mensch & pferd international
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Das neue SGB VIII – Bedeutung für die Praxis der Kinder- und Jugendhilfe
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Sabine Triska
Mone Welsche
Am 07.05.2021 hat der Bundesrat der vom Bundestag verabschiedeten Reform der Kinder- und Jugendhilfe zugestimmt. Mit dem „Kinder- und Jugendstärkungsgesetz“ (KJSG) wurden dadurch bedeutende Änderungen im SGB VIII und angrenzenden Rechtsbereichen beschlossen.
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170 | mup 4|2021|170-175|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2021.art24d Sabine Triska, Mone Welsche Recht & Sicherheit Das neue SGB VIII - Bedeutung für die Praxis der Kinder- und Jugendhilfe Ein Kommentar Am 07.05.2021 hat der Bundesrat der vom Bundestag verabschiedeten Reform der Kinder- und Jugendhilfe zugestimmt. Mit dem „Kinder- und Jugendstärkungsgesetz“ (KJSG) wurden dadurch bedeutende Änderungen im SGB VIII und angrenzenden Rechtsbereichen beschlossen. Der Weg dorthin war vom Beginn bis zum Ende nicht einfach. Bereits 2016 wurden erste Arbeitspapiere bekannt, die eine Welle der Empörung auslösten und die letztlich dazu führten, dass sich Verbände, Interessenvertretungen und Fachleute unterschiedlichster Professionen dagegen auflehnten und sich zusammenschlossen, so dass das Vorhaben letztlich vertagt werden musste. 2018 wurde das Gesetzesvorhaben wieder aufgenommen und es begann ein umfangreicher Beteiligungsprozess unter der Leitlinie „Mitreden - Mitgestalten. Die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe“, der von manchen Akteuren bereits als historischer Prozess bezeichnet wird. ExpertInnen aus Wissenschaft und Praxis der Kinder- und Jugendhilfe, der Behindertenhilfe, der Gesundheitshilfe sowie VertreterInnen aus Bund, Ländern und Kommunen diskutierten die Reformbedarfe und über Beteiligungsformate konnten zusätzlich Betroffene Kinder, Jugendliche und Eltern bzw. Pflegeeltern und Mitarbeitende aus Einrichtungen und Diensten ihre Anliegen einbringen und kommentieren. Dabei wurden folgende Themenschwerpunkte gesetzt: ■ Besserer Kinder- und Jugendschutz ■ Stärkung von Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien und Einrichtungen der Erziehungshilfe ■ Hilfen aus einer Hand für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung ■ Mehr Prävention vor Ort ■ Mehr Beteiligung von jungen Menschen und ihren Eltern Nach einem Jahr wurde der Prozess beendet und die Gesetzesentwürfe vorbereitet, die letztlich nach mehreren Kommentierungs- und Anpassungsschleifen zu dem abschließenden Entwurf und damit zur Gesetzesänderung geführt haben. Damit sind wir in der Kinder- und Jugendhilfe jedoch erst am Anfang eines neuen Prozesses: Der Umsetzung in die Praxis und damit in das neue Grundverständnis und den Handlungsalltag einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe. Anhand der Themenfeldern werden anschließend ausgewählte Veränderungen aufgegriffen und in ihrer Relevanz für die Praxis eingeschätzt. Die Einschätzung erfolgt auf einer breiten Praxiserfahrung. Eine umfassende Bewertung kann erst nach den Gesetzesauslegungen und nach den ersten Umsetzungsschritten, die in den nächsten Jahren entstehen werden, erfolgen. Recht & Sicherheit: Triska, Welsche - Das neue SGB VIII mup 4|2021 | 171 Besserer Kinder- und Jugendschutz Der Schutz von Kindern und Jugendlichen und die Sicherung des Kindeswohls sind ein verfassungsmäßiger Auftrag des Staates und eine zentrale Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe. Das SGB VIII sieht dazu vor, die Eltern und Personensorgeberechtigten in der Erziehung zu unterstützen und zu intervenieren, wenn das Wohl des Kindes gefährdet ist und durch die Strukturen und Angebotsformen der Kinder- und Jugendhilfe nicht ausreichend gesichert werden kann. Die öffentlich diskutierten Fälle von Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch haben dabei gezeigt, dass an einigen Stellen im SGB VIII nachgebessert werden muss, um die Gefährdungslücke zu verkleinern, wohlwissend, dass sie vermutlich nie geschlossen werden kann. Im Gesetzgebungsverfahren wurde zunächst geprüft, ob eine Legaldefinition von Kindeswohlgefährdung festgeschrieben werden kann, um insbesondere unbestimmte Rechtsbegriffe verbindlicher fassen zu können. Die Idee wurde letztlich verworfen, da für den Bedarf im Einzelfall inzwischen eine Reihe von validen Beurteilungskriterien für die Praxis zur Verfügung stehen, die Orientierung geben und vor Ort weiterentwickelt werden können. Ein Veränderungsbedarf wurde jedoch in den Kooperationen sowohl zwischen Jugendhilfe und Gesundheitswesen als auch zwischen Jugendhilfe und Justiz gesehen. Der Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung (§ 8a SGB VIII) sieht in der neuen Fassung vor, dass BerufsgeheimnisträgerInnen (definiert in § 4 Absatz 3 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz), die dem Jugendamt Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung gemeldet haben, in geeigneter Weise bei der Gefährdungseinschätzung zu beteiligen sind und über das weitere Vorgehen informiert werden sollen. Der Schwerpunkt dieser Neuregelung liegt dabei auf der Betonung einer Kooperation auf Augenhöhe und der Notwendigkeit einer interdisziplinären Zusammenarbeit. Die Verantwortung und Letztentscheidung über eine mögliche Kindeswohlgefährdung verbleiben beim Jugendamt. In der Praxis wird es dabei von entscheidender Bedeutung sein, dass die Handlungsschritte, die der „Meldeparagraph“ im Vorfeld vorsieht (Einschätzung, Gespräche, Einbezug insoweit erfahrene Fachkraft, Zusammenarbeit mit den Betroffenen und Unterstützungsangebote) vertrauensvoll und verantwortungsbewusst durchgeführt werden. Im Prozess bestand große Einigkeit darüber, dass sich das Verfahren grundsätzlich bewährt hat. Eine Kooperation gibt es bereits in vielen Regionen und sie wäre auch ohne Gesetzesänderung möglich gewesen. Der neue § 8a betont diese jedoch noch einmal zusätzlich und wird vielleicht dazu beitragen, dass diese nochmal regional gestärkt wird. Ein weiterer wichtiger Schritt ist die Erweiterung der Vereinbarungen nach § 8a auf Kindertagespflegepersonen entsprechend der Vereinbarungen mit Trägern. Die erweiterte Kooperation ergibt sich auch im Jugendgerichtsverfahren. § 52 sieht ausdrücklich eine Zusammenarbeit des Jugendamtes mit anderen öffentlichen Einrichtungen und sonstigen Stellen, die in der Lebenssituation des Jugendlichen oder jungen Erwachsenen von Bedeutung sind, vor und erweitert damit den ganzheitlichen Blick auf die Betroffenen. Sehr umstritten ist dagegen die Mitwirkung des Jugendamtes in Verfahren vor den Familiengerichten (§ 50 (2)), die bei eingegrenzten Verfahren (z. B. bei freiheitsentziehenden Maßnahmen, Verbleibensanordnung bei Familienpflege oder zugunsten von Bezugspersonen, Kindeswohlgefährdung) zukünftig die Vorlage des Hilfeplans vorsieht. Das Hilfeplanverfahren kann seine Wirkung nur entfalten, wenn der Prozess der Erstellung von Vertrauen und Offenheit geprägt ist, damit im Laufe des Verfahrens partizipativ Ziele erstellt und überprüft werden können und Entwicklungsbedarfe und Stärken offen angesprochen können. Eine mögliche Offenlegung könnte diesen Prozess und damit das vertrauensvolle Miteinander erschweren. Grundsätzlich ist eine 172 | mup 4|2021 Recht & Sicherheit: Triska, Welsche - Das neue SGB VIII engere Zusammenarbeit zu befürworten, aber es ist zu bezweifeln, ob das durch die Vorlage gegeben ist. Ein weiterer Aspekt im präventiven Kinderschutz ist die Konkretisierung des Tätigkeitsausschlusses bei einschlägig vorbestraften Personen (§ 72a), zum einen, indem datenschutzrechtliche Regelungen zur Dokumentation und Einsichtnahme des erweiterten Führungszeugnisses vereinfacht werden und zum zweiten, indem der Arbeitgeber zukünftig bei allen Einträgen prüfen kann, ob sie der Eignung des Bewerbers für die Stelle widersprechen. Das erweiterte Führungszeugnis wird dadurch für die Praxis aussagekräftiger. Stärkung von Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien und Einrichtungen der Erziehungshilfe In den Einrichtungen der Erziehungshilfe wurde in einem neuen § 45 a zunächst ein Einrichtungsbegriff festgelegt, der auch familienähnliche Betreuungsformen der Unterbringungen beinhaltet, sofern sie fachlich und organisatorisch in eine betriebserlaubnispflichtige Einrichtung eingebunden sind. Diese Aussage ist insofern von Bedeutung, weil sich daran Jugendhilfestandards festmachen, die nicht unterschritten werden dürfen. Die Definition ist jedoch nicht abschließend, da Regelungen auf Landesebene möglich sind und insofern wird es dazu noch Nachverhandlungen auf Länderebene geben. Schutzrelevant sind auch Konkretisierungen in der Betriebserlaubnis und bei Prüfungen vor Ort. Bei der Erteilung einer Betriebserlaubnis wurde insbesondere der neue Begriff der Zuverlässigkeit des Trägers eingeführt. Die Zuverlässigkeit ist dann nicht gegeben, wenn z. B. in der Vergangenheit gegen Mitwirkungs- und Meldepflichten verstoßen wurde oder wenn Personen ohne entsprechende Eignung beschäftigt wurden. Aber auch die Bedeutung von Schutzkonzepten und die Anwendung von Partizipations- und Selbstvertretungsverfahren wurden noch einmal hervorgehoben. Auch Auslandsmaßnahmen werden konkretisiert und die Zusammenarbeit mit den Behörden im jeweiligen Land festgeschrieben. Wichtige Veränderungen schreibt das Gesetz bei den Hilfen für junge Volljährige (§ 41) fest. Zum einen wird der Übergang bei Volljährigkeit verbindlich geregelt. Bereits 1 Jahr vor der Volljährigkeit muss geprüft werden, ob ein Zuständigkeitsübergang auf andere Sozialleistungsträger in Betracht kommt, damit diese Leistungen unmittelbar anschließen können. Darüber hinaus wurde eine Rückkehroption eingeräumt und eine verbindliche Regelung der Nachbetreuung getroffen. Damit wurde der Tatsache Rechnung getragen, dass junge Menschen nicht mit dem 18. Geburtstag selbständig werden, sondern dass der individuelle Reifeprozess über weitere Maßnahmen entscheiden sollte. Die Kostenbeteiligung der jungen Menschen konnte auf 25 % gesenkt werden, so dass eine Ausbildung innerhalb einer Jugendhilfemaßnahme wieder attraktiver wird. Sehr intensive Diskussionen gab es im Gesetzgebungsverfahren in Bezug auf Änderungsbedarfe bei Pflegeverhältnissen und die Ergebnisse werden zum aktuellen Zeitpunkt unterschiedlich bewertet. Der Schutz der Kinder und Jugendlichen zu stärken und gleichzeitig die Rechte der Eltern und Pflegeeltern zu beachten war schon immer eine schwierige Aufgabe. Der Gesetzesentwurf macht dazu einige wichtige Schritte und erweitert den ursprünglichen § 37 Zusammenarbeit bei Hilfen außerhalb der eigenen Familie gleich um weitere §§ 37 a - c. Dabei wird insbesondere das Recht auf Beratung sowohl für die leiblichen Eltern als auch für die Pflegeeltern erheblich ausgeweitet und zwar unabhängig von der Perspektive des Kindes oder des Jugendlichen. Durch die Beratung soll gewährleistet werden, dass eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung durch eine entlastende und unterstützende Umfeldarbeit möglich ist und die Familien Konflikte besser bearbeiten und verarbeiten können. Ausdrücklich benannt ist auch eine prozesshafte Hilfeplanung als ein wichtiger Baustein einer transparenten Recht & Sicherheit: Triska, Welsche - Das neue SGB VIII mup 4|2021 | 173 Jugendhilfeleistung. Darüber hinaus müssen jetzt auch in Pflegefamilien Schutzkonzepte erstellt und geeignete Beschwerdeverfahren implementiert werden. Ein weiterer wichtiger Schritt ist die Verpflichtung des öffentlichen Trägers, Zusammenschlüsse von Pflegefamilien zu beraten, zu unterstützen und zu fördern. Diese Festschreibung kann als deutliche Aufwertung der Selbsthilfepotentiale gesehen werden. Hilfen aus einer Hand für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung Die Kinder- und Jugendhilfe inklusiv auszurichten ist schon seit Jahrzehnten ein erklärtes Ziel (fast) aller Akteure. Mit der Einführung des § 35a SGB VIII, oft als kleine Lösung benannt, wurde eine erste Brücke zwischen den Systemen der Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe für die sog. seelisch behinderten Kindern und Jugendlichen geschlagen, aber die Anwendung ist aufwendig und unzureichend, so dass an das Gesetzgebungsverfahren hohe Erwartungen gestellt wurden. Ein inklusives SGB VIII muss den Anforderungen der UN-Kinderrechtekonvention und der UN-Behindertenrechtskonvention entsprechen und die Angebote und Leistungen der Jugendhilfe für alle Kinder mit und ohne Behinderung zugänglich machen. Es geht dabei nicht nur um eine reine Zuständigkeitsverlagerung, sondern um die Umsetzung von Teilhabeleistungen, die sich an den Bedarfen der Kinder und Jugendlichen orientieren, unabhängig davon, ob sie behindert sind oder nicht. Das KJSG hat diesen Weg vorbereitet, aber die Umsetzung wird sich noch einige Jahre hinziehen; die Umsetzung erfolgt in drei Schritten bis 2028. In einem ersten Schritt wurde im gesamten Gesetzestext sprachlich nachgebessert und an vielen Stellen werden die Begriffe Behinderung, Teilhabe und Selbstbestimmung eingeführt. In § 7 SGB VIII wurde ein Behinderungsbegriff festgeschrieben, der an das SGB IX anknüpft; eine Anpassung in § 35a wurde jedoch nicht vorgenommen. Der erste Schritt ist jedoch deutlich mehr als nur eine Begriffsbereinigung. Beispielsweise wurde in § 11 SGB VIII zur Jugendarbeit ein Satz ergänzt, der sich ab Veröffentlichung des neuen Gesetzes auswirken wird: „(1) Jungen Menschen sind die zur Förderung ihrer Entwicklung erforderlichen Angebote der Jugendarbeit zur Verfügung zu stellen. Dabei sollen die Zugänglichkeit und Nutzbarkeit der Angebote für junge Menschen mit Behinderung sichergestellt werden.“ Somit besteht ab Verkündigung ein Anspruch auf eine inklusive Jugendarbeit. Diese ist schon lange auf dem Weg dahin, sich inklusiv auszurichten, aber durch die Formulierung hat jetzt die Umstellung unmittelbar zu erfolgen. In einem zweiten Schritt werden ab 2024 Verfahrenslotsen (§ 10b) eingesetzt, die sowohl die jungen Menschen als auch die Eltern und Sorgeberechtigten bei der Antragstellung und Wahrnehmung der Leistungen beraten und darüber hinaus auch den örtlichen Trägern der öffentlichen Jugendhilfe bei der Zusammenführung der Leistungen der Eingliederungshilfe für junge Menschen unterstützen. Diese Unterstützungsleistung der Verfahrenslotsen ist von großer Bedeutung, da die Systeme der Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe sehr unterschiedlich aufgestellt sind und die Verfahrenslotsen diese miteinander verknüpfen. Damit dann die dritte Stufe der Umstellung zum 01.01.2028 erfolgen kann, soll ein Bundesgesetz bis zum 01.01.2027 weitere Voraussetzungen regeln. Die Umsetzung innerhalb von sieben Jahren wird von vielen Akteuren kritisiert, da noch einmal sehr viel Zeit bis zur eigentlichen Umsetzung der inklusiven Lösung vergehen wird, aber ein größeres Risiko ist die Verpflichtung eines Bundesgesetzes, denn kommt dieses nicht zustande, dann kann auch die dritte Stufe erst einmal nicht erfolgen. Die sieben Jahre geben auf der anderen Seite der Praxis und der öffentlichen Jugendhilfe noch einmal die Zeit nach zu schärfen und ggf. Projekte oder Modellstandorte zu fördern und zu erproben. Mehr Prävention vor Ort Die Stärkung der präventiven Angebote und Leistungen im Sozialraum war von Anfang an ein gesetztes Ziel der 174 | mup 4|2021 Recht & Sicherheit: Triska, Welsche - Das neue SGB VIII SGB VIII - Reform. Im ganzen Gesetzestext wurden zunächst sprachliche Anpassungen durchgeführt. An vielen Stellen wurden die Begriffe Sozialraum, Lebenswelt, Netzwerkstrukturen und Beteiligung eingefügt und somit der Lebensraum der jungen Menschen und der Personensorgeberechtigten aufgewertet. Im Aufgabenkatalog wurde neu die Schulsozialarbeit aufgenommen und dann in einem neuen § 13a ausgeführt. Die Schulsozialarbeit hat sich in den letzten Jahren zu einem wichtigen präventiven Angebot entwickelt, bei dem Kinder und Jugendliche niederschwellig Zugang erhalten. Dennoch ist die Nennung im Gesetzesentwurf nicht unumstritten, da sich durch die Verortung im SGB VIII eine neue Zuständigkeitsdebatte ergeben könnte. Von großer Bedeutung könnten die neuen Beratungsangebote sein, die beide niederschwellig und vor Ort zugänglich gemacht werden müssen. In § 8 neu wurde eine notlagenunabhängige Beratung für Kinder und Jugendliche eingeführt. In der Praxis hat diese schon immer stattgefunden, da in den Beratungsstellen kein Kind oder Jugendlicher, der um Beratung bittet, abgelehnt wurde, aber die neue Regelung schafft eine Rechtssicherheit und erleichtert den Zugang zur Beratung. In einem neuen § 10a Beratung erhalten junge Menschen, Mütter, Väter, Personensorge- und Erziehungsberechtigte Beratung über ihre Rechte nach dem SGB VIII in einer für sie verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form. Die neue Beratungsverpflichtung, die sich zunächst an den öffentlichen Träger richtet, ist sehr nah an den zu Beratenden ausgerichtet und stärkt durch die sozialräumliche Information deren Selbstbestimmung. Welche Bedeutung die Beratung in der Praxis spielen wird und ob sie tatsächlich nach den fachlichen Prinzipien einer lebensweltorientierten Arbeit ausgerichtet ist, wird sich zeigen. Eine weitere Konkretisierung wurde in der Familienbildung vorgenommen, in dem in § 16 Schwerpunktthemen für eine allgemeine Förderung der Erziehung gesetzt wurden (Erziehung, Beziehung, Konfliktbewältigung, Gesundheit, Bildung, Medienkompetenz, Hauswirtschaft, Vereinbarkeit von Familie und Beruf) und die Unterstützung in der Fähigkeit zur aktiven Teilhabe und Partizipation aufgenommen wurde. Auch an dieser Stelle wurde ein Schwerpunkt auf vernetzte, kooperative, niederschwellige, partizipative und sozialräumliche Strukturen gelegt, was zumindest vermuten lässt, dass insbesondere auch Familienzentren, sozialräumliche Zentren und Quartiere eine wichtige Rolle in der Familienbildung einnehmen werden. Die Betreuung und Versorgung des Kindes in Notsituationen (§ 20) wurde durch die starke Unterstützung der AG Kinder psychisch kranker Eltern ausgeführt und ermöglicht jetzt auch den Einsatz von ehrenamtlichen Helfern unter der professionellen Anleitung und Begleitung insbesondere von Erziehungsberatungsstellen. Dadurch soll unter der Schwelle der Hilfeplanung und auf Grundlage einer Vereinbarung ein schneller Unterstützungseinsatz als sogenannte schwingende Hilfe (immer dann, wenn Bedarf besteht) eingerichtet werden. Die Regelung wird fachlich sehr befürwortet, strukturell gab es unterschiedliche Meinungen, ob die Verortung im Vorfeld der Hilfen zur Erziehung angesiedelt werden sollte oder in direkter Nähe zu den Erziehungsberatungsstellen. Mehr Beteiligung von jungen Menschen und ihren Eltern Das neue SGB VIII lässt an vielen Stellen deutlich erkennen, dass Beteiligung in der Kinder- und Jugendhilfe zukünftig einen deutlich höheren Stellenwert hat. Eine große Errungenschaft ist der neue § 4 a Selbstorganisierte Zusammenschlüsse zur Selbstvertretung. Leistungsberechtigte, Ehrenamtliche und Selbsthilfegruppen, die längerfristig mit einem klaren Bezug zur Kinder- und Jugendhilfe zusammenkommen, sollen stärker wahrgenommen, unterstützt und gefördert werden. Sie können als beratendes Mitglied im Recht & Sicherheit: Triska, Welsche - Das neue SGB VIII mup 4|2021 | 175 Jugendhilfeausschuss gehört werden und sollen an den regionale Arbeitsgemeinschaften nach § 78 beteiligt werden. Die guten Erfahrungen der Zusammenarbeit mit den Careleavern hat sicherlich wesentlich dazu beigetragen, dass Selbstorganisationen diese Stärkung erfahren und es ist eine gute Chance auch für ehrenamtlich Tätige, ihre Rolle im System der Jugendhilfe zu stärken. Von großer Bedeutung ist auch die Einführung der Ombudsstellen (§ 9) in der Kinder- und Jugendhilfe. Seit Jahren fordert die Praxis die Einführung von unabhängigen Beratungsstellen, die bei Konflikten im Leistungsbezug beraten und vermitteln. Die Umsetzung wird durch die Vorgabe zur Regelung im Landesrecht in Deutschland unterschiedlich sein; Baden-Württemberg ist diesen Weg schon weit gegangen und hat sich sehr dafür eingesetzt, die Ombudsstellen im SGB VIII zu verankern. An vielen Stellen im Gesetzestext wird darauf hingewiesen, dass bei Beratungen oder bei der Hilfeplanung nicht nur Beteiligung formal stattfinden soll, sondern dass die Kinder und Jugendlichen und die Personensorgeberechtigten in einer verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form beteiligt werden sollen. Die Praxis ist jetzt gefordert dieses Bekenntnis zu einer „echten“ Beteiligung methodisch umzusetzen. Fazit Der umfassende Gesetzgebungsprozess hat mit dem KJSG ein Gesetz vorgelegt, mit dem die Praxis arbeiten kann. An vielen Stellen fehlt die Verbindlichkeit, nicht alles konnte geregelt werden und nicht alle Interessen wurden berücksichtigt und manche Regelungen werden sich in der Praxis vielleicht nicht durchsetzen. Dennoch gibt es eine breite Zustimmung und es ist erkennbar, dass das Gesamtkonzept durch die inklusive, präventive, sozialräumliche und beteiligungsorientierte Ausgestaltung in die richtige Richtung weist. Der öffentliche Träger hat viele zusätzliche Aufgaben übertragen bekommen und die Umsetzung wird wesentlich davon abhängen, ob die Finanzierung dafür geschaffen wird und ob Raum für Qualifizierung der jetzt schon knappen Fachkräfte sein wird. Letztlich bleibt offen, ob sich das SGB VIII wirklich inklusiv aufstellen wird, denn eine Umsetzung in sieben Jahre und die Abhängigkeit von einem neuen Bundesgesetzt lassen noch viele Fragen offen und setzt voraus, dass die politischen Grundhaltungen sich nicht wesentlich verändern. Die Autorinnen Sabine Triska Dipl. Sozialarbeiterin, Referatsleitung Familien- und Erziehungshilfen Caritasverband DiCV, Geschäftsführerin der AG Erziehungshilfen der Erzdiözese Freiburg, Lehrbeauftragte KH Freiburg Mone Welsche Professorin an der KH Freiburg im Studiengang Soziale Arbeit und Heilpädagogik, u. a. zuständig für das Handlungsfeld der Hilfen zur Erziehung Kontakt Sabine Triska · Alois-Eckert-Strasse 6 D - 79111 Freiburg · triska@caritas-dicv-fr.de Tel.: 0761-8974188 Mone Welsche · Katholische Hochschule Freiburg Karlstrasse 63 · D - 79104 Freiburg Tel.: 0761 200-1528 · Fax.: 49 761 200-1496
