mensch & pferd international
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mup2021.art18d
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Praxistipp: Das Thema Herbst in der Pferdegestützten Intervention
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Eva Weindörner
Das Thema Herbst bietet mit seinen bunten Farben vielfältige Einsatzmöglichkeiten in der Pferdegestützten Intervention. Ich sammle mit meinen KlientInnen gerne bei einem Ausritt die schönsten Herbstblätter die wir finden können und nutze diese anschließend als Stempel, um Fingerfarbe aufs Pferd zu stempeln. Die Farbe wird hierfür mit den Fingern dünn auf die ‚Aderseite‘ des Blatts aufgetragen und dann auf das Pferdefell gedrückt. Mit ein bisschen Geschick lassen sich so sowohl die Form als auch die Blattstruktur auf das Pferd stempeln. Neben der Förderung der Kreativität, ist dies eine schöne Möglichkeit, spielerisch die taktile Wahrnehmung des Menschen zu fördern.
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mup 3|2021|125-128|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2021.art18d | 125 Eva Weinbörner Praxistipp Das Thema Herbst in der Pferdegestützten Intervention Taktile Wahrnehmungsförderung mit Fingerfarben Das Thema Herbst bietet mit seinen bunten Farben vielfältige Einsatzmöglichkeiten in der Pferdegestützten Intervention. Ich sammle mit meinen KlientInnen gerne bei einem Ausritt die schönsten Herbstblätter die wir finden können und nutze diese anschließend als Stempel, um Fingerfarbe aufs Pferd zu stempeln. Die Farbe wird hierfür mit den Fingern dünn auf die ‚Aderseite‘ des Blatts aufgetragen und dann auf das Pferdefell gedrückt. Mit ein bisschen Geschick lassen sich so sowohl die Form als auch die Blattstruktur auf das Pferd stempeln. Neben der Förderung der Kreativität, ist dies eine schöne Möglichkeit, spielerisch die taktile Wahrnehmung des Menschen zu fördern. Der Begriff Wahrnehmung bezeichnet „den komplexen Vorgang von Sinneswahrnehmung, Sensibilität und integrativer Verarbeitung von Umwelt- und Körperreizen zu Informationen“ (Maier, 2016). Dies bedeutet, dass im Gehirn jegliche Reize, welche über den Körper aufgenommen werden, verarbeitet werden, sodass der Körper auf eine angemessene Art und Weise auf den Reiz reagieren kann. Beispielsweise schließen wir die Augen, wenn wir einen plötzlichen, hellen Lichtreiz wahrnehmen. Diese Reaktion und die Verarbeitung der Reize bezeichnet Jean Ayres (1998) als sensorische Integration. Auch wenn es weitere Synonyme für Wahrnehmung (wie beispielsweise die Perzeption) gibt, wird einfachheitshalber in diesem Text durchgängig der Begriff ‚sensorische Integration‘ verwendet. Die sensorische Integration geschieht kontinuierlich und in den meisten Fällen unbewusst (Pauli / Kisch 2017, 37). Jane Ayres (1998, 322), welche den Begriff sensorische Integration definiert hat, versteht darunter die „sinnvolle Ordnung und Aufgliederung von Sinneserregungen, um diese nutzen zu können. Diese Nutzung kann in einer Wahrnehmung oder Erfassung des Körpers oder der Umwelt bestehen, aber auch in einer Anpassungsreaktion oder einem Lernprozess oder auch in der Entwicklung bestimmter neuraler Tätigkeiten. Durch die Sensorische Integration wird erreicht, dass alle Abschnitte des Zentralnervensystems, die erforderlich sind, damit ein Mensch sich sinnvoll mit seiner Umgebung auseinandersetzen kann und eine angemessene Befriedigung dabei erfährt, miteinander zusammenarbeiten“. Bei der Verarbeitung all dieser Reize können jedoch langfristige Störungen entstehen. Man Abb. 1: Die Vorbereitung: Blätter bemalen (Fotos: Eva Weinbörner, Dortmund) 126 | mup 3|2021 Praxistipp: Weinbörner - Das Thema Herbst in der Pferdegestützten Intervention spricht dann von einer Störung der sensorischen Integration bzw. einer sensorischen Verarbeitungsstörung. Pauli und Kisch (2017, 60) beschreiben dies als „eine Störung entweder in der Aufnahme, der Weiterleitung zum Gehirn oder der Verarbeitung von Sinnesreizen im Gehirn“. Es werden entweder zu viele oder zu wenig Reize aufgenommen und verarbeitet, die angemessene Reaktion auf wahrgenommene Reize fällt aus. Werden zu viele Reize aufgenommen und verarbeitet, ist der Mensch rasch überfordert und vermeidet diese Reize. Werden zu wenige Reize aufgenommen und verarbeitet, „sucht“ der Mensch sich starke Reize, um deren Wahrnehmung zu verstärken oder auch erst möglich zu machen. „In der kindlichen Entwicklung gehören Bewegung und Wahrnehmung sowie Kognition, Sprache und Umwelteinflüsse immer zusammen und beeinflussen sich gegenseitig: Ist die Bewegungsfähigkeit/ Motorik des Kindes eingeschränkt, so ist auch häufig die Wahrnehmung beeinträchtigt. Anders herum hat eine Beeinträchtigung der Wahrnehmungsverarbeitung Einfluss auf die Motorik sowie häufig auch auf die Sprache und die emotionale Befindlichkeit des Kindes“ (Pauli/ Kisch 2017, 38 ff). Zur Wahrnehmung gehören ■ der Sehsinn (optisch), ■ der Geruchssinn (olfaktorisch), ■ der Gehörsinn (auditiv), ■ der Tastsinn (taktil), ■ der Geschmackssinn (gustatorisch), ■ der Bewegungssinn (kinästhetisch), ■ und der Gleichgewichtssinn (vestibulär). Störungen in der Wahrnehmung treten erfahrungsgemäß häufig in Kombination zwischen den verschiedenen Sinnen auf. Der folgende Praxistipp beschäftigt sich insbesondere mit der taktilen Wahrnehmung, möglichen Störungen sowie einer Fördermöglichkeit durch das Bemalen des Pferdes mit Fingerfarbe. Der Begriff ‚taktile Wahrnehmung‘ beschreibt die Oberflächenwahrnehmung des gesamten Körpers, also den Tastsinn, aber auch Temperatur- oder Schmerzempfindungen. Zusammen mit dem kinästhetischen System, also dem Bewegungssinn, bildet der Tastsinn die Grundlage für das Verständnis des eigenen Körpers, des sog. Körperschemas (Pauli / Kisch 2017, 44 ff). Der Tastsinn entwickelt sich bereits im Mutterleib und „Berührungs- und Bewegungsreize bilden […] die Schlüsselrolle für die Entwicklung der Gehirnfunktion“ (Pauli / Kisch 2017, 1 ff). Der Embryo kann sich spüren, wenn er z. B. am Daumen nuckelt und erfährt gegen Ende der Schwangerschaft erste ‚körperliche Grenzen‘ im Mutterleib. Bei Störungen der taktilen Wahrnehmung werden Reize entweder zu stark oder zu schwach empfunden. Eine taktile Überempfindlichkeit äußert sich beispielsweise durch ■ Vermeidung bestimmter Oberflächen oder Lebensmittel (z. B. Vermeidung von Laufen auf Gras oder Sand, Vermeidung bestimmter Lebensmittel / Mundgefühle), ■ Empfindlichkeit gegenüber Materialen, Kleidung, Mützen etc. (z. B. werden nur besonders weiche Stoffe oder Materialien toleriert), ■ Konzentrationsschwierigkeiten, Abgelenktheit (z. B. durch permanente Reizüberflutung, z. B. der Kleidung auf der Haut oder Nebengeräusche), ■ spontane Wutausbrüche oder Panikattacken. Eine taktile Unterempfindlichkeit äußert sich beispielsweise durch ■ eine reduzierte Wahrnehmung von Temperaturen oder Schmerzen (z. B. unangemessene Kleidung, T-Shirts bei Kälte, dicke Jacke im Sommer), ■ motorische Unruhe (z. B. Hüpfen, Hibbeln, etc.), ■ wenig soziale Hemmungen. Praxistipp: Weinbörner - Das Thema Herbst in der Pferdegestützten Intervention mup 3|2021 | 127 Um die taktile Wahrnehmung zu fördern, ist es wichtig, den Menschen mit möglichst vielen verschiedenen Berührungsreizen zu konfrontieren und ihm so ein Gespür für taktile Reize zu vermitteln. Hierfür können in der Förderung sowohl unterschiedliche Materialien als auch unterschiedliche Konsistenten genutzt werden. Da Störungen in der Wahrnehmung (also sowohl die taktile Überals auch die taktile Unterempfindlichkeit) Auswirkungen auf die Entwicklung der Motorik haben (vgl. Pauli / Kisch 2017, 38), stellt die Förderung der taktilen Wahrnehmung über die Hände indirekt auch eine Förderung der Feinmotorik dar. In diesem Praxistipp werden Herbstblätter mit Fingerfarbe auf das Fell des Pferdes gestempelt und so auf spielerische und kreative Art und Weise verschiedene Reize geboten. Zuerst sammle ich mit meinen KlientInnen auf einem Ausritt schöne Herbstblätter, wobei ich darauf achte, dass wir möglichst viele verschiedene Blattarten sammeln, welche sich in Haptik, Form und Größe unterscheiden. Anschließend dürfen sich die KlientInnen verschiedene Farben der Fingermalfarbe aussuchen, welche auf einer Palette verteilt werden (als nachhaltige Alternative nehme ich gerne ein Stück alte Pappe). Nun wird ein Herbstblatt ausgesucht, mit den Fingern etwas Farbe aufgenommen und auf der Rückseite des Blattes dünn verstrichen. Zum Schluss wird das Blatt vorsichtig auf das Pferdefell gedrückt und ebenso vorsichtig wieder abgezogen. Das Blatt wird entweder einfarbig oder ganz bunt angemalt, hier ist der Kreativität keine Grenze gesetzt! Abb. 2-5: Fingerfarben am Pferd - Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt 128 | mup 3|2021 Praxistipp: Weinbörner - Das Thema Herbst in der Pferdegestützten Intervention Oftmals nutzen meine KlientInnen die Chance und bemalen zusätzlich zu den gestempelten Blättern das Pferd noch eigenständig mit den Fingern oder drücken ganze Handabdrücke auf das Fell. Das Berühren des Pferdefells mit den Händen bietet in diesem Setting den ersten taktilen Reiz. Das Fell ist glatt und seidig, wenn mit dem Strich gemalt wird. Wird es gegen den Strich berührt, so kann es pieken und kratzig sein. Die Fingerfarbe bietet den zweiten taktilen Reiz, sie fühlt sich weich und etwas glitschig an und ist angenehm kühl. Die gesammelten Blätter bieten den dritten taktilen Reiz. Sie fühlen sich zumeist fest an, können aber auch weich oder rau bis haarig sein. Werden die Hände nach der Arbeit mit Wasser und Seife gewaschen sowie mit einem Handtuch abgetrocknet, stellt dies weitere taktile Reize war, welche in der Regel jedoch nicht so gezielt eingesetzt werden. Literatur ■ Ayres, A. J. (1998): Bausteine der kindlichen Entwicklung. 3. überarbeitete Aufl. Springer Verlag, Berlin ■ Maier, W. (2016): Klinisches Wörterbuch Grundlagenfächer der Medizin https: / / www. pschyrembel.de/ Wahrnehmung/ K0P0A, 28.02.2021. ■ Pauli, S., Kisch, A. (2017): Was ist los mit meinem Kind? Bewegungsauffälligkeiten und Wahrnehmungsstörungen bei Kindern. 2. Aufl. Verlag modernes Lernen, Dortmund ■ www.breifreibaby.de/ fingerfarbe-selbermachen/ 28.02.2021. Die Autorin Eva Weinbörner B. A. Erziehungswissenschaft, Anglistik / Amerikanistik, staatl. geprüfte Fachkraft in der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd, Pferdestärke Bochum Kontakt Eva Weinbörner · Seydlitzstr. 8 · 44263 Dortmund Wer keine gekaufte Fingerfarbe nutzen möchte, kann diese gut selbst herstellen. Ich nutze dafür gerne das folgende Rezept. Wer genug Zeit hat, kann die Farbe auch mit seinen KlientInnen gemeinsam herstellen, bevor das Pferd bemalt wird. 160 g Mehl 20 g Salz 425 ml kaltes Wasser 425 ml warmes Wasser Lebensmittelfarbe nach Wunsch Mehl und Salz mit kaltem Wasser in einem Topf klumpenfrei verrühren. Das warme Wasser hinzufügen und unterrühren. Dann aufkochen und unter Rühren verdicken lassen, bis eine cremige Konsistenz entsteht. Dann die Masse noch heiß in Schraubgläser füllen und mit Lebensmittelfarbe einfärben. Die Farbe hält im Kühlschrank bis zu drei Tage, sollte aber möglichst schnell genutzt werden. Fingerfarbe selbst machen
