mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mup2022.art03d
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Therapiereiten mit Sattel- und Handpferd
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Brigitte Steinmann
Brigitte Steinmann, einst erfolgreiche Springreiterin, hat sich vor über 30 Jahren dem heilpädagogischen Reitunterricht verschrieben. Damit werden nicht reiterliche Leistungen angestrebt. Im Vordergrund steht die individuelle Förderung von Menschen mit Behinderungen, Entwicklungsverzögerungen, Lernschwierigkeiten oder sonstigen Bedürfnissen, damit sie sich im Alltag besser zurechtfinden.
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mup 1|2022|13-15|© Ernst Reinhardt Verlag, DOI 10.2378 / mup2022.art03d | 13 Brigitte Steinmann Forum Therapiereiten mit Sattel- und Handpferd Ein Erfahrungsbericht aus der Praxis Brigitte Steinmann, einst erfolgreiche Springreiterin, hat sich vor über 30 Jahren dem heilpädagogischen Reitunterricht verschrieben. Damit werden nicht reiterliche Leistungen angestrebt. Im Vordergrund steht die individuelle Förderung von Menschen mit Behinderungen, Entwicklungsverzögerungen, Lernschwierigkeiten oder sonstigen Bedürfnissen, damit sie sich im Alltag besser zurechtfinden. Brigitte ist sozusagen auf dem Pferd geboren. Der Vater hatte einen Reitbetrieb, die Mutter einen kleinen Dorfgasthof. Schon als junges Mädchen im Alter von acht Jahren absolvierte Brigitte kleine Springprüfungen. Mit dem Älterwerden stiegen auch die Anforderungen: Im Junioren- Alter nahm sie mit der Schweizer Equipe vier Mal an Europameisterschaften teil, wo sie mit dem gleichen Pferd mit der Equipe Gold und Bronze gewann. Sie bestritt erfolgreich Springprüfungen bis zur S-Klasse. Als sich Brigitte (früher Binder- Nater) bereits im Alter von 25 Jahren vom Leistungssport verabschiedete, gehörten Pferde weiterhin zu ihrem Leben. Nach der erfolgreichen Absolvierung der Handelsschule und der Wirteschule schloss sie nach der Heirat auf einen Bauernhof auch noch die Bäuerinnenschule mit Fachausweis ab. Von 1989-1992 ließ sie sich bei Marianne Gäng zur diplomierten Reitpädagogin SV-HPR, heute SG-TR, ausbilden. 2001-2010 war Brigitte mit dem Qualitätslabel EMR (ErfahrungsMedizinisches Register Pferdegestützte Therapie Nr. 90) zertifiziert. Heute sind alle ihre drei Töchter, Diana, Helena und Bettina, diplomierte Reitpädagoginnen SG-TR Schweiz, zwei davon auch EMR zertifiziert. Auf dem Hof Boggsmatten in Knonau, Zürich, wird nicht mit Kleinpferden, sondern ausschließlich mit Warmblutpferden gearbeitet. Adel und Chic sind wichtig für die Behinderten, da sie durchaus Schönheit und Größe eines Pferdes wahrnehmen können. Die „Binder-Therapie“ wird mit Sattel- und Handpferd in Einzelstunden durchgeführt. Alle Pferde gehen im kleinen Sport mit Dressur- und Springprüfungen. Die Arbeit an der Doppellonge über Cavalletti und kleine Hindernisse bietet den Pferden viel Abwechslung, damit die Motivation für die Therapiestunden aufrechterhalten werden kann. Viel Weidegang und der Kontakt untereinander in der Herde tragen ebenfalls dazu bei. Alle vier bis sechs Wochen werden die Pferde auf Boggsmatten vom Hufschmied frisch beschlagen. Die Ausbildung der Warmblüter zum Sattelpferd und danach zum Handpferd ist weitaus zeit- und kostenintensiver als jene von Kleinpferden. Von der Therapeutin wird ein sehr großes Maß an reiterlichem Können, an Freude und Hingabe verlangt. Absolute Grundvoraussetzung sind indes profunde pädagogische Kenntnisse. Die Therapeutin ist gegenüber dem Pferd das Alpha-Tier. Sobald eine Lektion beginnt, ist absolute Konzentration von Therapeutin und Pferd gefordert. Die Therapeutin hat immer den Überblick über Pferd und Klientel. Sie muss alles im Auge haben und gar vorhersehen können. Daher ist die Ausbildung der Pferde von sehr großer Bedeutung. Momentan stehen acht ausgebildete Pferde im Stall. Die tägliche Auswahl der Pferde für die Lektionen verlangt von der Therapeutin großes Gespür. Nicht jedes Pferd kann für jede Klientel eingesetzt werden. Zudem muss die Tagesform von 14 | mup 1|2022 Forum: Steinmann - Therapiereiten mit Sattel- und Handpferd Reiter und Pferd beurteilt werden. Das Wetter wie Regen, Schnee, Wind usw. ist zu beachten. Hinzu kommt, dass ein Pferd nur für zwei bis drei Lektionen pro Tag eingeteilt werden kann, da Beanspruchung, Konzentration und Bereitwilligkeit beschränkt sind. Die Pferde für die Therapie auf Boggsmatten werden selber gezogen oder zugekauft. Wichtig ist, dass die ausgewählten Pferde aus einer seriösen Zucht kommen. Bis 4-jährig sind sie in der Regel zur Aufzucht auf der Weide. Dort beginnt, was später Früchte tragen soll: der Kontakt zu Artgenossen, die gegenseitige Akzeptanz, der Kontakt zum Menschen wie auch die Wahrnehmung der Umgebung und der Umwelteinflüsse usw. Kurz: Es braucht eine gute Kinderstube. Jedes Pferd wird zuerst als Sattelpferd ausgebildet. Dafür durchläuft es eine normale Ausbildung als Reit- und Sportpferd. Gleichzeitig wird es aber immer wieder an der Hand neben einem erfahrenen Pferd geführt. Zuerst wird auf dem Sandplatz geübt, bald aber geht es ins Gelände, da alle Therapie-Lektionen später im Freien (Gelände, Wald) stattfinden. Die Therapeutin auf dem Sattelpferd führt das zum Handpferd auszubildende Tier am Strick. Daneben oder dahinter reitet eine weitere Therapeutin mit einer Touchiergerte, um - wenn nötig - unterstützend einwirken zu können. Das Pferd muss nun lernen, sich auf das Sattelpferd zu konzentrieren. Mit der Stimme der Therapeutin und den Kommandos (Schritt, Trab, Galopp, Halt usw.) lernt es auch vom erfahrenen Sattelpferd, da dieses aufs Wort gehorchen muss (wie ein Blindenhund). Eine besondere Bedeutung wird bei der Ausbildung dem Berühren beigemessen. Das Pferd muss von der Klientel überall berührt werden können, muss unkontrollierte Bewegungen, Putzen, Streicheln, Stillstehen an der Treppe, Zerren am Sattel beim Aufsitzen und vieles mehr über sich ergehen lassen. Das Schwergewicht liegt beim Ausbilden jedoch auf Gehorsam, Aufmerksamkeit, Sensibilität und absolutem Vertrauen zur Therapeutin. Später, in den Therapie-Lektionen, muss das Sattelpferd einhändig und mit Gewicht- und Schenkeleinwirkung geritten werden können. An der anderen Hand wird das Handpferd mit der Klientel geführt. Zu den zentralen Ausbildungspunkten zählen auch die Stimme und die Kommandogebung. Das Pferd muss auf alle Worte und Kommandos gehorchen. Dazu trägt auch die Longenarbeit bei. Longiert wird mit Doppellonge von ca. 10 bis 12 m Länge. Hier wird der Gehorsam allein durch die Stimme geschult. Abb. 1: Gute Ausbildung und Verträglichkeit sind Voraussetzung für sicheres Handpferdereiten Abb. 2: Gut ausgebildete Handpferde hören auf Stimmkommandos Forum: Steinmann - Therapiereiten mit Sattel- und Handpferd mup 1|2022 | 15 Hat sich das Pferd als Sattelpferd bewährt, kann es nun zum Handpferd ausgebildet werden. Da es die Befehle bereits unter dem Reiter kennengelernt hat, muss es nun lernen, an der Hand der Therapeutin zu gehen. Der Wechsel vom Sattelpferd zum Handpferd verlangt von einem Pferd eine große Umstellung. Es muss lernen, nur am Strick geführt, auf die bereits unter dem Reiter gelernten Kommandos zu reagieren ohne Zügelführung, Schenkel- und Gewichtshilfen durch die Therapeutin. Das Handpferd muss in der Nebenspur und auf gleicher Höhe mit dem Sattelpferd gehen. Es gibt kein Ausweichen, Zurückbleiben oder Davonpreschen. Sollte es zu einer Verunsicherung oder Angstattacke kommen, muss es sich sofort an das Sattelpferd anlehnen können, das ihm die nötige Sicherheit gibt. Arme schwenken, Turnübungen, Singen, Schieflage, Klemmen und Klammern und vieles mehr dürfen das Pferd nicht beirren. Alle diese Übungen werden zunächst durch die Therapeutinnen durchgespielt. Die Therapeutin auf dem ausgebildeten Sattelpferd, welches nun zum Handpferd geschult wird, muss sich als Klientel mit möglichst vielen Handicaps und Varianten auf dem Pferd verhalten. Jetzt ist für das Pferd alles anders. Keine Zügel, keine Schenkel, keine Hilfen, die unterstützend wirken. Nur die Therapeutin mit ihrer beruhigenden, aber bestimmten Stimme und das erfahrene Sattelpferd geben ihm Sicherheit. Die Ausbildung eines jungen Pferdes zu einem Sattelpferd und daraufhin vom Sattelpferd zu einem Handpferd ist ein langer, langer Weg. Er dauert zwischen vier und sechs Jahre. Erst wenn dieser Weg gegangen und das erforderliche Vertrauen erarbeitet ist, kann mit der ersten Therapie-Lektion begonnen werden. Und jetzt können die Pferde auch je nach Situation als Sattel- oder als Handpferd eingesetzt werden. Es macht unheimlich Freude, wenn man miterleben kann, wie eine behinderte Person ängstlich aufs Pferd steigt und angefangen bei Schritttempo bis hin zum Galopp sich auf dem Pferd weiterentwickelt. Die strahlenden Gesichter der Kinder und Jugendlichen und der Dank der Eltern machen den Aufwand mehr als wett. Bei anfänglichen Berührungsängsten seitens der Klientel stehen auch andere Hoftiere wie Hunde, Katzen, Kühe und Hühner zur Angewöhnung an den Kontakt mit Tieren zur Verfügung. Fazit: Ohne grundsolide reiterliche und pädagogische Ausbildung der Therapeutinnen und ebenso gründlicher Ausbildung der Pferde zu Therapiepferden ist eine solche Reittherapie nicht durchführbar. In 30 Jahren Reittherapie auf Boggsmatten ist es zu keinem einzigen Unfall gekommen. Abb. 3: Strahlende Gesichter am Pferd Die Autorin Brigitte Steinmann Reittherapeutin SG-TR mit langjähriger Ausbildungs- und Unterrichtstätigkeit Kontakt hans-peter.steinmann@gmx.net
