eJournals mensch & pferd international 14/1

mensch & pferd international
2
1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2022
141

Equo ne credite - Gefährliche Pferde?!

11
2022
Reinhard Kaun
Die Warnung, dem Pferde nicht zu vertrauen, richtete sich in der Sage des klassischen Altertums über den Trojanischen Krieg zwar an die Bewohner der Stadt Troja und bezog sich auf das Trojanische Pferd, eine überdimensionale Pferdefigur aus Holz, die die Griechen unter Odysseus als Kriegslist zum Einschleusen von Soldaten in die Wehrmauern der Stadt ersonnen hatten.
2_014_2022_001_0020
20 | mup 1|2022|20-25|© Ernst Reinhardt Verlag, DOI 10.2378 / mup2022.art05d Dr. Reinhard Kaun Recht & Sicherheit Equo ne credite - Gefährliche Pferde? ! Die Warnung, dem Pferde nicht zu vertrauen, richtete sich in der Sage des klassischen Altertums über den Trojanischen Krieg zwar an die Bewohner der Stadt Troja und bezog sich auf das Trojanische Pferd, eine überdimensionale Pferdefigur aus Holz, die die Griechen unter Odysseus als Kriegslist zum Einschleusen von Soldaten in die Wehrmauern der Stadt ersonnen hatten. Pferden kein „blindes“ Vertrauen entgegen zu bringen ist jedoch gültiges Gebot aller überschaubaren hippologischen Epochen - nicht etwa, weil Pferde hinterlistig, heimtückisch oder nicht vertrauenswürdig wären - sondern weil sie, ihrem Naturell entsprechend, ihrer eigenen Schreckhaftigkeit nicht trauen können. Offenbart sich dieses „innere Wesen“ des Pferdes in all seinen Facetten und Nuancen in Form der Speziellen Tiergefahr, so geschieht dies keineswegs mit Absicht, Vorsatz oder (zwingend) aus Charaktermängeln, sondern aus dem, dem Pferde innewohnenden Ablauf von Reflexketten instinkthaften und genetisch verankerten Verhaltens - aus diesem Grunde ist nicht nach jedem Zwischenfall mit einem Pferd ein Schuldtragender auszumachen, ein Verlauf kann nämlich auch schicksalhaft sein. Wurde als Folge eines Unglücks mit Personen-, Tier- oder Sachschaden mit ursächlicher Beteiligung von Pferden ein Verfahren eingeleitet - sei es vor Gericht oder durch außergerichtliche Schadensregulierung - werden regelmäßig Sachverständige beigezogen. Der Auswahl dieser GutachterInnen, die jeweils dem Gericht oder Auftraggeber obliegt, kommt dabei große Bedeutung zu, weil neben grundlegender und vertiefter Pferdekenntnis auch ein gutes Maß forensischen Wissens und Fähigkeit zur Unfallrekonstruktion erforderlich sein wird. Scheinbar naheliegende Berufsgruppen wie TierärztInnen, ReitlehrerInnen, ZüchterInnen oder TurnierrichterInnen erfüllen ohne Zusatzqualifikationen diese Prämissen nicht selbstverständlich und zwingend - völlig abzulehnen sind immer „ExpertInnen“ ohne jeden persönlich intimen Umgang mit Pferden - die weder über Erfahrung im Sattel noch am Bock verfügen - eine Rückfrage ist deshalb anzuraten. Dies ist deshalb von Bedeutung, weil regelmäßig die Vorhersehbarkeit und die Vermeidbarkeit des Verhaltens von Pferden im Lichte der allgemeinen und speziellen Tiergefahr zu beurteilen ist, eine Fähigkeit, die sich aus dem Lehrbuch und am Schreibtisch nur unzulänglich erlernen lässt - geht es doch um nichts weniger als das Vermögen, ein Verhalten auf Grund eines „Reizes“ oder „Antreibens“ zu erkennen, vorherzusehen und es abzuwehren, bevor eine Kausalkette ausgelöst wird, dabei aber mögliches Alternativverhalten zu überlegen: Dies bedarf der Umsicht, Vorsicht und Voraussicht von „Pferdeleuten“ - „Leute mit Pferden“ verfügen darüber meist nicht. In der Ausgabe 4 / 2020 von mensch & pferd international beschreibt die im einschlägigen Metier der Reitpädagogik äußerst erfahrene Recht & Sicherheit: Kaun - Equo ne credite - Gefährliche Pferde? ! mup 1|2022 | 21 Autorin Sabine Dell’mour sehr eindrucksvoll, wie sich der moderne Mensch in einer immer abstrakter werdenden Gesellschaft von der Realität des Alltags insbesondere in seinem Verhalten gegenüber der Natur und in seinem Umgang mit Tieren immer weiter von der Tradition der Erfahrung und somit von einem „alltagstauglichen Gefahrenbewusstsein“ entfremdet hat und - absehbar - noch weiter entfernen wird. Es kann im Umgang mit und im Verhalten gegenüber Pferden schlichtweg nichts mehr vorausgesetzt werden, am wenigsten die Übernahme von Verantwortung durch Wissen und gesunden Menschenverstand - Ratgeber, Regelwerke und Gebrauchsanleitungen sind die Bibeln des modernen Menschen. Daraus resultiert - der Alltag in Spitalsambulanzen zeigt es allzu deutlich -, dass weder die allgegenwärtige Allgemeine Tiergefahr als eine prinzipielle potentielle Gefährlichkeit, die von jedem Tier ausgeht, noch das Erkennen der Speziellen Tiergefahr bei Pferden effektiv genug erfolgt - selbst von vermeintlichen „Insidern“. Neben Beachtung der Kriterien der Speziellen Tiergefahr beim Pferde ist jedoch die grundlegende empathische Einstellung des Menschen, der mit dem Pferde umgeht, die beste Unfallverhütung: Sicherheit durch liebevollen Respekt, Achtung vor der Würde und Schutz der Privatsphäre von Pferden. Diese Prämissen haben nichts mit der oft ins Treffen geführten überdimensionalen Tierliebe zu tun, die sich mit „Schmusen“, Leckerlis oder albernen Ausrüstungsgegenständen beweisen will, sondern mit Vermeidung von nicht artgemäßer Haltung und Überforderung, wie Ruhe zu den Fütterungszeiten und angemessener Stallruhe nach 21 Uhr, bestmöglicher Vermeidung „reizender und antreibender“ Situationen im Pferdealltag und Einhaltung der kritischen Individualdistanz durch „Fremde“. Das Ziel: zu Denken wie ein Pferd, zu Sehen, zu Hören und zu Riechen wie ein Pferd und - besonders - zu Fühlen wie ein Pferd ist eine lebenslange, aber für jeden Pferdemenschen auch eine lebenswerte Aufgabe. Das Korsett für alltägliche Anwendung der Verhaltensnormen im Umgang der Gesellschaft mit Tieren im Allgemeinen und Pferden im Besonderen stellt in Österreich der sogenannte „Halterparagraph“ - § 1320 ABGB - dar, dessen Feinabstimmung für die jeweilige Besonderheit eines Einzelfalles durch Erkenntnisse des OGH erfolgt. Geregelt wird der Schadensfall an Menschen, Tieren und Sachen durch Tiere. 1. Wird jemand durch ein Tier beschädigt, so ist der / diejenige dafür verantwortlich, der es dazu angetrieben, gereizt oder zu verwahren vernachlässigt hat. Derjenige / Diejenige, der / die das Tier hält, ist verantwortlich, wenn er / sie nicht beweist, dass er / sie für die erforderliche Verwahrung oder Beaufsichtigung gesorgt hatte. 2. In der Alm- und Weidewirtschaft kann der / die HalterIn bei Beurteilung der Frage, welche Verwahrung erforderlich ist, auf anerkannte Standards der Tierhaltung zurückgreifen. Andernfalls hat er / sie die im Hinblick auf die ihm bekannte Gefährlichkeit der Tiere, die ihm zumutbaren Möglichkeiten zur Vermeidung solcher Gefahren und die erwartbare Eigenverantwortung anderer Personen gebotenen Maßnahmen zu ergreifen. Die erwartbare Eigenverantwortung der Besucher von Almen und Weiden richtet sich nach den durch die Alm- und Weidewirtschaft drohenden Gefahren, der Verkehrsübung und anwendbaren Verhaltensregeln. Eine Reihe von Feststellungen, die zur Gewichtung der Speziellen Tiergefahr Beachtung finden sollen, fließen laufend durch Entscheidungen der Gerichte ein: Beispiele ■ Sind einem Tierhalter Eigenschaften eines Tieres bekannt oder hätten ihm bei gehöriger Aufmerksamkeit bekannt sein müssen, die zu einer Gefahrenquelle werden können, wie etwa nervöse Reaktionen, unberechenbares 22 | mup 1|2022 Recht & Sicherheit: Kaun - Equo ne credite - Gefährliche Pferde? ! Verhalten, Unfolgsamkeit und dergleichen, wird er auch für die Unterlassung der in Anbetracht dieser besonderen Eigenschaften erforderlichen und nach der Verkehrsauffassung vernünftigerweise zu erwartenden Vorkehrungen einzustehen haben. (RS 0030472) ■ Bei der Bestimmung des Maßes der erforderlichen Beaufsichtigung und Verwahrung eines Tieres spielen insbesondere folgende Momente eine Rolle: - Die Gefährlichkeit des Tieres nach seiner Art und Individualität; - Je größer die Gefährlichkeit, desto größere Sorgfalt ist aufzuwenden; - Die Möglichkeit der Schädigung durch das spezifische Tierverhalten; - Abwägung von Interessen - […] - Bei besonderer Gefährlichkeit des Tieres ist besondere Vorsicht geboten; (1 Ob 646 / 94) - Es muss zwar nicht jede Möglichkeit einer Schädigung ausgeschlossen, aber doch das Risiko nach der Wahrscheinlichkeit seiner Verwirklichung bedacht werden; (7 Ob 2008 / 96 m) - Es ist nicht nur das bisherige Verhalten des Tieres, sondern auch die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit einer Schadenszufügung durch das Tier zu prüfen; (3 Ob 2229 / 96 g) (RS 003081) - Auf Grund des unberechenbaren Verhaltens von Pferden als Fluchttiere können Pferde (auch angesichts ihrer Größe und des dadurch gegebenen Risikos eines Schadens) nicht als ungefährliche Haustiere angesehen werden. (2 Ob 70/ 16 g) ■ Die besondere Tiergefahr, die zur Normierung der strengeren Haftung Anlass gab, liegt daran, dass - auch gutmütige - Tiere durch ihre von Trieben und Instinkten geleiteten Bewegungen, die nicht durch Vernunft kontrolliert werden, Schaden stiften können. (RS 0030199) ■ Dass Tiere durch ihre von Trieben und Instinkten gelenkten Bewegungen, die nicht durch Vernunft kontrolliert werden, Schaden stiften können, ist nicht nur der Grundgedanke für die Tierhalterhaftung nach § 1320 ABGB, sondern allgemeines Erfahrungswissen der Menschen (4 Ob 2155 / 96 g). „Wer eine Gefahrenlage schafft, hat für Sicherungsmaßnahmen zu sorgen“ - so lautet kurzgefasst die Devise der Allgemeinen Verkehrssicherungspflicht zum Schutz von Rechtsgütern Dritter. Da Pferde nicht als ungefährliche Tiere eingestuft werden, entsteht durch deren bloße Anwesenheit eine - potentielle - Gefahrenlage. Es ist also geboten, die Kriterien der Besonderen Tiergefahr beim Pferd näher zu beleuchten. Diese Spezielle Tiergefahr, die im Folgenden vertiefend besprochen wird, kann sich auf typische Art und Weise verwirklichen, war also insofern vorhersehbar und - möglicherweise - vermeidbar. Tritt ein Ereignis jedoch untypisch, nicht erwartbar und nicht vorhersehbar auf, so war es in der Regel nicht vermeidbar und möglicherweise schicksalhaft - womit (meist) kein „Schuldiger“ verantwortlich gemacht werden kann. In der Wahrscheinlichkeitsskala der möglichen Verwirklichung, also des tatsächlichen Eintretens der vorhersehbaren und typischen Tiergefahr einer Spezies, gibt es meist eine hierarchische Gliederung und somit eine gestaffelte Eintretenswahrscheinlichkeit, die beim Pferde folgendermaßen aussieht: ■ Flucht ■ Abwehr durch Ausschlagen ■ Abwehr durch Beißen ■ Abwehr durch Steigen ■ Abwehr durch Immobilisation des Gegners Pferde sind von Natur aus friedliche Tiere, Flucht aus einer „individuell als gefährlich oder bedrohlich“ empfundenen Situation hat immer Vorrang vor Kampf. Recht & Sicherheit: Kaun - Equo ne credite - Gefährliche Pferde? ! mup 1|2022 | 23 Dem Begriff „Flucht“ wohnt allerdings eine erhebliche Bandbreite inne: Das kann ein kurzes „zur Seite Springen“ sein, bei dem ein Mensch am Fuß verletzt wird, das kann ein „plötzliches Vorwärtsstürmen“ sein, bei dem die nicht geschützte Hand der Führperson durch Führstrick oder Zügel schwer verletzt oder verstümmelt wird. Auch Flucht im Sinne von „Durchgehen“ - also ungestüme Bewegung des Pferdes bei gleichzeitigem Kontrollverlust - hat viele Schattierungen: An der Hand, unter dem Sattel und - besonders desaströs - als Gespann oder innerhalb einer Gruppe, weil das gegenseitige Aufschaukeln im Herdentrieb meist zur (Massen-)Panik führt. Erhöhte Tendenz zur Flucht im Sinne der vorhergegangenen Ausführungen besteht dann, wenn es der „Führperson“ nicht gelingt, dem Pferde Stabilität, Ruhe, Sicherheit und „innere Anlehnung“ zu vermitteln. Ängstliche, fahrige, innerlich unsichere und nervöse Personen und solche mit hohen Stimmen (auch bei Männern! ! ), Angstschweißler oder Blutgeruch und „Brutalos“, die glauben, ständig Druck aufbauen zu müssen, sind die häufigsten menschlichen „Trigger“, die bei Unfallrekonstruktionen ausgemacht werden können - dem auffliegenden Vogel oder dem ungewöhnlichen Zischgeräusch am Rande des Vierecks kommt dann nur noch die Funktion des auslösenden Reizes zu. Nur ungern wird der / die arrogante BesserwisserIn aber zugeben, dass ihn die Situation mangels Erfahrung überfordert hat - im Zweifel muss der „Gaul“ als Schuldiger herhalten. Hippologisch (nicht hippiatrisch! ) und forensisch versierte GutachterInnen werden im Schadensfalle Ursache, Auslöser und Wirkung auseinanderhalten und darstellen können - hier liegt auch die besondere Wichtigkeit der Befundaufnahme durch Unfallrekonstruktion an Ort und Stelle und manchmal im Modell. Die Abwehr durch Ausschlagen ist ein bei allen Pferden zu erwartendes Verhalten, das reflexartig als Antwort auf Reize auftritt, die von hinten oder von schräg hinten nach „Art eines Beutegreifers“ (Wolf, Bär, Fuchs, große Nager) das Pferd bedrohen. Auch gut erzogenen und charakterlich einwandfreien und verlässlichen Pferden kann das Ausschlagen „passieren“, wie bei Pferdeausstellungen oder Turnieren immer wieder festzustellen ist - häufig als Folge von Situationen, in denen Menschen oder Hunde in einem ungewohnten Sehwinkel die Individualdistanz unterschreiten, ohne gleichzeitig das Pferd selbst im Auge zu haben. Es gibt aber auch „habituelle“ Schläger, die sich meist aus schlechten Erfahrungen im Remontenalter angewöhnt haben, durch „Andeuten“ - also drohendem Heben einer Hinterextremiät - vor weiterer Annäherung zu warnen, um dann aber - bei Missachtung dieser Warnung blitzschnell auszuschlagen und sehr häufig mit bösen Folgen zu treffen. Solche Pferde werden als „Schläger“ bezeichnet. Mit ihrem Verhalten muss gerechnet werden, weshalb sie als Vorsichtsmaßnahme mit einem roten Band im Schweif zu kennzeichnen sind. Abwehren durch Beißen ist durch konsequente Ausmusterung weitgehend aus dem Verhaltensrepertoire unserer zeitgenössischen Pferde verschwunden, wenn man gewohnheitsmäßige und bösartige „Beißer“ damit meint. Denn auch solche Pferde sind besonders warnend zu kennzeichnen - durch einen geflochtenen Strohkranz im Durchmesser von etwa 15-20 cm an der Boxentüre oder am Standende auf Pferdemärkten und Leistungsschauen. Verletzungen durch Pferdebisse kündigen sich oft schon lange Zeit vorher an. „Zwicken“ durch Fohlen und Junghengste wird als vermeintlicher Liebesbeweis besonders seitens ganz junger und auch ältlicher Damen lächelnd toleriert, nicht sofort beim ersten Auftreten im Keim konsequent abgestellt - solange, bis aus der Spielerei im Handumdrehen Ernst wird und schwere Verletzungen die Folge sind. Die weibliche Brust ist bevorzugtes Ziel der Attacke, mit fatalen Spätfolgen für das gequetschte Gewebe. Abwehr durch Steigen gilt zwar als ein spezifisches Verhaltensmuster bei Hengsten, doch ist 24 | mup 1|2022 Recht & Sicherheit: Kaun - Equo ne credite - Gefährliche Pferde? ! auch die mildere Form, das Schlagen mit einer oder beiden Vorderextremitäten nach vorne, durchaus gefährlich, weil ein Gefahrenpotential über eine große Distanz besteht. Die Rechtsprechung verknüpft den Umgang mit Hengsten und Pferden mit Hengstmanieren regelmäßig mit der Forderung nach einem verschärften Sicherheits- und Verwahrungsstandard. Das eben beschriebene Verhalten wurde von Pferdekennern in den Weiten Russslands schon früh als Waffe instrumentalisiert: Mit der Entwicklung und Verwendung der Trojka - also Anspannung von drei Pferden nebeneinander vor Schlitten (selten auch Wägen). Der in der Mitte unter der Duga gehende Traber war flankiert von zwei Galoppern, die jeweils, zum Außengalopp ausgebunden, angreifende Wölfe durch die Aktionen der Vorderextremitäten abwehren konnten. Die Abwehr durch Immobilisation des (vermeintlichen) Feindes ist eine ganz besonders „liebenswerte“ Eigenschaft von Kaltblutpferden: an die Wand drücken bei der Hufpflege oder an den Baum „wutzeln“, beim Versuch, auf der Weide aufzuhalftern, sind nur zwei beredte Beispiele dieses Verhaltens, das angesichts von 800 bis 1000 kg Lebendgewicht auch gestandenen Mannsbildern die Luft wegbleiben lässt. Im Umgang mit Pferden kann niemals Körperkraft eine gute Beobachtungsgabe, mentale und innere Stabilität sowie geistige Gewandtheit und rasche Reaktionsfähigkeit ersetzen. Vor allem aber ist es die „Pferdebildung“, die vorbeugende Sicherheit verleiht, denn Sicherheit beginnt im Kopf! Wie absurd und realitätsfremd Wunschvorstellungen über Pferde sein können, zeigt sich im Rahmen von Gerichtsverfahren, wenn Kläger, sekundiert von ihren Rechtsvertretern, zum Beispiel fordern: „Ein Therapiepferd muss, um als solches geeignet und ausgebildet zu sein, zu 100 % gegen Geräusche und Umweltreize resistent sein und darf nicht stolpern. Es muss über stoische Ruhe verfügen. Es muss zu 100 % unempfindlich gegen äußere Reize sein. Im Umkehrschluss ist abzuleiten, dass das verfahrensgegenständliche Pferd nicht verlässlich genug war.“ [zit.] Das Erstgericht hält in seiner Entscheidung dazu fest, „dass diese Sichtweise weder aus Sachverständigensicht nachvollziehbar sei noch der allgemeinen Lebenserfahrung entspräche, da Pferde ein Fluchttierverhalten aufweisen würden.“ [zit.] Sowohl das Erstgericht wie auch das Berufungsgericht hat die Klage abgewiesen. Auch das Thema „Verwahren eines Pferdes“ ist nicht über einen Leisten zu schlagen. Zu vielfältig sind die Möglichkeiten korrekter und mangelhafter Verwahrung. In einem einschlägigen Fall formuliert es das erkennende Erstgericht im Urteil so: „Es liegt somit im Ermessen der im Einzelfall befassten Personen, jene Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die ihnen erlauben, vorhersehbare Herausforderungen zu bewältigen.“ [zit.] Im Rahmen eines, von ihrem darin unerfahrenen Vater geführten Ausritts mit einem Pony auf einem Reitbetrieb, fiel, als sich das kleine Pferd der Kontrolle entzog, ein vierjähriges Kind seitlich aus dem Sattel, blieb im Bügelriemen hängen und wurde zu Tode geschleift. Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens waren drei Gerichtsgutachter beigezogen, die zu keinem brauchbaren Ergebnis über eine Unfallursache kamen, weshalb das Verfahren von der Staatsanwaltschaft eingestellt und der Vorfall als „schicksalhaft“ abgetan wurde. Ein vierter Sachverständiger, der vom Privatbeteiligtenvertreter beauftragt worden war, stellte im Zuge seiner Recherchen und Tathergangsanalysen fest, dass das verwendete Reitgebiss angeblich „verschwunden“ war, dass sich der Sattel auf nicht näher untersuchte Weise angeblich vom Pferd „gelöst“ hatte, dass keine Ausbindezügel in Verwendung gewesen waren, dass der Vater über keinerlei Pferdeerfahrung verfügt hatte und vom Reitbetrieb auch nicht im Führen des Ponys unterwiesen worden war. Trotz dieser gravierenden Mängel und Defizite wurde das bereits eingestellte Verfahren von der Staatsanwaltschaft nicht mehr aufgenommen. Recht & Sicherheit: Kaun - Equo ne credite - Gefährliche Pferde? ! mup 1|2022 | 25 Vergleichsweise ist die Zahl von Unfällen, welcher Dimension auch immer, im geregelten Pferde- und Turniersport, gemessen an der Fülle der Veranstaltungen, gering. Das üblicherweise als „Freizeit-Reiterei“ bezeichnete Segment weist die größte Unfallhäufigkeit auf - vor allem im täglichen Umgang mit Pferden, weniger bei aktiver Ausübung des Reitsports. Emotional stark behaftet sind in der Regel Unfälle, die sich im Rahmen von Hippotherapie und Heilpädagogischem Einsatz von Pferden ereignen, weil hier die hoch individuelle Beziehung zwischen PatientIn, TherapeutIn und Pferd ein psychisches Konstrukt besonderer Art darstellt. Aus seiner über 30 Jahren währenden Erfahrung als Gerichtsgutachter ableitend, wünscht sich der Verfasser in diesem Einsatzbereich von Pferden eine Reihe von Verbesserungen: ■ Persönliche Überprüfung der Auswahl prinzipiell geeigneter „Therapie-Pferde“ durch eine definierte Gruppe von hippologisch erfahrenen und unabhängigen Personen nach einem einheitlichen, nachvollziehbaren und anerkannten Schema (Aufnahmeprüfung). ■ Jährliche persönliche hippologische Supervision von „Therapie-Pferden“ im Rahmen eines therapeutischen Settings durch die oben angeführte Personengruppe (Voraussetzung für laufende Einsatzbewilligung) inklusive Kontrolle der Ausrüstungsgegenstände und Reitutensilien. ■ Führung eines täglichen und individuellen „Fahrtenbuches“ für jedes Therapiepferd mit laufenden aktuellen Eintragungen über durchgeführte Einzeltherapien sowie Korrektur- und Freizeitmaßnahmen für das Pferd, des Weiteren Berichte über besondere Vorkommnisse. ■ Nachweis laufender hippologischer Förderungs- und Ausbildungswege für TherapeutInnen, Pferde und Begleitpersonen (PferdeführerInnen, persönliche AssistentInnen). Der Autor Univ.Lektor Veterinärrat Mag. Dr. Reinhard Kaun Geb. 1945, Fachtierarzt für Pferdeheilkunde em., Fachtierarzt für Physikalische Therapie und Rehabilitationsmedizin em., Allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger, „Gründungsvater“ der Österreichischen Pferdesanitäter, Fire & Emergency VETs, Pferdesport-Tierärzte sowie Equine Risk Awareness Manager. Kontakt www.pferd.co.at · www.pferdesicherheit.at tierarztdr.kaun@pferd.co.at