / Pädagoge oder Pädagoge / KlientIn mit sich. Ich bevorzuge daher eher Kleingruppensituationen (4-6 Teilnehmer) ohne zusätzlichen Helfer, oder wenn mit Helfern, dann mit klaren Rollenzuweisungen, weil sonst die unmittelbare Interaktion Kind-Pädagoge-Pferd im Gruppenkontext zu schwierig wird. Vielleicht noch ein Wort zur Ausbildung, Organisation und Forschung. Ich habe den Eindruck, dass wir im deutschsprachigen Raum in allen Bereichen im internationalen Vergleich sehr gut aufgestellt sind. Bedauerlicherweise dominiert in der internationalen Kommunikation die englische Sprache. Für die Zukunft würde ich den zahlreichen deutschsprachigen Fachpersonen und ForscherInnen in diesem Bereich empfehlen, ihre Ergebnisse und konzeptionellen Entwürfe auch in Englisch zu veröffentlichen oder auf Kongressen vorzustellen.“ Richten wir den Blick noch auf ein besonders eindrückliches Ereignis, das die erweiterten Möglichkeiten des Heilpädagogischen Voltigierens und Reitens bundesweit bekannt gemacht hat. Dies waren die mehrfachen Aufführungen von „Momo“, einer Inszenierung auf und mit Pferden, die Marietta in Kooperation mit Dominik Böhringer (Absolvent der Dimitri Theaterschule und dem Arbeitskreis HFP, besonders Claudia Pauel) nach dem Buch von Michael Ende als inklusives Projekt realisiert hat. „Mich haben schon immer Projekte wie Zirkus oder Theater, häufig im Zusammenspiel von Musik, Bewegung, Verkleidung etc. interessiert. In der Psychomotorik hatte schon in den 50er Jahren der gelernte Akrobat und Clown E. J. Kiphard gezeigt, welche große Bedeutung und Resonanz verschiedene Formen des Darstellens und Abb. 1: Marietta Schulz 168 | mup 4|2021 Forum: Hölter - Heilpädagogische Förderung mit und auf dem Pferd Gestaltens in dem schwierigen Umfeld der Kinder- und Jugendpsychiatrie haben können. Als ‚Nebendarsteller‘ ist auf den alten Filmen über diese Aktivitäten auch ein Pony zu sehen. Inspiriert durch einen Clown-Workshop bei Kiphard und vor allem die positiven Erfahrungen von kleinen Projekten, die eine Überschreitung des Alltäglichen bedeuten, habe ich dann auch auf verschiedene Art und Weise spielerische Faszination und Geschichten in der heilpädagogischen Arbeit mit Pferden genutzt. Es folgten Zirkusprojekte und dann schließlich die Inszenierung von Momo. Die meisten der jungen ReiterInnen kamen aus Gruppen in der stationären Erziehungshilfe oder später auch ambulanten Projekten. Es war eine Freude zu sehen, mit welcher Aufmerksamkeit und Spielfreude sie vor einem zahlreichen Publikum agierten und den Applaus genossen. Dabei können die Übernahme von Rollen, die gemeinsame Entwicklung von Ideen, das regelmäßige Üben und der ‚Kick‘ einer Aufführung vor Publikum auch für schwierige Kinder, Jugendliche und sogar Erwachsene sehr motivierend sein. Sie sind aber kein ‚pädagogischer Selbstläufer‘, sondern es bedarf einer sorgfältigen Vorbereitung und Begleitung sowie einer realistischen Einschätzung der Möglichkeiten und Kompetenzen der Mitwirkenden. Die besten Erfahrungen mit Projekten habe ich dann gemacht, wenn - wie in einer Ferienfreizeit oder in einer Lernwerkstatt - ein größerer Zeitrahmen für die Arbeit zur Verfügung stand. So war es in der stationären Jugendhilfe z. B. sinnvoll, über einen längeren Zeitraum mit einer Neigungsgruppe an der Vorbereitung und Realisierung zu arbeiten.“ „Grenzüberschreitungen“ zu anderen kreativen Medien können zusätzliche Gestaltungsmöglichkeiten in der HFP eröffnen. Im letzten Teil unseres Gesprächs erörtern wir weitere zukünftige Entwicklungsperspektiven wie u. a. die Ergebnisse neurobiologischer Forschung zu Autismus, die eine frühe motorische Stimulation durch Bewegung und ihre Brückenfunktion zum Sprachaufbau bestätigen. Von Interesse ist auch wie Marietta den zukünftigen Stellenwert der HFP in der Erziehungshilfe und der Gesundheitsversorgung sieht. „Eine für mich besonders eindrückliche Erfahrung ereignete sich während der Therapie mit einem 5-jährigen Mädchen, Anna, mit einer schwerwiegenden autistischen Störung. Ihre heilpädagogische Einzelförderung mit dem Pferd hatte im Alter von drei Jahren begonnen, und sie machte in motorischer Hinsicht gute Fortschritte. Was sich kaum änderte, waren ihre autistischen Verhaltensweisen wie die Vermeidung des sozialen Kontakts, ihr Rückzug in geschlossene Räume und ihre fehlende Kommunikation über die Sprache. An einem Morgen wartete sie vor Beginn der Stunde zusammengekauert in der Ladeschaufel eines vibrierenden Traktors. Offensichtlich war sie durch diese Bewegungen so vorstimuliert, dass sie besonders aufmerksam und entspannt auf dem Pferd saß und für mich völlig unerwartet zum ersten Mal vor einem Spiegel in der Reithalle den Namen des Pferdes aussprach und dabei das Tier leicht tätschelte. Dies war ihre erste verbale Äußerung überhaupt, verbunden mit einer sichtbaren Kontaktaufnahme zu einem Gegenüber. Betrachtet man dieses Ereignis vor dem Hintergrund neuerer neurobiologischer Forschung (Scheich 2009), so scheint die besondere motorische Stimulation durch die Bewegungen auf dem Pferd die Anbahnung der verbalen Sprache vorzubereiten und die Ansätze zu einem reziproken Verhalten zu stimulieren. Es war für mich sehr befriedigend zu erleben, dass sich meine Beobachtungen und mein Erfahrungswissen von vor 20 Jahren durch die ‚TapferStudie‘ (Schmidt 2006) und neuere wissenschaftliche Forschungsergebnisse bestätigen ließen. Für die Zukunft wünsche ich mir, dass die vielfältigen, auf genauer Beobachtung und Intuition beruhenden ‚Gewissheiten‘ und ‚Erkenntnisse‘ von PraktikerInnen als eine Form der ‚internen Evidenz‘ mehr Anerkennung erfahren. Das kann auch die Anerkennung einer lange als ‚Außenseitertherapie bzw. methode‘ angese- Forum: Hölter - Heilpädagogische Förderung mit und auf dem Pferd mup 4|2021 | 169 henen Therapieform stärken. Nach wie vor ist es sehr schwierig, die HFP angemessen im System der Erziehungshilfe zu verankern. Hierfür gibt es Hilfskonstruktionen wie die Verbindung als Teil einer umfassenden heilpädagogischen Förderung im § 35 des KJHG oder die Verrechnung in den Pflegesätzen der Einrichtungen, aber wir sind in Deutschland noch weit davon entfernt, dass die HFP ähnlich wie in der Schweiz oder auch Österreich als eigenständige heilpädagogische Leistung für die Kostenträger anerkannt ist. Dies gilt gleichermaßen für die pferdegestützte Psychotherapie: als Teil des Pflegesatzes ist sie abrechenbar, aber nicht als unabhängige therapeutische Leistung.“ In unserem fast dreistündigen Gespräch haben wir noch eine Reihe weiterer Themen angesprochen wie u. a. die Entstehung und Erarbeitung eines gemeinsamen Konzepts für die HFP im deutschsprachigen Raum. In der Anfangszeit prägend war hierfür unter Beteiligung von Marietta ein Arbeitskreis, den A. Kröger begonnen hatte, u. a. mit M. Gäng, G. Hauser, C. Klüwer, B. und M. Ringbeck, W. Kaune, D. Baum und J. Voßberg (1982). Der Austausch und das Ringen um Gemeinsamkeit, zumindest in den deutschsprachigen Ländern, haben dann einige Jahre später - auch durch die Anregung von Marietta - zu dem von H. P. Gäng moderierten Forum der Ausbildungsträger einer Therapie mit dem Pferd, kurz FATP, geführt. Damit wurde ein Mindeststandard für die Ausbildung vereinbart und in der Außendarstellung eine gewisse Einheitlichkeit erreicht. Durch unser Gespräch ist mir noch einmal deutlich geworden, wie intensiv Marietta die Entwicklung des HFP in Deutschland nicht nur miterlebt, sondern mitgeprägt hat. Es ist ihr und der HFP zu wünschen, dass sie noch lange die zukünftige Entwicklung in diesem faszinierenden Arbeitsfeld der Heilpädagogik begleiten und inspirieren kann. Das Gespräch führte Gerd Hölter, ehemaliger Mitherausgeber der MuP. Literatur ■ Beetz, A., Turner, D. C., Wohlfarth, R. (2018). Tiergestützte Interventionen: Handbuch für die Aus-und Weiterbildung. Ernst Reinhardt, München / Basel, 20-28 ■ Scheich, H., Braun, A. K. (2009): Bedeutung der Hirnforschung für die Frühförderung. Monatszeitschrift für Kinderheilkunde 157, 953-964 ■ Schmidt, M. H. (2006): Tapfer - Therapeutische Arbeit mit dem Pferd. Evaluationsstudie zur Wirksamkeit von heilpädagogischem Voltigieren und Reiten bei Kindern mit autistischen Störungen. Stiftung Die Gute Hand, Kürten Literatur für Interessierte ■ Kestenberg, J., Sossin, M. (1979): The Role of Movement Patterns in Development. Dance Notation Bureau Press, New York ■ Romer, G. (1992): Choreographie der haltenden Umwelt - die frühe Mutter-Kind-Beziehung in Bewegungsmustern. In: Hörmann, K. (Hrsg.): Tanztherapie. Hogrefe, Göttingen, 72-81 ■ Schulz, M. (2005): Bewegung im Dialog: Heilpädagogisches Voltigieren mit autistischen Kindern. In: DKthR (Hrsg.): Heilpädagogisches Voltigieren und Reiten - spezielle Aufgabenfelder. Warendorf, 6-12 ■ Schulz, M. (1999): Remedial and Psychomotor Aspects of the human movement and its Development - A Theoretical Approach To Developmental Riding. Scientific and Educational Journal of Therapeutic Riding (FRDI / HETI), 44-57 ■ Schulz, M., Schwartze, W. (2018): Autismus- Spektrums-Störungen. In: Beetz, A., Riedel, M., Wohlfarth, R. (HRSG): Tiergestützte Interventionen - Handbuch für die Aus- und Weiterbildung. Ernst Reinhardt, München / Basel, 292-304 Der Autor Gerd Hölter Studium der Leibeserziehung und Romanistik. Von 1979 bis 2011 Hochschullehrer an den Universitäten Bonn, Marburg und Dortmund. 1998 Approbation als Kinderanalytiker. An der TU Dortmund u. a. Leiter einer Universitätsambulanz für bewegungs-, sprach-, und verhaltensauffällige Kinder. Von 2002 bis 2004 Mediator bei der Etablierung des Forums der Ausbildungsträger einer Therapie mit dem Pferd (FATP).