mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Forum: Mobbingthematik in der pferdegestützten systemischen Psychotherapie - eine literarische Umsetzung in Form eines Jugendbuches
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Gabriela Proksch
Gerhard Proksch
Das Mädchen richtet sich mit erhobenem Kopf auf, die Beine fest am Boden stehend, und streckt ihre Hand nach vorn aus. Mit entschlossenem Blick und klaren Signalen stoppt sie ein Pony, das auf sie zukommt und verhindert somit, dass es in ihren persönlichen Kreis eintritt. Erleichterung, Stolz und auch ein wenig Verwunderung zeigt sich. Und bald darauf dreht das Mädchen ihren Körper entspannt zur Seite und senkt ihren Kopf. Sie lädt die gescheckte Stute ein sich anzunähern, freut sich über den Kontakt und berührt das warme Fell des Tieres. Gemeinsam gehen sie ihren Weg über den Reitplatz. Sie passieren verschiedene Hindernisse, steigen auf ein Podest, überwinden eine wacklige Wippe und bleiben schließlich miteinander stehen und kommen zur Ruhe.
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60 | mup 2|2022|60-68|© Ernst Reinhardt Verlag, DOI 10.2378 / mup2022.art11d Forum Mobbingthematik in der pferdegestützten systemischen Psychotherapie - eine literarische Umsetzung in Form eines Jugendbuches Ein Erfahrungsbericht Einleitung Das Mädchen richtet sich mit erhobenem Kopf auf, die Beine fest am Boden stehend, und streckt ihre Hand nach vorn aus. Mit entschlossenem Blick und klaren Signalen stoppt sie ein Pony, das auf sie zukommt und verhindert somit, dass es in ihren persönlichen Kreis eintritt. Erleichterung, Stolz und auch ein wenig Verwunderung zeigt sich. Und bald darauf dreht das Mädchen ihren Körper entspannt zur Seite und senkt ihren Kopf. Sie lädt die gescheckte Stute ein sich anzunähern, freut sich über den Kontakt und berührt das warme Fell des Tieres. Gemeinsam gehen sie ihren Weg über den Reitplatz. Sie passieren verschiedene Hindernisse, steigen auf ein Podest, überwinden eine wacklige Wippe und bleiben schließlich miteinander stehen und kommen zur Ruhe. Diese oder ähnliche Szenen beobachten wir immer wieder in einer gelungenen therapeutischen Begleitung von KlientInnen, die Mobbing erlebt haben. Was unter anderem hier geschieht, ist Teil einer Bewusstwerdung von Körpersprache und den Ausdrucksmöglichkeiten, die darin stecken. Paul Watzlawick prägte den Begriff der analogen Kommunikation (vgl. Watzlawick 1969), im Sinn einer eindeutigen und beziehungsdefinierenden Verständigung, im Gegensatz zur digitalen, verbalen Kommunikation. Die analoge Kommunikation verläuft nonverbal und stellt ca. 93 % der menschlichen Kommunikation dar und ist die wesentliche Kommunikationsform zwischen Mensch und Tier. Potenziell krankheitsfördernde, widersprüchliche Signale, sog. double bindings, die aus dem Widerspruch analoger und digitaler Kommunikationsmuster bestehen, sind in der rein analogen Kommunikation nicht möglich. Dadurch wird der Aufbau einer tragfähigen, konstanten und heilsamen Beziehung zum Therapietier erleichtert. Im Zuge der Begleitung von Mobbingerfahrenen wurde in unserem Therapiestall ein System aus Bodenarbeits- und Führübungen entwickelt, das als Werkzeug zur lösungsorientierten, systemischen Therapie benutzt werden kann. Die besondere Ausgangssituation der Offenstall- und Herdenhaltung bietet zudem die Möglichkeit, nicht ausschließlich ein triadisches Setting - also KlientIn, Pferd, TherapeutIn - zur Disposition zu stellen, sondern bei spezifischen Therapieschritten den erweiterten Kontext der gesamten Herde von fünf Pferden und Ponys als Rahmen zu gebrauchen. Hier steht die Pferdeherde als Abbild der sozialen Gruppe zur Verfügung und kann als Spiegelbild und Projektionsfläche erlebt, gesehen und interpretiert werden. Gabriela und Gerhard Proksch Forum: Proksch - Mobbingthematik in der pferdegestützten systemischen Psychotherapie mup 2|2022 | 61 Inspiriert durch den Erfolg, den unsere Arbeit aus der Kombination von Bodenarbeitsübungen und systemischer Therapie bei KlientInnen mit einer Mobbingproblematik zeigte, haben wir uns entschieden, diese Erfahrungen zusätzlich in Form eines Jugendbuches zu vermitteln. Die Erzählung war ein Versuch, das erforschte und erprobte Wissen für Betroffene möglichst niederschwellig zugänglich zu machen. Unsere Wahl fiel dabei auf die Form eines Abenteuerromans mit Fantasy-Elementen. Nala, die Protagonistin des Romans, erfährt Mobbing auf einem Reiterhof und steht stellvertretend für viele unserer KlientInnen mit einer Mobbingthematik. Das Mädchen entdeckt einen magischen Steinkreis, ein Portal, das sie zu einer Mustangherde und der Schamanin Blaue Feder führt, die ihr die Pferdesprache näherbringt. Durch die Entwicklung einer bewussten und klaren Körpersprache, dem Verständnis gruppendynamischer Prozesse und verschiedener Interventionen findet Nala Schritt für Schritt Lösungen für ihre problematische Ausgrenzungssituation in der Gruppe von Jugendlichen. Die Pferdearbeit wird in dem Roman sowohl detailliert beschrieben als auch durch Illustrationen dargestellt. LeserInnen können dadurch einen Prozess der Selbstermächtigung und -wirksamkeit nachvollziehen. Einige der Illustrationen und Zitate aus dem Buch „NALA - Der magische Steinkreis“ verwenden wir in diesem Erfahrungsbericht, um einen visuellen Eindruck der einzelnen Therapieschritte zu ermöglichen. Den Versuch, therapeutische Interventionen in eine literarische Form zu übersetzen, stellen wir hier gern auszugsweise zur Verfügung. Der Roman wird inzwischen von verschiedenen KollegInnen zur bibliotherapeutischen Unterstützung ihrer Arbeit genutzt. Der Aspekt, eine Schnittstelle zwischen therapeutischer und wissenschaftlicher Herangehensweise und der populären Vermittlung dieser Erkenntnisse zu schaffen, hat uns besonders wegen unserer vorwiegend jugendlichen Zielgruppe interessiert. Mit diesem Bericht möchten wir Erfahrungen und Gedanken teilen, die hinter unserer Herangehensweise stehen und somit einen Einblick in unsere Arbeit geben. Vorrangige Mobbingthematiken in unserer Praxis Die Mobbingthematiken, welche uns hauptsächlich begegnen, spielen sich im Umfeld von Pflichtschulen ab. Wenn wir hier von Mobbing sprechen, geht es im Allgemeinen um Formen mit direkten verletzenden Handlungen, sowohl physisch als auch durch Worte oder Gesten (vgl. Böhmer / Steffgen 2020, 4). Unsere KlientInnen sind also Opfer interpersoneller Gewalt, die ihnen oft über einen längeren Zeitraum zugefügt wurde, und daher entsprechend traumatisiert. Die Symptomatik reicht dabei von deutlich herabgesetztem Selbstwert über soziale Isolation bis hin zu psychischen Störungen wie Angststörungen, depressivem Erleben und psychosomatischen Beschwerden Abb. 1: Cover „NALA - Der magische Steinkreis“ (Alle Fotos: FNTSY Verlag; Design: Patricio Perez; Team Nala; Illustration: Claudia Martina Rauber) 62 | mup 2|2022 Forum: Proksch - Mobbingthematik in der pferdegestützten systemischen Psychotherapie (vgl. Böhmer / Steffgen 2020, 115 ff). Auf diese spezielle Zielgruppe sind die hier beschriebenen Übungen und Ansätze ausgelegt. Putzen und Pferdepflege „Das Pflegen und Versorgen des Pferdes erfordert ein verantwortungsbewusstes und zuverlässiges Verhalten, was sich wiederum im Sinne der Eigenverantwortung auf das eigene Leben der Personen übertragen lässt“ (Benninghofen / Liebeck 1997, 89 ff). Begrüßung In dem von uns entwickelten Prozess legen wir besonderen Wert auf die achtsame Begrüßung des Pferdes, noch bevor es berührt wird. Gemeinsam mit den KlientInnen finden wir eine individuelle Begrüßungsformel, wie etwa: „Ich sehe dich“, „Du bist ein wundervolles Pony“, „Ich freue mich schon darauf, mit dir zusammen zu sein.“ Dadurch wird bewusst gemacht und klargestellt, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, ein anderes Wesen zu berühren oder von ihm berührt zu werden bzw. etwas von ihm einzufordern. Dabei vermitteln wir die beiden Grundsäulen der Horsemanship-Arbeit: Respekt und Vertrauen. Putzen Beim Putzen des Ponys nützen KlientIn, Pferd und TherapeutIn das Setting, um eine Vertrauensbasis für die kommenden gemeinsamen Schritte zu bilden. Die Kontaktaufnahme über Berührung des Felles, das Spüren der Wärme des starken, lebendigen Pferdekörpers ist ein nonverbaler, basaler Vorgang und befriedigt die tiefe Sehnsucht nach Beziehung. Wir wissen, dass (intakte) Beziehungen für eine gesunde Entwicklung unumgänglich sind. Diese Mensch-Pferd-Beziehung erklärt sich durch das Prinzip der Du-Evidenz. Nach dem Lexikon der Tierschutzethik von Gotthard Teutsch: „Die Du-Evidenz bedeutet, dass einem Lebewesen ein zunächst beliebig anderes Lebewesen durch intensive Begegnung zum individuellen, unverwechselbaren Partner wird. Du-Evidenz ist sowohl gegenseitig als auch einseitig möglich und setzt keine rational verarbeitete Wahrnehmung des anderen voraus, sondern beruht auf Erleben und Emotion, also Möglichkeiten und Fähigkeiten, die schon beim Kleinkind und beim Säugetier gegeben sind. Auf der gleichen Basis der Emotionalität beruht das der Du-Evidenz notwendigerweise komplementäre Ich-Bewusstsein, das aus dem Erleben und Erfahren eines „Du“ notwendigerweise entsteht.“ (Teutsch 1987) Das Setting des Putzens ermöglicht Kontakt, Entspannung, Fürsorge und Selbstfürsorge. Oft ist diese Begegnung mit dem Pony der erste mögliche, direkte Körperkontakt im sicheren Rahmen für Mobbingbetroffene und bietet ein hohes Potenzial für Lösungsstrategien. Insbesondere nach traumatischen Erlebnissen fällt es den KlientInnen häufig leichter, ein Pferd zu berühren als einen andern Menschen. Das Pony setzt durch seine emotionalen Äußerungen wie Schnauben, Zu- und Abwenden des Kopfes, Bewegung der Ohren, Anspannung und Entspannung, Stampfen oder Scharren der Hufe, immer wieder Impulse, die Gelegenheit zu systemischen Interventionen geben. Voraussetzung ist, dass man das Verhalten des Tieres als Spiegelung für die KlientInnen betrachtet. „Gomolla und Kollegen (2011) befassten sich in ihrer Untersuchung mit den Reaktionen von Pferden auf die menschliche Körperspannung und -haltung. Hintergrund war hier die unter Reitern sowie Trainern, Coaches oder Psychotherapeuten, die mit Pferden arbeiten, bekannte Aussage, dass Pferde das menschliche Verhalten spiegeln. Da es sich bei Pferden um Fluchttiere handelt, wurde angenommen, dass sie besonders auf Anspannung und Entspannung reagieren. Dabei sollten die Pferde ebenfalls mit körperlicher Anspannung oder Entspannung reagieren und somit ihre menschliches Gegenüber spiegeln.“ (Schütz 2020, 73) Hier ein Einblick, wie wir das Thema in unserem Roman beschreiben. Nala beobachtet in dieser Szene die Medizinfrau Blaue Feder dabei, wie sie einen Mustang putzt: Forum: Proksch - Mobbingthematik in der pferdegestützten systemischen Psychotherapie mup 2|2022 | 63 „Neugierig beobachtet Nala, wie die Medizinfrau Tanzendes Feuer [eine der Mustangstuten, Anm. d. Verf.] berührte. Da Mondlicht [die Mustangstute, die Nala putzen soll, Anm. d. Verf.] direkt neben der Fuchsstute stand, ahmte das Mädchen die Bewegungen der Schamanin nach. Eine ihrer Hände blieb ruhig am Mustang liegen, während sie mit der anderen über den Körper des Tieres streifte. ‚So putzen und massieren wir unsere Pferde! Manchmal benutzen wir auch ein Stück Fell dafür. Eine Hand bleibt am Rücken liegen und gibt die Sicherheit, dass wir da sind‘, erklärte Blaue Feder. „Wozu sollten wir überhaupt einen Mustang putzen? Wildpferde brauchen das doch nicht? “, fragte Nala. ‚Gut mitgedacht! Nur, wenn wir reiten wollen, müssen die Stellen, die unter Decke, Sattel, Gurt oder Zaumzeug liegen, sauber sein, so dass nichts scheuert. Das Putzen und Massieren ist dazu da, um das Fell zu pflegen, wie es befreundete Tiere tun. Es geht darum, Freundschaft zu schließen! Wichtig ist, den Mustang am ganzen Körper anzufassen, damit wir keine Wunden oder schmerzhaften Stellen übersehen. Putzen dient also auch dem Schutz des Pferdes.‘ […] Die Schamanin strich immer weiter über das Fell der fuchsroten Stute. Sie berührte die Ohren, die Schultern, die Brust, das ganze Pferd bis zu den Beinen. Als sie bei einem der Hufe angekommen war, hob sie ihn hoch. Die Medizinfrau schaute sich die Unterseite genau an, pulte ein Steinchen, das neben dem Strahl steckte, heraus und stellte den Huf der Leitstute mit einem hörbaren Ausatmen wieder am Boden ab. Blaue Feder säuberte auch die anderen Hufe und sprach weiter: ‚Jede Bewegung, die ich mache, hat ihre alte, gewachsene Weisheit und ist gleichzeitig eine Vorbereitung auf das Reiten. Ich lasse niemals ein Bein einfach auf den Boden plumpsen. Ich atme aus, während ich es bewusst auf die Erde zurückstelle. Ausatmen ist ein Zeichen der Entspannung. Du hast das bereits beim Stehenbleiben nach dem Führen gelernt. Den Huf setze ich dorthin, wo ich will, und zwar so lange, bis das Tier begriffen hat, dass es ihn auf diesem Platz stehen lassen soll. Das Pferd vertraut dann, dass die Stelle am Boden, die ich gewählt habe, sicher ist. Ich möchte nämlich später, beim Reiten, vom Pferderücken aus jedes einzelne Bein bewegen können. Wenn wir in schwierigem Gelände, einer Brücke oder auf einem Abhang unterwegs sind, braucht der Mustang vielleicht meine Unterstützung, um den ungefährlichsten Weg zu wählen. Ich kann dem Pferd helfen, seine Beine so zu platzieren, dass es gut steht. Das Tier hört auf mich, vertraut mir, denn das hat es bereits beim Hufe Auskratzen gelernt. Wir verlassen uns aufeinander.‘ “ (Proksch / Proksch 2018, 148) Sich aufeinander verlassen zu können ist eine Fähigkeit, die nach traumatischen Erlebnissen erst wieder neu entwickelt werden muss. Wobei dies jedoch bedeutet, dass das Pferd als verlässlicher, klarer Spiegel betrachtet wird. Insofern ist sogar eine scheinbar negative Reaktion des Gegenübers wie Abwenden oder Verspannung als verlässlich, weil ehrlich, einzuordnen und kann im therapeutischen Prozess als Hinweis dienen. Hier können systemische Hilfsmittel wie zirkuläres Fragen, Reframings oder hypnotherapeutische Tranceinduktionen angewandt werden. Führen und Folgen Nähe Kinder und Jugendliche, die Opfer von Mobbing geworden sind, haben oft ein von Angst und Misstrauen geprägtes Beziehungskonzept und setzen voraus, dass sie chronisch zurückgewiesen und allein gelassen werden. Pferde, als hochspezialisierte Sozial- und Herdenwesen, suchen jedoch Kontakt und Nähe bei Personen, die ihnen Sicherheit bieten. Wenn also durch Übung und therapeutische Interventionen Klarheit und Selbstbewusstsein beim Führen eines Pferdes gewonnen werden, erleben die KlientInnen ein vertrauensvolles Miteinander. Aus dem Vertrauen, das ein so großes Tier den Kindern und Jugendlichen entgegenbringt, 64 | mup 2|2022 Forum: Proksch - Mobbingthematik in der pferdegestützten systemischen Psychotherapie resultiert oft eine Wiederherstellung des Selbstvertrauens. Das Erlebnis eines gelungenen „Führen und Folgen“ lässt sich im therapeutischen Kontext Schritt für Schritt erfahren. Wobei wir voraussetzen, dass hier kein rein pädagogisches Lernen und Üben stattfindet, sondern jeder „Fehler“ oder Misserfolg als Möglichkeit eines Heilungsprozesses begriffen und begleitet wird. In unserem Abenteuerroman zeigt Wolfsherz, der Lehrling der Medizinfrau Blaue Feder, Nala, wie man ein Pferd ohne Strick führen kann: „ ‚ Das würde die Leitstute tun …‘ Er richtete sich auf und kommentierte dabei seine Bewegungen. ‚ Die Itancan [Leitstute; diejenige, die führt in der Sprache der Lakota, Anm. d. Verf.] hebt ihren Kopf, denn sie hat etwas entdeckt. Sie macht sich bereit loszulaufen. Das erregt die Aufmerksamkeit aller anderen. Das ranghohe Tier bewegt vielleicht nur ein Ohr oder Bein. Die restliche Herde geht augenblicklich mit.‘ Er streckte den Arm, der gleich neben dem Hals des Mustangs war, nach vorne und zeigte so die Richtung, in die sich das Pferd bewegen sollte. Sofort trat Mondlicht einen Schritt vor. Einen winzigen Augenblick später ging Wolfsherz los und die Stute folgte ihm. In langgezogenen Bögen bewegte sich der Junge über die Lichtung. Der wunderhübsche Pinto lief aufmerksam neben ihm her. Nala schloss sich ihnen an. ‚ Sobald Mondlicht meine Bewegung aufgenommen hat, also mit einem Bein vorwärts tritt, gehe ich los. Das heißt, ich gebe einen Impuls, wie es die Leitstute machen würde. Ich hebe dazu den Arm, ein Pferd dreht vielleicht nur sein Ohr. Waunca [diejenige, die folgt in der Sprache der Lakota, Anm. d. Verf.] zeigt ihre Bereitschaft, mir zu folgen, indem sie den ersten Schritt macht. Das bedeutet in diesem Fall nicht, dass sie hinter mir geht, sondern neben mir. Sie erkennt mich damit als Leittier an und wir haben eine Partnerschaft geschlossen. Ich kann sie ab jetzt führen, bin aber auch für sie verantwortlich. Wir sind Itancan und Waunca.‘ ‚Warum hast du die Hand gleich wieder locker nach unten hängen lassen, nachdem du losgegangen bist? ‘, war Nalas erste Frage. ‚Wenn Mondlicht den Impuls aufgenommen hat, entspanne ich mich und senke meinen Arm. So weiß sie, dass sie mich verstanden hat. Sobald du später ganz mit ihr verbunden bist, brauchst du nicht einmal mehr deine Hand zu heben. Es genügt, die Schulter oder den Kopf kurz nach vorn zu bewegen.‘ ‚Aha, indem du den Druck wegnimmst und den Arm heruntergibst, zeigst du Mondlicht, dass sie richtig reagiert hat‘, sagte Nala. Wolfsherz nickte und sprach gleich weiter: ‚Falls sie zurückfällt, benehme ich mich wie ein Leithengst, schwinge meine zweite Hand nach hinten und mache dort ein wenig Druck. So treibe ich sie an. Sie spürt, dass ich, wie Wakanda [der Leithengst der Mustangherde, Anm. d. Verf.], auf sie aufpasse. Denn Zurückbleiben bedeutet Gefahr! ‘ ‚Genial! Du ahmst mit deiner Körpersprache zuerst die Leitstute nach, und wenn das nicht funktioniert, hast Abb. 2: Losgehen, aus: „NALA - Der magische Steinkreis“ Abb. 3: Antreiben, aus: „NALA - Der magische Steinkreis“ Forum: Proksch - Mobbingthematik in der pferdegestützten systemischen Psychotherapie mup 2|2022 | 65 du die Möglichkeit, sie von hinten anzutreiben wie ein Leithengst.‘ Zu dritt gingen sie über die Lichtung. Währenddessen erzählte Wolfsherz: ‚Jetzt will ich, dass wir gemeinsam stehenbleiben. Nach einer Flucht oder jeder Bewegung der Herde geschieht das so, dass die Itancan sich aufrichtet und kontrolliert, ob alles in Ordnung ist. Dann senkt sie den Kopf, um weiter zu grasen. Dabei atmet die Leitstute aus und entspannt sich. Manchmal prustet sie sogar leise. Die Gefahr ist vorbei oder die frische Weide erreicht.‘ Wolfsherz richtete sich kurz auf, atmete gut hörbar aus und stellte sich lässig auf einen Fuß. Das Knie des anderen Beins beugte er, genau wie Pferde oft dastehen, wenn sie es sich bequem machen. Den Kopf ließ er nach unten hängen.“ (Proksch / Proksch 2018, 62) Die Tatsache, dass der / die KlientIn, der / die das Pony führt, einen ersten Impuls (Fokussierung aufs Ziel, Vorstrecken der Hand) setzt und dann einen Moment abwartet, bis das Pferd sein Einverständnis gibt, indem es zum Beispiel ein Bein hebt und sich so vorwärts bewegt, hat sich als besonders wichtige Phase innerhalb der Klärung des Führprozesses herausgestellt. Hier finden wir Potenzial für Aufmerksamkeit auf die Resonanz des Gegenübers. Entweder lassen sich traumatisierte Kinder und Jugendliche von einer fehlenden Reaktion des Pferdes entmutigen, oder sie versuchen einfach loszugehen und ziehen das Pony am Strick hinter sich her. Indem diese winzige Zeitspanne zwischen Impulsgebung und Antwort genau untersucht, erlebt und bearbeitet wird, kann das Vertrauen in die Selbstwirksamkeit wiederhergestellt werden. Das daraus entstehende freiwillige Nachfolgen und Einverständnis des Ponys wird gewöhnlich als erlösend und befreiend empfunden. Distanz Das Selbstvertrauen, sowohl körperliche als auch emotionale Distanz zu wahren, wird durch das traumatische Erleben von Mobbing schwerst erschüttert. Das zweite Prinzip von Natural Horsemanship, „Respekt“, bietet hier einen Lösungsansatz. Mit dem Respekt dem Pferd gegenüber erleben die KlientInnen auch Achtung und Wertschätzung für ihren eigenen körperlichen Raum. Dazu nutzen wir eine Körperübung, die auch in unserem Buch folgendermaßen beschrieben wird: „‚Probier einmal etwas aus‘, forderte Blaue Feder sie auf. ‚Streck deine Arme zuerst vor, dann zur Seite und nach hinten.‘ Nala stand auf und tat, was die Schamanin verlangt hatte. ‚Siehst du, rund um dich entsteht ein Kreis. Das ist dein persönlicher Raum. Er reicht ungefähr so weit wie die ausgestreckten Arme. Hier darf niemand hinein, außer du lädst ihn dazu ein. Das gilt für alle! Für jedes Pferd und jeden Menschen. Diesen Kreis wirst du ab jetzt immer beschützen. So verschaffst du dir Respekt.‘ “ (Proksch / Proksch 2018, 98) Die physische Darstellung des persönlichen Raumes durch die Bewegung der Arme macht diesen sicht- und begreifbar und kann im Kontakt mit dem Pony oder fallweise der Therapeutin bzw. des Therapeuten erprobt werden. Die Bewusstheit des privaten Raumes Abb. 4: Stehenbleiben, aus: „NALA - Der magische Steinkreis“ Abb. 5: Persönlicher Raum, aus: „NALA - Der magische Steinkreis“ 66 | mup 2|2022 Forum: Proksch - Mobbingthematik in der pferdegestützten systemischen Psychotherapie und die Erlaubnis, ihn zu verteidigen, ist Voraussetzung für die nächsten Prozessschritte. Nala, die Protagonistin in unserem Roman, erfährt die „Übungsanleitung“ im folgenden Kapitel: „Plötzlich blieb der Medizinlehrling stehen und drehte sich um. Mondlicht, die hinter ihm lief, stoppte auch ihren Lauf. Der Junge schaute sie direkt an. Er war vollkommen konzentriert. Sein Blick richtete sich zwischen den Ohren des Pferdes durch und über ihren Rücken hinweg zum Wald. Wolfsherz streckte seinen sehnigen Körper und wirkte dadurch größer. Ohne den Pinto zu berühren, schob er mit den Armen Mondlicht durch kräftige, rhythmische Bewegungen zurück. Der Mustang trat ein paar Schritte nach hinten. Als Wolfsherz sich entspannte, blieb das Pferd stehen. Die beiden schauten sich an und bewegten sich für kurze Zeit nicht. Es war, als würde die Welt stillstehen! Um Mondlicht wieder zu sich herzuholen, machte ihr Medizinbruder eine anmutige Drehung wie bei einem Tanz. Er stand jetzt mit seinem Rücken zum Mustang und senkte den Kopf. Sofort näherte sich der Pinto vertrauensvoll. Wolfsherz drehte sich zu ihr, strich weich über den Hals und kraulte ihre Stirn. Alle Bewegungen waren harmonisch und fließend, fast zärtlich. ‚Sieht leicht aus‘, fand Blaue Feder. ‚Ist aber sicher schwer…‘, vermutete Nala. ‚Respekt…, das ist der Schlüssel‘, verkündete die Schamanin kryptisch und … ‚Komm, übe mit Tanzendem Feuer.‘ Sich Respekt verschaffen. Den eigenen Raum verteidigen. Jemand aus seinem persönlichen Kreis schicken … All das war im Leben Nalas bisher nicht vorgekommen. Sie konnte in der Schule nicht einmal die lästigen Plagegeister vertreiben, die ihre Sachen versteckten oder sie beim Vorübergehen verspotteten. Wie sollte sie ein mächtiges Pferd wie Tanzendes Feuer ohne Hilfsmittel, nur mit ihrer Körpersprache aus ihrem Kreis schicken? “ (Proksch / Proksch 2018, 99) Oftmals ist die gelungene Erfahrung des Schaffens von Distanz durch Fokussierung, klare Körpersprache und der inneren Erlaubnis dazu, ein Schlüsselerlebnis. Das Spiel zwischen Distanz und Nähe wird als heilsam erlebt. Traumatisch belastete Kinder und Jugendliche sind meist davon überzeugt, dass sie, sobald sie sich einmal „wehren“, also Distanz einfordern, sich ihnen niemand mehr annähern möchte. Das Pferd, das ein ständiges Ausloten von Positionen innerhalb der Herde gewohnt ist, nähert sich jedoch ohne Zögern, selbst wenn es einige Minuten zuvor noch weggeschickt wurde. Auch das Zulassen von Nähe kann in dieser Situation erforscht werden. Abb. 6: Herholen, aus: „NALA - Der magische Steinkreis“ Abb. 7: Wegschicken, aus: „NALA - Der magische Steinkreis“ Forum: Proksch - Mobbingthematik in der pferdegestützten systemischen Psychotherapie mup 2|2022 | 67 Die Herde als heilender Raum Das therapeutische Potenzial des kollektiven Feldes ist zurzeit eines der spannendsten Forschungsgebiete für uns. Die Pferdeherde ist eine Gemeinschaft, die sich durch spezielle Merkmale auszeichnet. Zwar gibt es eine klare, immer wieder verhandelte und verhandelbare Hierarchie, sie geht jedoch nicht auf Kosten der einzelnen Mitglieder im Sinn von Selbstaufgabe. Trotz dieser Ordnung bleibt jedes Pferd in seiner vollen Kraft und Kompetenz. Der Zusammenschluss dient der gemeinsamen Absicht von Sicherheit und Überleben, was nur in einer kollektiven Verbindung von starken, wachsamen und kompetenten Herdenmitgliedern gewährleistet ist. Das ist ein existenzielles Bedürfnis dieses Fluchttieres. Pferde bilden eine Gruppe, in der alle gebraucht werden und ihren Platz haben. Mobbingopfer lernen schmerzhaft, dass ein Kollektiv aus Abwertung, Grausamkeit und Unterordnung besteht und erleben, dass sie durch Gemeinschaft verlieren. Wenn jedoch jedes Mitglied einer Gruppe gesehen wird und seinen Raum einnimmt, kann sich das Potenzial des Kollektivs entwickeln. Wer achtsam in eine Herde geht, macht diese Erfahrung ganz unmittelbar. „‚Komm her! ‘, rief Blaue Feder das Mädchen in die Mitte. ‚Lass zu, dass du mit ihnen atmest und still wirst.‘ Nala stand zwischen den Mustangs und hörte auf den Atem der Pferde. Tatsächlich! Es klang, als ob sie einen gemeinsamen Rhythmus hätten! Und die Medizinfrau war Mittelpunkt der Herde, die Leitstute, Itancan, die mit ihrer inneren Sicherheit alle zur Ruhe brachte. Jetzt sah und verstand Nala noch deutlicher, wie ein Mensch das Leittier sein konnte. Die Pferde ließen sich von der Gelassenheit, die Blaue Feder ausstrahlte, anstecken. ‚Still und sanft werden‘, wies die Schamanin ihre Schülerin an. Sie wiederholte ihre Worte: ‚Teile die Stille mit den Mustangs. Sei einfach da. Dasein ist genug.‘ Mit jedem Atemzug gelang es Nala mehr und mehr, in sich zu ruhen. Sie wurde Teil der Herde. Die Frage, wer Pferd und wer Mensch war, verlor an Bedeutung. Ihr Atem wurde eins. Aus diesem Rhythmus bestand nun ihre Welt. Eine riesige, golden schillernde Kugel, einer Seifenblase ähnlich, hatte sich als schützender Raum über und um die Herde, den Baum und den Steinkreis gelegt. Ein Schutzraum aus Stille und Zusammengehörigkeit hatte sich gebildet.“ (Proksch / Proksch 2018, 148) Wahrnehmen der Herde von außen Für die Arbeit mit und im Kollektiv stehen spezifische Fragestellungen im Vordergrund der Begleitung der KlientInnen. Indem wir einladen, den Raum, den die Herde einnimmt, vorerst von außen wahrzunehmen, wird die Bewusstheit dafür geschärft, dass es bereits eine Gruppe, Klasse oder Gemeinschaft, oft mit einer gewachsenen internen Dynamik gibt, bevor die KlientInnen sich in dieses Kollektiv begeben. Die Beobachtung richtet sich auf die Außengrenzen und das Geschehen im Feld der Herde, die Stimmung, Bewegung und interne Gruppierungen. Dies lässt Raum für Interpretation und Projektion. Eintreten in das Feld der Pferde Aufgabe ist das achtsame Eintreten in die Herde. Dieser Prozess erlaubt weitere Fragestellungen wie z. B.: Was verändert sich, wenn ich von einer Position außerhalb in das Feld der Herde trete? Wie reagieren die Ponys auf mich? Laufen sie weg, oder schließen sie sich neugierig an? Wie empfinde ich das? Welches Pferd kommt auf mich zu? Wie fühlt sich diese Gemeinschaft an? Wie kann ich Teil des Kollektivs werden? Darf ich stören? Was trage ich bei? Sich im Herdenraum bewegen Für KlientInnen mit Mobbingerfahrung stellt die Aufgabe, einen stimmigen Ort in der Herde zu finden, zentrale Fragen: Wo ist mein Platz? Wo finde ich Ruhe? Neben wem fühle ich mich wohl? Wie viel 68 | mup 2|2022 Forum: Proksch - Mobbingthematik in der pferdegestützten systemischen Psychotherapie Raum und Distanz brauche ich? Wie kann ich meinen Standpunkt behaupten und verteidigen? Wann muss ich mich weiterbewegen? Die Interaktionen mit der Herde lösen einen sozialen Lernprozess aus, der von den KlientInnen ins Alltagsleben übertragen werden kann, dort neue Erfahrungsmöglichkeiten eröffnet und eine Neubewertung der alltäglichen Interaktion initiiert. Kommunikationsmuster werden in ihrer Klarheit entwickelt und geschult durch den Spiegel, den die Pferdeherde bietet. Abschlussbemerkungen Angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung von zunehmender Spaltung, Ausgrenzung und gegenseitiger Abwertung unterschiedlicher sozialpolitischer Gruppierungen erscheint es uns aktuell, diese Themen zu untersuchen und zu bearbeiten. Gerade die therapeutische Arbeit in der Herde mit ihren vielfältigen Möglichkeiten ist in letzter Zeit in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit gerückt. Das Aufgehoben-Sein in der Gemeinschaft stillt eine Sehnsucht und stärkt. Da wir unseren Arbeitsalltag großteils im Setting der Offenstallherde erleben, sind wir zunehmend fasziniert, welches Entwicklungspotenzial das achtsame Sein im Herdenverband bietet. Literatur ■ Benninghoven, D. & Liebeck, H. (1997): Ambulante kognitive Verhaltenstherapie der Essstörungen. In: G. Reich & M. Cierpka (Hrsg.): Psychotherapie der Essstörungen. Krankheitsmodelle und Therapiepraxis - störungsspezifisch und schulenübergreifend. Thieme, Stuttgart ■ Böhmer, M., & Steffgen, G.: Mobbing an Schulen: Maßnahmen zur Prävention, Intervention und Nachsorge. Springer, Wiesbaden ■ Proksch Ga. & Proksch Ge. (2018) NALA - Der magische Steinkreis. Nova MD, Vachendorf ■ Schütz, K (2020): Pferde, Forschung & Psychologie. Wissenschaftliche Befunde zu Fähigkeiten von Pferden und deren Wirkung auf Menschen. BoD, Norderstedt ■ Teutsch G. (1987): Lexikon der Tierschutzethik. Vanderhoeck & Ruprecht, Göttingen https: / / www.erna-graff-stiftung.de/ du-evidenz/ , 15.11.2021 ■ Watzlawick, P., Beavin, J. H., & Jackson, D. D. (1969): Menschliche Kommunikation: Formen, Störungen, Paradoxien. Huber, Bern Illustrationen von Claudia Martina Rauber Die Autoren Mag. Gerhard Proksch systemischer Psychotherapeut in eigener Praxis, Reittherapeut, Mediator, Coach Dr.in Gabriela Proksch Studium der Psychologie und Pädagogik, Reittherapeutin, Feldenkrais-Lehrerin, Autorin Kontakt Birkenwald 14 · 6200 Jenbach · gabrielaproksch@gmail.com
