mensch & pferd international
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mup2021.art16d
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Forum: Das Therapiepferd – verantwortungsvolle Lebensabschnittsaufgabe oder Abstellgleis?
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Christine Hinterhofer
Pferde sind ihrem Gemüt nach Fluchttiere, stolze, aber auch manchmal ängstliche, wunderbare Lebewesen, die uns über ihre Domestizierung wertvolle und unersetzliche Partner geworden sind. Die Nutzung von Pferden in der menschlichen Gesellschaft hat mit der Rolle als Reit- und Transporttier begonnen, als Nutztier im täglichen Leben, der Landwirtschaft, in Kämpfen und im Krieg. Sinngemäß etwas später, aber auch schon sehr lange, erfreuen sich ReiterInnen in ihrer Freizeit an den Bewegungen des Pferdes unterm Sattel oder vor der Kutsche, in Wettkämpfen und in Vorführungen, hier auch zur großen Freude der ZuseherInnen.
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Christine Hinterhofer 116 | mup 3|2021|116-119|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2021.art16d Forum Das Therapiepferd - verantwortungsvolle Lebensabschnittsaufgabe oder Abstellgleis? … dann geb’ ich’s halt als Therapiepferd her. Ein Beitrag aus Sicht der Veterinärmedizin Pferde sind ihrem Gemüt nach Fluchttiere, stolze, aber auch manchmal ängstliche, wunderbare Lebewesen, die uns über ihre Domestizierung wertvolle und unersetzliche Partner geworden sind. Die Nutzung von Pferden in der menschlichen Gesellschaft hat mit der Rolle als Reit- und Transporttier begonnen, als Nutztier im täglichen Leben, der Landwirtschaft, in Kämpfen und im Krieg. Sinngemäß etwas später, aber auch schon sehr lange, erfreuen sich ReiterInnen in ihrer Freizeit an den Bewegungen des Pferdes unterm Sattel oder vor der Kutsche, in Wettkämpfen und in Vorführungen, hier auch zur großen Freude der ZuseherInnen. Ausführliche Berichte über den Einsatz von Tieren in der Behandlung von körperlichen und / oder psychischen Krankheiten von menschlichen Patientinnen und Patienten findet man etwa ab der Mitte des letzten Jahrhunderts, zunächst aus dem nordamerikanischen Raum, dann auch aus Europa. Die Wirkfaktoren der tiergestützten Therapie werden drei Bereichen zugeordnet: den physiologischen Auswirkungen vom positiven Kontakt mit dem Tier, den mentalen und psychologischen therapeutischen Effekten und den sozialen Auswirkungen auf die Klienten und Klientinnen, wobei dies in den Anfängen der tiergestützten Therapie mehrheitlich mit kleineren Haustieren erfolgte. Der Einsatz von Pferden wird erst in unserem Jahrhundert intensiver untersucht, wissenschaftliche Literatur darüber ist vorhanden, bietet aber noch Raum für Ergänzungen. Das Pferd als Tier-Partner in der therapeutischen Unterstützung von psychisch und / oder physisch erkrankten Menschen aller Altersstufen bietet mehrere Vorteile im Vergleich zum Einsatz von kleineren Haustieren, hat aber natürlich auch einige Nachteile. Das Pferd, auch wenn es sich um kleinere Pferde oder Ponys handelt, wirkt über seine Größe und Ruhe. Patientinnen und Patienten können den Kopf und den Hals berühren, sie sehen die großen sanften Augen und nehmen den Geruch von Fell und Heu oder Gras wahr. Pferde können auch Patientinnen oder Patienten tragen, man kann sich anlehnen, auf die Kraft verlassen, die kranken Menschen werden gestützt und unterstützt, sie spüren die Bewegung und Wärme beim Draufsitzen. Diesen unvergleichlichen Vorteilen stehen die Tatsachen gegenüber, dass manche Patientinnen oder Patienten Angst haben vor dieser Kraft und Größe, auch kann ein Pferd nur in den seltensten Fällen zu den erkrankten Personen gebracht werden. Kann ein Kind oder ein erwachsener Mensch angstfrei mit einem Pferd Kontakt aufnehmen oder kann diese meist nur anfängliche Angst in Forum: Hinterhofer - Das Therapiepferd - verantwortungsvolle Lebensabschnittsaufgabe … mup 3|2021 | 117 Zuneigung und Vertrauen umgewandelt werden, haben der Umgang mit dem Tier, der Körperkontakt und das Getragen-Werden nahezu ausschließlich positive Auswirkungen in der unterstützenden Therapie. Allerdings bergen diese Kraft und Größe, aber auch das Naturell der Pferde - alles Eigenschaften, welche wir im Guten so schätzen und wünschen - auch Gefahrenpotenzial. Das führt uns zum eigentlichen Kern dieses Artikels - dem Individuum Pferd. Ein Pferd, welches als Therapiepferd eingesetzt wird, hat in seinem direkten therapeutischen Einsatz Menschen um oder auf sich, welche in unterschiedlichem Ausmaß körperliche und / oder psychische Defizite haben. Das Gefahrenpotenzial, welches im Umgang mit einem durchschnittlich 500 kg schweren Fluchttier entsteht, reicht vom Umgestoßenwerden bis zum Herunterfallen, mit all den hiermit verbundenen physischen Verletzungsmöglichkeiten. Genauso kann hierdurch aber auch eine angst- oder schreckinduzierte psychische Verletzung entstehen. Sehr einfach kann man daraus den Schluss ziehen, dass nur extrem ausbalancierte, seelisch stabile Tiere für einen solchen Therapieeinsatz herangezogen werden dürfen. Die Ausbildung zum Therapiepferd beginnt mit der wohlüberlegten Auswahl eines erwachsenen, gesunden Pferdes, welches schon verschiedenste Situationen positiv erlebt hat. Ein zukünftiges Therapiepferd muss sich selbst und seinen betreuenden Personen uneingeschränkt vertrauen können und wollen, es muss dem charakterlich entsprechen und sich - so ich mir eine zuneigungsvolle Vermenschlichung erlauben darf - der Wichtigkeit seiner Aufgabe bewusst sein. Die konkrete Ausbildung für den Einsatz mit den unterschiedlich alten und unterschiedlich schweren Patientinnen und Patienten baut darauf auf, dass alle Grundgangarten unter den Reitern und Reiterinnen nicht nur gut beherrscht, sondern auch schon länger praktiziert werden. Die Gefahrlosigkeit im Umgang, beim Hufe aufheben, bei der Berührung aller Körperteile, beim Führen, Longieren, Verladen und vielem mehr ist selbstverständlich auch Voraussetzung. Demnach beginnt die Ausbildung zum Therapiepferd dann, wenn das Pferd aus üblicher Sicht quasi schon fertig ausgebildet ist. Ebenso wichtig wie Auswahl und Ausbildung ist der körperliche und seelische Ausgleich zur Arbeit als Therapiepferd. Die Arbeit an den Patienten und Patientinnen erfordert höchste Konzentration und Rücksichtnahme seitens des Pferdes auf ungewohnte Bewegungsreize oder akustische Einflüsse, die natürlichen Reflexe des Fluchttieres Pferd müssen für die Sicherheit der Klienten und KlientInnen unterdrückt werden. Das kann auch das beste Pferd nur leisten, wenn es in regelmäßigen Abständen durch und durch Pferd sein darf, wenn es körperlich und seelisch ausgeglichen ist, wenn sein Bewegungsapparat trainiert und belastet wird, nicht schmerzt und alternative „Erfreulichkeiten“ stattfinden. Abb. 1: Ausbildung und Ausgleichsarbeit auf der Bahn und im Gelände sind ein wichtiger Faktor für ein gesundes Therapiepferdeleben (Fotos: Verena Bauer, Innsbruck) 118 | mup 3|2021 Forum: Hinterhofer - Das Therapiepferd - verantwortungsvolle Lebensabschnittsaufgabe … Der Bewegungsapparat des Pferdes kann sich optimal entwickeln, wenn ein gesundes Fohlen mit ausreichend freier Bewegung an der frischen Luft heranwachsen kann. Pferde sind im Durchschnitt nicht vor Beendigung des 4. Lebensjahres körperlich erwachsen, einige Rassen brauchen auch noch länger, um die endgültige Knochenreife zu erlangen. Das junge und das jugendliche Pferd muss schon erzogen werden im Hinblick auf Umgang und Handling, bei gleichzeitig aber viel Freiheit in der ähnlich alten Pferdegruppe. Die Ausbildung zum Reitpferd beginnt idealerweise nach dem 4. Lebensjahr und ist oft erst nach Absolvierung der „emotionalen Pubertät“ im Alter von ca. 8 Jahren beendet. In dieser Ausbildungszeit leben die Pferde meist in der Box und es kann durch Überlastung, unfallbedingte Traumata oder vererbte Schwachstellen zu Lahmheiten kommen. Werden diese rechtzeitig erkannt und können sie geheilt werden, kann die Ausbildung weiter fortgeführt werden. Werden sie übersehen, oder nicht entsprechend therapiert, bleibt Schmerz = Lahmheit oder eine Bewegungseinschränkung. Zu den häufigsten orthopädischen Erkrankungen zählen chronisch-traumatische Gelenkverletzungen, Sehnenverletzungen der oberflächlichen oder tiefen Beugesehne, Zerrungen der gelenkbegleitenden Bänder oder schmerzhafte Veränderungen der Hufe oder des Hufhorns. Die Gelenkerkrankungen können, so die Ursachen beseitigt werden können, meist gut behandelt werden. Hufe minderer Qualität stellen insofern ein Problem dar, als das oft notwendige Hufeisen nicht verlässlich befestigt werden können, und bedürfen oft einer grundlegenden Pflege- und / oder Aufstallungsänderung. Kranke Hufe, wie zum Beispiel Hornspalten oder schmerzhafte Formveränderungen, bedürfen eines sehr guten Hufschmiedes. Die oft größte Herausforderung für die Kombination AusbilderIn / Pferd / Tierarzt/ -ärztin stellt eine beschädigte Beugesehne dar. Deren Therapie nimmt oft sehr viele Monate Therapiezeit in Anspruch und birgt eine hohe Rückfallwahrscheinlichkeit. Hat das Pferd die Grundausbildung gesund überstanden, folgt die Zeit der Spezialausbildung und dann die Einsatzzeit als Therapiepferd. In diesem Abschnitt fallen die orthopädischen Erkrankungen eher in das Kapitel der „Freizeitunfälle“. Die Ausbildung zum und die Arbeit als Therapiepferd ist selten orthopädisch gefährlich, die notwenige Ausgleichsbewegung eher. In dieser Zeit können, wie auch zu jeder anderen Zeit im Leben eines Pferdes, Koliken, Lungenerkrankungen, Erkrankungen der Zähne, Augen oder Hauterkrankungen und vieles mehr auftreten, das meiste davon kann in Abhängigkeit vom Schweregrad in der heutigen Zeit geheilt oder stabilisiert werden. Treten Beschwerden dieser Art vermehrt auf oder entstehen sie „ohne guten Grund“ immer wieder, muss man prüfen, ob die Psyche des Pferdes den doch sehr hohen Anforderungen eines funktionierenden Therapiepferdes standhält. Überforderung sucht ihr Ventil in Krankheit, wenn die Seele keine Revolution zulässt. Darüber hinaus gibt es noch die körperlich überaus stabilen Tiere, die dann, wenn ihnen alles zu viel wird, „sauer“ werden. Diese Pferde verlieren dann den Willen oder werden vermehrt unkooperativ bis hin zu gefährlich, besonders für Pati- Abb. 2: Der Grundstock für ein gesundes Therapiepferdeleben: Artgerechte Fohlenaufzucht auf weitläufigen Koppeln Forum: Hinterhofer - Das Therapiepferd - verantwortungsvolle Lebensabschnittsaufgabe … mup 3|2021 | 119 enten und Patientinnen, die auf die Stabilität ihrer Reittiere angewiesen sind. Letztendlich mündet jeder Beruf - und auch jede Berufung - bei den meisten Lebewesen im verdienten Ruhestand. Hat ein Pferd brav gedient, wird der Rücken schon weich und die Beine sind nicht mehr ganz gerade, dann ist Gestreichelt-Werden und das Stehen auf der Wiese in der Herbstsonne das vorrangige Programm! Letztendlich ist verständlich, dass die seelische und körperliche Gesundheit des Therapiepferdes das Wichtigste ist für den Einsatz bei PatientInnen mit psychischen und körperlichen Defiziten. Orthopädische Erkrankungen der Gliedmaßen, welche in unvorhergesehenen Situationen zu Schmerz oder Entlastungsreaktionen führen, können fatale Auswirkungen für die Patienten und Patientinnen haben. Schmerz im Rücken, eine eingeschränkte Atmung, chronische Zahn- oder Bauchschmerzen sind eine ganz üble Ausgangsbasis, um entspannt ein Lebewesen zu tragen, welches sich nicht ohne Hilfe auf dem Pferderücken zurechtfinden kann. Und auch wenn gar nichts weh tut, aber das Pferd selbst Angst vor Lärm oder unvorhersehbaren Bewegungen in der Umgebung hat und eines davon - oder beides - zum Schrecken führt, kann man nicht von einer Eignung für diesen verantwortungsvollen Job sprechen. Gerade deshalb erstaunt immer wieder, welche Tiere im Internet, aber auch im persönlichen Gespräch, mit der Bestimmung „Therapiepferd“ zum Verkauf angeboten werden. Die Spanne reicht vom Shetty-Fohlen über den geretteten Schlacht-Noriker bis hin zum ausrangierten Turnierpferd. Keines dieser Tiere ist primär als Therapiepferd geeignet. Ob nach Beendigung der Grundausbildung die Ausbildung zum Therapiepferd begonnen werden kann, ist für all diese Kandidaten natürlich möglich, aber noch lange nicht fix und körperliche Krankheiten und / oder Verhaltensauffälligkeiten sind keinesfalls eine Ausgangsbasis für ein Pferd, welches helfen soll, kranke Menschen zu heilen. Zusammenfassend kann von der Ausbildung zum einsetzbaren Therapiepferd als eine der umfassendsten angesprochen werden und von der Arbeit als Therapiepferd als der mit der größten Verantwortung, welche es im Pferdebereich gibt. Unser Dank an die Therapiepferde im Einsatz, an das viele Gute, dass durch sie erreicht und bewirkt werden kann, sowie an die betreuenden Menschen, Therapeuten und Therapeutinnen rundum, welche genau das ermöglichen, ist übergroß! Abb. 3: Haltungsformen optimieren, Auslauf und soziale Kontakte gewährleisten Die Autorin Doz. Dr. Christine Hinterhofer ist praktische Tierärztin mit Schwerpunkt Pferd in Österreich. Vorstandsmitglied der Vereinigung der Österreichischen Pferdetierärzte, Gerichtlich beeidete Sachverständige seit 2013 Kontakt Doz. Dr. Christine Hinterhofer A-2100 Leobendorf In Kirchbigeln 9 hinterhofer@vet-hiho.at
