eJournals mensch & pferd international 14/1

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2022
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Blau-Gelb für Therapiepferde?

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2022
Magdalena Bauer
Der Beruf Therapiepferd bringt tagtägliche Herausforderungen für die mentale und körperliche Gesundheit unserer Tiere mit sich. Dass diese Gesundheit jedoch unser wertvollstes Hab und Gut und Voraussetzung für gute Therapiearbeit ist, muss an dieser Stelle wohl nicht erwähnt werden. Dementsprechend wichtig ist es, dem Pferd mentale sowie auch körperliche Ausgleichsarbeit zu bieten. Die Arbeit mit der blau-gelben Gassenwelt nach Michael Geitner birgt hier eine Palette an Möglichkeiten, die vielleicht auf den ersten Blick so gar nicht ersichtlich ist.
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4 | mup 1|2022|4-12|© Ernst Reinhardt Verlag, DOI 10.2378 / mup2022.art02d Forum Blau-Gelb für Therapiepferde? Sinnvolle Ausgleichsarbeit für Kopf und Körper Magdalena Bauer Der Beruf Therapiepferd bringt tagtägliche Herausforderungen für die mentale und körperliche Gesundheit unserer Tiere mit sich. Dass diese Gesundheit jedoch unser wertvollstes Hab und Gut und Voraussetzung für gute Therapiearbeit ist, muss an dieser Stelle wohl nicht erwähnt werden. Dementsprechend wichtig ist es, dem Pferd mentale sowie auch körperliche Ausgleichsarbeit zu bieten. Die Arbeit mit der blaugelben Gassenwelt nach Michael Geitner birgt hier eine Palette an Möglichkeiten, die vielleicht auf den ersten Blick so gar nicht ersichtlich ist. Die Grundlagen der Blau-Gelben Arbeitswelt Bevor die konkreten Arbeitsmöglichkeiten der Geitner’schen Gassenwelt vorgestellt werden, gilt es einige grundlegende theoretische Aspekte dieser Arbeit vorzustellen. 1. Die Positionsarbeit Unabhängig davon, ob geritten oder vom Boden gearbeitet wird, ist einer der Grundsätze der Arbeit von Michael Geitner die Positionsarbeit. Eine harmonische Partnerschaft ist vor allem in der therapeutischen Arbeit mit dem Pferd nicht nur notwendig, sondern auch über alle Maßen wichtig zum sicheren und gefahrenvermeidenden Arbeiten mit KlientInnen. Die Positionsarbeit bringt hier eine Möglichkeit, die auf partnerschaftliche, aber dennoch konsequente Führung des Pferdes Wert legt. Zu viel Dominanz bringt oft Misstrauen, zu wenig Führung unter Umständen Unsicherheit mit sich. Der faire Umgang, klare Grenzen und Regeln sowie ein sicheres, planvolles Auftreten und das Beziehen einer klaren Position machen den Menschen zu einem guten Anführer und schaffen Vertrauen. Dieses Vertrauen wiederum sorgt für Sicherheit - auch in unsicheren Situationen, welche uns im Umgang mit KlientInnen immer wieder begegnen können. Wichtig dabei ist eine Regel, die zwar einfach klingen mag, bei genauerem Nachdenken jedoch unglaublich viel beinhaltet: „Wenn du beim Pferd bist, bist du beim Pferd“. In unserer schnelllebigen Welt werden wir häufig dauerhaft beschallt, hier eine Terminvereinbarung, da eine Futterbestellung, dort die Buchhaltung die wartet. Wenn wir uns jedoch mit unserem Pferd beschäftigen, sollten wir dem Tier jenen Respekt entgegenbringen, den wir auch von ihm erwarten. Nämlich volle Aufmerksamkeit und Konzentration - auf die Übung und die gemeinsame Arbeit (Geitner 2014). 2. Die Farbenwahl Um die Wahl der Farben erklären zu können, muss man ein wenig ausgreifen und das Gehirn sowie das Sehvermögen des Pferdes genauer betrachten. Das Pferd in seiner Natur als Fluchttier ist ein Aufmerksamkeitsgenie - einer der Aspekte, warum das Pferd in sämtlichen therapeutischen Interventionen derart erfolgreich ist. In höchstem Maße relevant sind hierfür der Sehsinn und die Augen des Pferdes, welche seitlich am Kopf liegen. Der Vorteil dieser Position Forum: Bauer - Blau-Gelb für Therapiepferde? mup 1|2022 | 5 liegt in dem extrem großen Sehwinkel, welcher nahezu 300 ° abdeckt, der Nachteil ist das eingeschränkte dreidimensionale Sehen. Anders als beim Menschen, bei dem die Bilder der beiden Augen von unserem Gehirn miteinander kombiniert und zu einem 3D-Bild „entwickelt“ werden (= binokulares Sichtfeld), spricht man beim Pferd von einem sogenannten monokularen Sichtfeld. Jedes Auge nimmt ein eigenes (anderes) Bild von der Umwelt auf. Durch Wenden des Kopfes oder das Gehen eines Bogens versucht das Pferd, Gegenstände und potenzielle Gefahrenquellen mit beiden Augen zu sehen, um das Bild des Gegenstandes mit beiden Augen erfassen und somit auch in beiden Hirnhälften ins Bewusstsein transferieren zu können (Geitner 2019, 28). Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das Farbsehen des Pferdes. Einer der Vorreiter in der Erforschung auf diesem Gebiet war Joseph Caroll (Medical College of Wisconsin), welcher in aufwändigen Studien um die Jahrtausendwende das Pferdeauge untersuchte. In Bezug auf das Farbsehen sind hier vor allem die Zapfen hervorzuheben, welche das Farbsehen ermöglichen. Nun ist dieses Sehvermögen aber nicht nur davon abhängig ob, sondern vor allem davon, welche Zapfen im Auge vorhanden sind. Während der Mensch über drei Zapfen verfügt (S-short, M-medium, L-long - die Bezeichnung bezieht sich immer auf die Länge der Lichtwelle, die absorbiert werden kann und die ausschlaggebend für die Farbwahrnehmung ist), haben Pferde nur S- und M-Zapfen. Damit können Pferde langwelliges Licht (Rottöne) nicht resorbieren und sehen die Welt in Blau-Gelb sowie in Grautönen - evtl. ein wenig vergleichbar mit Menschen, welche unter Rot-Grün-Blindheit leiden (Carroll et al. 2001). Mit dem nun kurz zusammengefassten Wissen über das Sehvermögen des Pferdes lässt sich auch die Sinnhaftigkeit der Farbwahl Gelb und Blau erklären. Die Gassen werden in jeglicher Arbeit immer so gelegt, dass gelb und blau abwechselnd liegen. Dadurch ist das Gehirn des Pferdes in einem aktiven Zustand und stetig dazu angehalten, die wechselnden Reize des linken und rechten Auges über den Balken in beide Hirnhälften zu integrieren. Ähnlich wie auch beim Menschen soll diese Vernetzung der Hirnhälften die Links-Rechts-Koordination und das Körpergefühl fördern. Des Weiteren befindet sich das Hirn des Pferdes über die ständig wechselnden Reize in einem überaus aktiven und aufnahmebereiten Zustand. 3. Das Zeitsystem Jegliche Arbeiten in Blau-Gelb sind von einem genau vorgegebenen Zeitsystem getimt, wobei ein Timer mittels akustischem Signal den Anfang sowie das Ende der Arbeitseinheit signalisiert. Der Vorteil eines solchen Systems liegt nahezu auf der Hand: Genauso wie sich SchülerInnen auf das Pausenläuten, Angestellte auf die Mittagspause und SportlerInnen auf das Ende eines Intervalls freuen, weiß auch ein Pferd nach nur wenigen Wiederholungen, dass das Piepsen des Timers Anfang und Ende der Pause einläutet. Dieses Piepsen sorgt für Dopamin-Ausschüttung im Gehirn, ein biochemisches Belohnungssystem. Vor allem Sportler, die sich bereits mit HochIntensivem-Intervall Training (HIIT) auseinandergesetzt haben, kennen dieses Abb. 1: Blau-Gelb für verbesserte Aufmerksamkeit, Konzentration und Vernetzung (Alle Fotos: Sandra Koblbauer - Draumur Photography) 6 | mup 1|2022 Forum: Bauer - Blau-Gelb für Therapiepferde? Gefühl. Es wird dafür gesorgt, dass Pferde in der Pause abschalten und kurz verschnaufen können, durch das erneute Piepsen aber motiviert wieder in die Arbeitsphase starten - gleich dem Sportler im Training. (Die Autorin hat bereits festgestellt, dass viele der Pferde ein so gutes Zeitgefühl entwickeln, dass sie bereits 1-2 Sekunden bevor der Timer das neue Arbeitsintervall einläutet, losgehen.) Diese Pausen sorgen außerdem dafür, dass das Gelernte verfestigt werden kann - denn so wie jedes andere Säugetier, lernt auch das Pferd in den Pausen (Geitner 2019, 82 f). 4. Der ständige Richtungswechsel Mit jeder Pause wird ein Richtungswechsel eingeläutet. Wenn man also zum Beispiel in der Equikinetik vor der Pause auf der linken Hand gearbeitet hat, wird nach der Pause auf der rechten Hand weitergearbeitet und umgekehrt. In der gerittenen und longierten Dualaktivierung und auch in der EquiClassik-Work wird das ständige Handwechseln durch die Linien und Wege auch innerhalb der Arbeitszeit vorgegeben. Ein Festfahren auf der schlechteren Seite oder auch ein ständiges Wechseln auf die „gute“ Seite des Pferdes wird somit verhindert und die gleichmäßige Arbeit auf beiden Händen garantiert. Nach dieser kurzen Einführung in die Grundsätze sollen nun zwei konkrete Arbeitsmöglichkeiten nachfolgend vorgestellt werden: die Equikinetik und die gerittene Dualaktivierung. Die Equikinetik Die Equikinetik mag auf den ersten Blick unspektakulär wirken, wenn man sich allerdings mit den sportlichen Hintergründen und muskulären Abläufen beschäftigt, wird einem der Wert dieser Arbeit für Muskelaufbau und Geraderichtung des Pferdes mehr und mehr bewusst. Die Idee des Kraftaufbaus auf der Quadratvolte ist keine neue, sondern wurde so schon vor Jahrzehnten (man könnte eventuell sogar von Jahrhunderten sprechen) praktiziert. Neu hinzu kommen die Gassen, die es sowohl Pferd als auch Pferdeführer erleichtern, den Weg der Quadratvolte einzuhalten (und somit auch die korrekte Form gewährleisten) sowie das Zeitsystem. Gearbeitet wird acht Mal eine Minute, anschließend folgen 30 Sekunden Pause. (Da in diesem Artikel nur eine Übersicht gegeben wird, sparen wir hier alternative Zeitvarianten aus.) Nach jeder Pause erfolgt - wie bereits erwähnt - ein Handwechsel. Klingt einfach? Das Prinzip der Equikinetik ist wohl auch einfach, dennoch sollte man, um sich des Effekts bewusst zu werden, kurz betrachten, was diese Form des Trainings eigentlich bringt. Der Begriff Equikinetik beinhaltet neben dem Wort „Equus“ (Pferd) auch das Wort „Kinetik“ (Bewegung), welches außerdem an den Begriff „isokinetisches Training“ erinnert. Isokinetisches Training meint gleichförmige Bewegungsabläufe mit gleichbleibendem Widerstand. Prof. Jürgen Weineck (www.koelbl.com/ Zugriff 22.03.2021) definiert den Vorteil des isokinetischen Trainings unter anderem mit folgenden Punkten: Im Muskel wird höhere Spannung erzeugt als bei dynamischen Trainingsverfahren und es kommt aufgrund der gleichbleibenden Belastung zu vollem Krafteinsatz während des gesamten Bewegungsvollzugs. Der gleichbleibende Widerstand wird durch die stetige Biegung auf der Quadratvolte erzeugt, dabei ist der/ die LongenführerIn für die korrekte Abb. 2: Begleitendes Longieren durch die Gassen in Stellung und Biegung - hier für die Equikinetik mit etwas zu viel Abstand vom Pferd Forum: Bauer - Blau-Gelb für Therapiepferde? mup 1|2022 | 7 Stellung und Biegung zuständig, während das Pferd durch die Gassen eingerahmt und die gesamte äußere Seite des Pferdes in einem aktiven Spannungszustand gehalten wird. Des Weiteren muss das innere Hinterbein unter den Schwerpunkt treten, somit ist eine leichte Hankenbeugung gefordert. Der letzte Aspekt, warum Equikinetik so effektiv ist, wird durch das Intervallsystem erklärt: Ähnlich einem HIIT-Training gibt man zwar dem Herz-Kreislauf-System die Möglichkeit der Erholung, die Muskulatur kann sich in der kurzen Pause jedoch nicht vollständig erholen (Geitner 2018, 110f). Die Arbeit in der Quadratvolte findet vorwiegend in einem fleißigen, aktiven Schritt statt, je nach Pferd unter Umständen auch im langsamen Trab. Das langsame Tempo ist hier allerdings absolut notwendig um sinnvollen Muskelaufbau zu gewährleisten, denn nur im langsamen Tempo wird der energiesparende und effiziente Dehnungsverkürzungszyklus außer Kraft gesetzt und die volle Muskelkraft muss zum Einsatz kommen. Der Sinn der Equikinetik für Therapiepferde Eine gleichmäßige Muskulatur ist für Therapiepferde unumgänglich, um schiefe, unkoordinierte oder auch unbewegliche KlientInnen lange schmerzfrei tragen zu können. Diese Muskulatur herzustellen ist eine Herausforderung, der wir als durchführende Fachkräfte und für das Pferd verantwortliche Personen gegenüberstehen. Eigentlich sollte die Equikinetik zu Beginn drei Monate jeden zweiten Tag durchgeführt werden, ohne weiteres zusätzliches Training, um eine gleichmäßige Muskulatur aufbauen zu können. Dass dies im Therapiealltag zumeist nicht möglich ist, steht vermutlich außer Frage. Dennoch: Wenn die Equikinetik regelmäßig zumindest einmal in der Woche vor dem verdienten freien Tag des Pferdes durchgeführt wird, kann man hier mit wenig Zeitaufwand höchst effektive Arbeit leisten, um das Pferd beim Aufbau und Erhalt einer gesunden, gleichmäßigen Muskulatur zu unterstützen. Die Dualaktivierung Während in der Equikinetik tatsächlich der Muskelaufbau im Vordergrund steht, widmet sich die gerittene (und auch longierte) Dualaktivierung vor allem der Losgelassenheit, der Balance, Koordination und dem korrekten Umlasten der Hinterbeine, sodass eine fehlerhafte Kurventechnik durch ein Fallen auf die innere Schulter und damit zusammenhängender Gelenkverschleiß möglichst minimiert werden. Das Prinzip der Dualaktivierung Die Dualaktivierung hat im Prinzip eine Trainingsmethode erschaffen, in der altbewährte klassische Hufschlagfiguren durch Gassen und Pylonen sichtbar gemacht werden. Der Vorteil dabei ist einerseits, dass auch ungeübtere ReiterInnen die Linien und Biegungen relativ korrekt reiten lernen. Andererseits hat auch das Pferd eine sichtbare Führung, die es dabei unterstützt, den Weg so korrekt wie möglich einzuhalten, dadurch fällt es ihm leichter, auch ohne andauernde Hilfen den Reiter auf gebogenen und geraden Linien auszubalancieren. Vom Altertum bis heute haben sich in der Reiterei verschiedene Grundsätze entwickelt, die ihre Gültigkeit immer mehr unter Beweis stellen. Zu beachten ist hier immer, dass wir das Pferd für unsere Zwecke und Ziele nutzen und dementsprechend die pferdegerechte und verständnisvolle Ausbildung auf keinen Fall aus den Augen verlieren dürfen. Die Dualaktivierung bietet eine sehr anwenderfreundliche Möglichkeit, die klas- Der Dehnungs-Verkürzungszyklus bezeichnet eine besonders effiziente dynamischreaktive Arbeitsweise der Muskulatur. Die Ursache für die Effektivitätssteigerung ist die gespeicherte Elastizitätskraft der Muskel-Sehnen-Einheit sowie die spinale Reflexaktivität der exzentrisch gedehnten Muskulatur (Raeder et al. 2020, 192). Exkurs: Der Dehnungs-Verkürzungszyklus 8 | mup 1|2022 Forum: Bauer - Blau-Gelb für Therapiepferde? sischen Grundsätze umzusetzen. „Reite dein Pferd vorwärts und richte es gerade“ ist einer der Sätze in der Reiterei, der seine Gültigkeit ewig behalten wird. Wie ein roter Faden zieht sich dieser Satz durch die Übungen der Dualaktivierung wegen des stetigen Wechsels der geraden Wege und der Wendungen. Zu früheren Zeiten war das Ausbildungsziel ein sogenanntes Gebrauchspferd, also ein Tier das in möglichst großer Gelassenheit und dabei feiner Rittigkeit für viele Reitwünsche einsetzbar ist. Solche Therapiepferde wünscht man sich doch auch im Alltag? Viele Aspekte des Reitpferdetrainings durften die Gebrauchspferde früher kennenlernen - angefangen vom Kennenlernen verschiedener Bodenverhältnisse über kleine Gehorsamssprünge bis zur klassischen Dressurarbeit. Hier seien nun noch einmal die Hufschlagfiguren und deren Relevanz erwähnt, denn im Endeffekt kann man das System der Hufschlagfiguren als einen Leitfaden zur Ausbildung des Pferdes sehen. In einen logischen Aufbau gebracht, trainiert das Pferd Koordination der Vorder- und Hinterbeine, Körpergeschmeidigkeit, Balance. Je Grundsätzlich kann man, um den Effekt und das Prinzip sportlichen Trainings erklären zu können, auf das sogenannte Homöostasen-Prinzip verweisen. Durch sportliches Training werden zahlreiche körpereigene Haushalte (z. B. Blutdruck, Blutzuckerspiegel etc.) aus dem Gleichgewicht ausgelenkt. Der damit einhergehende Funktionsverlust wird registriert und reguliert, bis sich die Homöostase wieder einstellt. Tierische und menschliche Organismen sind dabei nicht nur in der Lage, kurzfristig auf Belastung zu reagieren, sondern auch nachhaltige funktionelle und strukturelle Veränderungen durchzuführen, um erneuten Belastungen besser standhalten zu können. Diese nachhaltigen Anpassungen basieren auf strukturellen und biochemischen Veränderungsprozessen im gesamten Körper, so auch bei dem vielfach beschriebenen Prinzip der Superkompensation. Dieses Prinzip wird - etwas verallgemeinert - auf jegliche Anpassungen durch sportliches Training nach dem Dreisatz Belastung - Erholung - Superkompensation angewandt. Dabei sollten verschiedene Regenerationszeiten beachtet werden: So benötigt zum Beispiel der Glykogenhaushalt weniger Zeit als die Biosynthese zerstörter Strukturproteine (Aktin und Myosin - also die kontraktilen Proteine der Muskulatur - benötigen 48 Stunden Regeneration). Zu erwähnen ist hierbei außerdem, dass die geschädigten Elemente der Muskulatur nicht nur repariert werden, sondern neue Myosinfilamente in Bereichen geschädigter Muskelfibrillen eingebaut werden. Der Muskel verdickt sich und kann einer erneuten Belastung mit weniger Kraftaufwand entgegenhalten (Ferrauti/ Remmert 2020, 44 ff). Umgelegt auf die Arbeit mit dem Pferd muss man also den Grundsatz der Pause beachten: Nach einer Belastung, wie sie auch die Equikinetik darstellt, ist eine Pause von 48 Stunden notwendig, um einen effektiven Muskelaufbau zu gewährleisten. Hierbei sollte sich das Pferd bewegen können (Koppel, Spaziergang, maximal leichtes Reiten), jedoch kein Training erfolgen (Geitner 2018, 73). Interessant ist außerdem die Auswirkung von Techniktraining: Hierbei laufen Synthesevorgänge zur Neubildung oder besseren Vernetzung von Nervenzellen im Gehirn ab. Durch die provozierte Umorganisation, strukturelle und biochemische Anpassung im Gehirn verbessert sich das koordinative Umsetzen von Bewegungen und Bewegungsabläufen. Durch ökonomischere Laufbewegungen können sich nun sowohl Kraftals auch Sauerstoffbedarf bei gleichbleibender Belastung verringern (Ferrauti / Remmert 2020, 58). Die Dualaktivierung könnte man wohl als Techniktraining fürs Pferd bezeichnen und auf ähnliche Effekte wie die oben beschriebenen hoffen. Exkurs: Sportliches Training Forum: Bauer - Blau-Gelb für Therapiepferde? mup 1|2022 | 9 geschulter die genannten Aspekte sind, umso leichter gelingen auch anspruchsvollere Figuren. Ein weiterer Punkt, der an dieser Stelle unbedingt noch erwähnt gehört, ist die natürliche Schiefe des Pferdes. Auch die Geraderichtung, die der natürlichen Schiefe entgegenwirken soll, wird über das Reiten von korrekten Hufschlagfiguren verbessert. Im Endeffekt sollte ein gutes Reitpferd seine Schiefe nach und nach „verlieren“ (wobei wir uns natürlich alle im Klaren darüber sind, dass es ein vollkommen geradegerichtetes Pferd nicht gibt) und eine beiderseitige Rittigkeit und Geschicklichkeit erlangen, welche wir durch den gezielten Einsatz von Hufschlagfiguren deutlich verbessern können. Es gilt der Grundsatz „vom Einfachen zum Schweren“ und optimalerweise mit möglichst vielen Wechseln, die das Pferd von rechts nach links und umgekehrt umstellen lassen. Nun sind wir auch wieder da, wo wir eigentlich hinwollen - nämlich zum Sinn und Zweck sowie der Durchführung der Dualaktivierung, die ebendiese Aspekte in ein geordnetes Schema bringt: Klassische Hufschlagfiguren mit vielen Handwechseln durch Pylonen und Gassen sichtbar gemacht sowie in ein strukturiertes (Zeit-)Schema gebracht. Somit werden Überforderung vorgebeugt, Lernpausen ermöglicht und die oben genannten Vorteile der Hufschlagfiguren optimal genutzt (Geitner / Lehmann 2020, 19 ff). Gearbeitet wird in der Dualaktivierung immer drei Minuten mit einer Minute Pause. Es werden maximal 6 solcher Zyklen geritten. Geritten wird im fleißigen Schritt und Trab; Galopp wird ausgespart, da die zahlreichen Wendungen sowie Handwechsel eine so hohe Rittigkeit und Ausbildungsstand des Pferdes (und Reiters) verlangen würden (versammelter Galopp in Volten und einfache / fliegende Galoppwechsel), dass dies in der Dualaktivierung (zumeist) nicht umsetzbar erscheint. Der Sitz des Reiters in der Dualaktivierung Hierauf soll nur kurz eingegangen werden: Prinzipiell wird in der Dualaktivierung leichtgetrabt, um den Pferderücken zu entlasten; in den Gassen ist es - sofern reiterlich möglich - eine gute Alternative, sogar einen Entlastungssitz einzunehmen. Während der Biegungen wird das Pferd über Schenkelhilfe, Zügel- und Gewichtshilfe unterstützt, diese sind so korrekt als möglich durchzuführen; in den Gassen selbst bietet man dem Pferd über eine nachgebende Zügelhilfe an, die Oberlinie zu verlängern. Hierbei sollte der Zügel in den Gassen, also etwa 3 m, überstrichen werden. Abb. 3: Achterschlaufen in den Ecken, mithilfe der Hütchen gelingt das auch jüngeren ReiterInnen gut Abb. 4: Entlastungssitz und nachgebender Zügel - tolle Übungen für Pferd und Reiterin 10 | mup 1|2022 Forum: Bauer - Blau-Gelb für Therapiepferde? Die Übungen Die Bandbreite an möglichen Figuren in der Dualaktivierung ist sehr groß, an dieser Stelle seien nun zwei Figuren erwähnt, die sich meines Erachtens nach sehr gut miteinander kombinieren lassen und in dieser Kombination als sehr effektiv erscheinen, was Hinterhandlastung, Biegung sowie Koordination betrifft. Prinzipiell wird jedes Hindernis in der Dualaktivierung vier Mal durchritten, bevor zum nächsten Hindernis gewechselt wird. Das Kleeblatt Das Kleeblatt kombiniert sich aus Wendungen (die je nach Gangart etwas größer oder kleiner sein dürfen) und dem Geraderichten des Pferdes in den Gassen. Immer im Wechsel werden zwei Wendungen rechts, zwei Wendungen links geritten, dazwischen durch die Gasse geradeaus. Das Kleeblatt ist eine sehr effektive Übung um Biegung sowie korrekte Lastaufnahme mit dem inneren Hinterbein zu schulen. Das Dreieck Das Dreieck ist das einzige Hindernis der Dualaktivierung, welches nicht bereits seit Jahrhunderten angewandt und geritten wird. Dennoch ist dies ein sehr effektives Hindernis, um Vor- und Hinterhandkoordination zu schulen und zu verbessern sowie die Bauchmuskulatur zu trainieren, da hier die Hinterhand aktiv eingesetzt werden muss. Es werden vier vollständige Achten über das am Boden liegende Dreieck geritten, dabei muss sich das Pferd den Weg jeweils neu suchen, da die Winkel, aus denen angeritten wird, zumeist verschiedene sind und das Dreieck an vielen unterschiedlichen Punkten angeritten wird. Beim Überqueren der Gassen ist es wichtig, den Zügel hinzugeben, um dem Pferd die Möglichkeit zu geben, sich auszubalancieren und selbstständig mitzudenken. Eine kurze auffordernde Stimmhilfe vor dem Hindernis kann das Pferd motivieren, die Beine achtsam zu heben und nicht auf die Gassen zu treten. Abb. 7: Nicht nur vom Sattel - sondern auch die longierte Dualaktiverung bietet tolle Abwechslung Abb. 5: Nachgegebener Zügel und Dehnungshaltung sind in den Gassen erwünscht Abb. 6: Hier sind Koordination von Vor- und Hinterhand gefragt Forum: Bauer - Blau-Gelb für Therapiepferde? mup 1|2022 | 11 Der Sinn der Dualaktivierung für Therapiepferde Aus Sicht der Autorin ergeben sich hier zwei Anwendungsmöglichkeiten: Zum einen kann die Dualaktivierung - wie auch die Equikinetik - eine sehr effektive Ausgleichsarbeit darstellen, wenn sie von einer Fachkraft durchgeführt wird. Balance, Koordination, Trittsicherheit werden geschult, die Geraderichtung gefördert. Zudem habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Pferde diese Art der Arbeit sehr gerne und motiviert mitmachen. Zum anderen ergibt sich für mich durch die Dualaktivierung auch für die Arbeit mit KlientInnen Möglichkeiten: Gerade in der Heilpädagogischen Förderung mit Pferd und auch im Sport für Menschen mit Beeinträchtigung hat man es immer wieder mit ReiterInnen zu tun, die ihr Pferd in den Gangarten Schritt (und eventuell auch Trab) gerne und gut selber steuern können und wollen. Die Arbeit mit den verschiedenen Hindernissen der Dualaktivierung bietet hier sehr viel Struktur und Führung, die Pferd und KlientInnen helfen die Wege einzuhalten. Angepasst an die Fähigkeiten und das Können sowie das Konzentrationsvermögen können ein oder mehrere Hindernisse zum Einsatz kommen und das Zeitsystem unter Umständen entsprechend verkürzt werden. Das Zeitsystem hat hier für Pferd und KlientIn die gleichermaßen wichtige Bedeutung: Überschaubare Länge der konzentrativen Höchstleistung mit Aussicht auf eine klar definierte Pause (nicht willkürlich von der Fachkraft gewählt). Aber auch für ReiterInnen, die ihr Pferd (noch) nicht selbst steuern können, bietet die Dualaktivierung Fördermöglichkeiten im geführten Setting. Durch die ständig vorgegebenen Links- Rechts-Wechsel sind die KlientInnen stetig dazu angehalten, sich neu zu balancieren und auszurichten, somit kann man hier wertvolle Inputs für Gleichgewicht und Balance bieten. Zusammenfassung Man mag der Arbeit mit den Blau-Gelben Gassen skeptisch gegenüberstehen, die persönliche Erfahrung der Autorin ist inzwischen, dass (fast) jeder, der sich ein wenig intensiver mit den verschiedenen Möglichkeiten auseinandersetzt, Gefallen daran findet. Viele Aspekte wurden hier nur sehr oberflächlich behandelt und angeschnitten, aber bereits an dieser oberflächlichen Abhandlung lässt sich die Vielfalt der Möglichkeiten erahnen. Und gerade im therapeutischen Kontext ist es das Um und Auf kreativ und offen zu bleiben: Für neue Möglichkeiten in der Arbeit mit KlientInnen, aber auch für verschiedene Varianten der Ausgleichsarbeit für unsere Therapiepferde. Die Arbeit mit den Blau-Gelben Gassen eröffnet hier einige Möglichkeiten, die man kreativ, aber vor allem effektiv mit überschaubarem Zeitaufwand nutzen kann. Literatur ■ Carroll, J., Murphy, J., Neitz, M., Ver Hoeve, J., Neitz, J. (2001): Photopigment basis for dichromatic color vision in the horse. Journal of Vision 1, 80-87 https: / / doi.org/ 10.1167/ 1.2.2 ■ Ferrauti, A., Remmert, H.(2020): Grundlagenwissen zum sportlichen Training. In: Ferrauti, A. (Hrsg.) (2020): Trainingswissenschaft für die Sportpraxis. 2020 Springer Spektrum. Bochum, 21-65 https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-662-58227-5 ■ Geitner, M., Lehmann, C. (2020): Geitners Dual Kit. 4. Aufl. Müller Rüschlikon, Stuttgart ■ Geitner; M. (2019): Dualaktivierung. Müller Rüschlikon, Stuttgart Unabhängig davon, welche Art der Arbeit mit dem Pferd durchgeführt wird, es werden IMMER weiche Gassen und niemals Holzstangen verwendet. Holzstangen sind keine Alternativen, da die Verletzungsgefahr um ein Vielfaches erhöht wäre! Das Material der Gassen 12 | mup 1|2022 Forum: Bauer - Blau-Gelb für Therapiepferde? ■ Geitner; M. Schmied, A. (2018): Equikinetic. Pferde effektiv longieren. 3. Aufl. Müller Rüschlikon, Stuttgart ■ Reader, C., Vuong, J., Ferrauti, A.(2020): Krafttraining. In: Ferrauti, A. (Hrsg.) (2020): Trainingswissenschaft für die Sportpraxis. 2020 Springer Spektrum. Bochum, 187252 https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-662-58227-5_4 ■ Weineck, J. (2020): 12 wissenschaftliche Vorteile von isokinetischem Training. In: Koelbl, G. (2020): Was ist isokinetisches Training? https: / / koelbel.com/ TRAINING/ Was-ist-isokinetisches- Training 25.03.2021 Dieser Beitrag ist mit freundlicher Unterstützung von Michael Geitner entstanden - Vielen Dank dafür! Die Autorin Magdalena Bauer ist dipl. Sozialpädagogin (FH), Islandpferdereitinstruktorin (Trainer B), Lehrwart für integratives Reiten, staatlich geprüfte Fachkraft für Heilpädagogische Förderung mit Pferd, Geitner Instruktorin Level 1, langjährige hauptberufliche Tätigkeit am Islandpferdehof Lichtegg in Andorf Kontakt Magdalena Bauer · Lichtegg 1 · A - 4770 Andorf MagdalenaBauer@gmx.at Freiherr-von-Langen-Straße 8 | 48231 Warendorf Tel. 0 25 81/ 92 79 19-0 | Fax 0 25 81/ 92 79 19-9 E-Mail: dkthr@fn-dokr.de | www.dkthr.de Weiterbildung Qualitätssicherung im Therapeutischen Reiten Medizin Pädagogik Psychologie Sport L Deutsches Kuratorium für Therapeutisches Reiten e.V. Alle Angebote unter www.dkthr.de ... von der Grundlagenqualifikation bis zum Fachseminar, von analog, hybrid bis digital, von zu Hause aus bis zur Praxisarbeit in der Präsenz. Wir freuen uns auf Sie und sind für Sie da. 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